Am 15. August vor zwei Jahren zogen die radikal-islamischen Taliban erneut in den Präsidentenpalast in Kabul ein. Die US-Streitkräfte und die von ihr geführte Kriegskoalition ihrer transatlantischen Vasallen flüchtete nach dem Fiasko ihres 20jährigen Afghanistan-Kriegs Hals über Kopf aus dem Land und evakuierten lediglich noch hastig das westliche Besatzungs- und Botschaftspersonal. Der vier US-Präsidentschaftsperioden (2001 – 2021) – G. W. Bush, B. Obama, D. Trump, J. Biden – überspannende Kriegsgang am Hindukusch hat ein völlig verwüstetes Land, einen „Failed State“, mehr als 240.000 tote AfghanInnen, 5,5 Millionen Flüchtlinge und eine desolate soziale, politische und weiter traumatisierende bürgerkriegsgeprägte Lage für die Bevölkerung, sowie Armut, Hunger und ein Desaster hinterlassen. Der längste Kriegseinsatz der US-Geschichte fand in einem von der „westlichen Wertegemeinschaft“ zurückgelassenen Trümmerhaufen sondergleichen sein Ende.
Der Politikwissenschaftler Werner Ruf schrieb in jenen Tagen einprägsam: „Die Bilder, die uns … aus Kabul erreichten, sind grotesk. Archaische Stammeskrieger patrouillieren auf den Straßen der afghanischen Hauptstadt, bärtig und barfuß, aber mit hochmodernen Sturmgewehren. Am Flughafen versuchen US-Soldaten, vollgestopft mit modernster Bewaffnung und Elektronik, so viel wie ein Mensch nur tragen kann, Tausende von Flüchtenden in Schach zu halten, um das herrschende Chaos halbwegs unter Kontrolle zu bringen: Die Supermacht, ihre Vasallen und Helfershelfer fliehen in Panik nach einem zwanzigjährigen Krieg, der mit allen erdenklichen Waffen bis kurz unter die Atomschwelle gegen ein Volk von Analphabeten erbarmungslos geführt worden war.“
Parallel mit der Verheerung Afghanistan verwandelten die USA, die NATO-Führungsmächte und ihre jeweiligen willfährigen Koalitionspartner (darunter auch die Ukraine) zugleich ab 2003 den Irak, 2011 Libyen oder in zweimaliger Intervention Somalia in ihren „Nation-Building“-Kriegen in „Failed States“ und entsandte Washington seine Streitkräfte seit 2001 zu Militäroperationen in ein Dutzend Länder (wie darüber hinaus etwa Syrien, Uganda, Liberia, Haiti und den Nahen Osten).
4 Jahrzehnte Krieg und von außen geschürter Bürgerkrieg
All dies scheint unter dem allgegenwärtigen „wertewestlichen“ Propagandagetrommel heute weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt. Noch stärker der eigentliche Beginn der US-Mission in Afghanistan vor über 40 Jahren. „Kaum einer mag sich erinnern“, rief der Historiker Stefan Bollinger nach der panikartigen Flucht der global überdehnten Militärmaschinerie Washingtons den Auftakt des US-Kreuzzugs gegen den Hindukusch nochmals in Erinnerung. „Im Februar 1980 posierte der US-amerikanische präsidiale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski am Chaiber-Pass mit einem Maschinengewehr, zielend auf Afghanistan, das gerade mit sowjetischer Hilfe seine Revolution zu verteidigen suchte. Im Gepäck hatte der US-Emissär die Fortsetzung und Vertiefung der schon vor dem sowjetischen Eingriff begonnenen finanziellen und logistischen Unterstützung der gegen die Kabuler Zentralregierung, ihre sozialen Reformanstrengungen und nunmehr auch sowjetische Verbündeten gerichtete Mudschahidin.“ Um die mit dem Sturz des verhassten Daud-Regimes in der Saur-Revolution am 27. April 1978 an die Macht gelangte linke, pro-sozialistische und pro-sowjetische DVPA-Regierung (Demokratischen Volkspartei Afghanistans) zu stürzen, wurden die radikal-islamistischen Mujaheddin und ihre als „Freiheitskämpfer“ verklärte djihadistische „Armee der Opferbereitschaft“ (Lashkar-i Isar) in einem wahren Dollar-Geldregen aufgepäppelt bzw. regelrecht aus der Taufe gehoben und in Militärlagern wie Spezialtrainings militärisch ausgebildet sowie mit einem gewaltigen Waffenarsenal und modernsten Waffen (etwa von der Schulter abfeuerbare Stinger-Raketen oder auch Unmengen von Antipersonen- und Splitterminen) versorgt. Neben dem Pentagon und Langley, sowie weiteren westlichen Hauptstädten assistierten nicht zuletzt auch der saudische Geheimdienst al-Istakhbara al-Ama und Pakistan nach Kräften.
Und zwar, wie Zbigniew Brzezinski 1998 in einem Interview offenherzig eingestand, bereits lange vor dem sowjetischen Militärengagement. „Ja. Nach der offiziellen Version der Geschichte hat die Hilfe der CIA an die Mudjaheddin angefangen im Laufe des Jahres 1980, d.h. nachdem die sowjetische Armee am 24. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert war. Aber die Realität, bis jetzt geheim gehalten, ist eine ganz andere. Es war tatsächlich der 3. Juli 1979, an dem Präsident Carter die erste Direktive über die geheime Unterstützung für die Opponenten des pro-sowjetischen Regimes in Kabul unterzeichnet hat.“ Daran anschließend fährt Brzezinski in besagtem Interview ebenso freimütig wie nicht minder aufschlussreich fort: „Und an diesem Tag habe ich dem Präsidenten eine Notiz geschrieben, in der ich ihm erklärte, dass meiner Ansicht nach diese Hilfe eine militärische Intervention der Sowjets zur Folge haben würde.“ Um sichtlich stolz zu resümieren: „Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben die Möglichkeit, dass sie es tun, wissentlich erhöht.“ Und damit den Konflikt bewusst internationalisiert und die Revolution in Afghanistan in das Spannungsfeld des Ost-West-Konflikts einbezogen.
Ebenso der ehemalige CIA-Direktor und US-Verteidigungsminister unter sowohl George W. Bush wie Barack Obama, Robert Gates, in seinen Memoiren. Afghanistan und der eingeschlagene sozialrevolutionäre Entwicklungsweg der Saur-Revolution, so der Doyen der US-Außenpolitik und ehem. Außenminister Henry Kissinger seinerzeit unmissverständlich, dürfe nicht Schule machen. Entsprechend startete die CIA 1979 die bis dahin größte Geheimoperation ihrer Geschichte. In dieser Gemengelage sammelte auch der noch blutjunge saudische Multimillionär und Geschäftsmann Osama bin Laden seine ersten Erfahrungen im Terrorgeschäft und erhielt seine Prägung. Zu den Mujaheddins um Hekmatyar (auf den der „kollektive Wertewesten“ bis 1988 vornehmlich setzte und welcher nach Angaben von ehemaligen Mitstreitern auch Kopfprämien für die Ermordung von Offizieren der Armee und FunktionärInnen der DVPA aussetzte) und anderen Gottes-Kriegern etablierten sich in den ländlichen Siedlungsgebieten der Pashtunen zwischen Kandahar und Arghanadab zudem bereits ab 1984 zusätzlich die Taliban.
Der historischen Vollständigkeit willen
Wobei – der historischen Vollständigkeit halber – die erste Operationswelle der CIA und US-Militärspezialisten bereits nach dem Sturz der Monarchie in Afghanistan 1973 in Angriff genommen wurde. Bereits seit 1974, also schon Jahre vor der Saur-Revolution, begann die US-Administration mit der Ausbildung afghanischer „Rebellen“ und dem Aufbau von Ausbildungslagern im Ausland für mehrere zehntausend Kämpfer und Subversanten gegen die gerade erst gegründete Republik.
Was wiederum das, auf Artikel 4 des afghanisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag von 1978 basierende, sowjetische Militärengagement betrifft, sei zumindest angemerkt, dass dieses in Moskau entgegen des tradierten „Expansionismus-“Narrativs auf äußersten Widerwillen der sowjetischen Führung unter Generalsekretär Leonid Breschnew und dem Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR Alexej N. Kossygin (ein vielmehr vehementer Gegner eines militärischen Eingreifens in Afghanistan) stieß – wie nach Öffnung der Moskauer Archive heute auch den offen liegenden Akten im Detail entnommen werden kann. Die afghanische Führung wandte sich denn auch zunächst unter Nur Mohammad Taraki sowie dann seinem Nachfolger Hafisullah Amin mit insgesamt 21 Hilfeersuchen an die sowjetische Regierung. Nach langem Zögern entsprach die Sowjetunion am 12. Dezember 1979 schließlich dem Ersuchen Kabuls. Oder wie Jeronim Petrovic, unter Einbezug des internationalen Kontextes, in der NZZ ausführte: Erst „am 12. Dezember 1979, am selben Tag, als die Nato die Stationierung amerikanischer Raketen in Europa beschloss [sog. NATO-Doppelbeschluss, Anm.], traf das Politbüro [der KPdSU] den folgenschweren Entscheid, eine Spezialeinheit nach Kabul zu entsenden.“ Der in Afghanistan geborene Marburger Politikwissenschaftler Martin Baraki hat in seinem jüngst erschienen Buch „Afghanistan – Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg“ dieses historische Kapitel auf der Grundlage teils erstmals übersetzter und im Dokumententeil seiner Arbeit zur Verfügung gestellter Originaldokumente gerade minutiöser rekapituliert. Entsprechend urteilt dazu auch der bekannte Politik-Professor Werner Ruf in seinem beigesteuerten Vorwort: „Ein Verdienst der Präsentation von Originaldokumenten ist die ausführliche Darstellung der Entscheidungsfindung in der Sowjetunion betreffend der (militärischen) Reaktion auf die Bitte der damaligen Kabuler Regierung um Unterstützung im innerafghanischen Bürgerkrieg: Der Widerstand der sowjetischen Regierung gegen eine solche Intervention war massiv und zäh bis schließlich wohl der sich verändernde internationale Kontext den Ausschlag für eine lang verweigerte Intervention gab.“
USA und Taliban: Eine enttäuschte Liebe
1992, die Sowjetunion war mit einem letzten Wispern Gorbatschows bereits von der Weltbühne abgetreten, kapitulierte schlussendlich das Regierungslager und die DVPA unter Abdul Rahim Hatef. Das Land, in dem sich nach Abzug der sowjetischen Truppen (1989) die einzelnen Gruppierungen der Mujaheddin, Clanführer und Warlords in häufig wechselnden Konstellationen nun gegeneinander bekriegten, versank im Chaos und blutigen Wirren. Vor diesem Hintergrund und einer Reihe geostrategischer und regionaler Interessen setzte Washington nun auf die Unterstützung und Ausrüstung der Taliban. Für die Weltöffentlichkeit in erster Linie von Pakistan mit unterstützender Duldung durch die USA und CIA orchestriert, die sich öffentlich etwas im Hintergrund hielten, um sich nicht offen durch die Untaten und Gräuel der dschihadistischen Taliban zu kompromittieren. Gleichwohl: es war genau dieser innige Flirt der US-Präsidenten R. Reagan, G. Bush sen. und B. Clinton mit den Gottes-Kriegern, die deren geschichtlichen Aufstieg voranging und ihn erst ermöglichte. In ihrer letztlich schlagkräftigen Form und als organisierte, ausgerüstete Kampfeinheit sind die Taliban denn auch das Produkt der USA und ihrer Verbündeten. Mit den Taliban, die 1996 die Macht in Kabul übernahmen bzw. von interessierten Kreisen an diese gehievt wurden und ihr mittelalterlich-islamistisches Regime errichteten, sollte es endlich gelingen, die völlige Kontrolle in ganz Afghanistan zu erreichen und etablieren, um die Bedingungen für die ökonomischen und politischen – aber auch ideologischen (Stichwort: Iran) und außenpolitischen – Interessen insbesondere der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens zu schaffen. Allerdings entwickelte sich die innige Beziehung der USA zu den Taliban schließlich bekanntermaßen zu einer enttäuschten Liebe. Aus den radikalsten Teilen der Gottes-Milizen bildet sich zudem Al-Quaida heraus. Wie in Goethes Zauberlehrling wurde und wird der US-Imperialismus die Geister die er rief, nun nicht mehr los.
Das Debakel und bluttriefende Fiasko des längsten US- und NATO-Kriegs
Nach dem Terroranschlag des 11. September 2001 sowie zu Kriegsbeginn 2001, machte angesichts der einstürzenden Zwillingstürme des World Trade Center und der Anschläge in Washington, selbst die Weltpresse noch darauf aufmerksam, dass der Anschlag ein gleichsam spektakulärer Nachklang der von den USA und der CIA ausgebildeten Gottes-Kriegern war. Als Reaktion bliesen die USA öffentlich zum Krieg gegen Afghanistan und das Taliban-Regime und trachteten im längsten Kriegseinsatz ihrer Geschichte auf einen „Regime Change“ zu ihnen genehmen Marionetten-Regierungen (deren Einfluss vom US-Parvenü Hamid Karzai bis zum korrupten, prowestlichen Kompradoren-Regime Aschraf Ghani’s freilich nie über die befestigte Sicherheitszone in Kabul hinausreichte). Dass der Afghanistan-Krieg seitens der USA in Wirklichkeit bereits Monate vor (!) Nine Eleven vorbereitet wurde und bereits beschlossen war, haben wir in unserem vorangegangenen Beitrag gezeigt. An dieser weiter ausgreifenden Stelle nachzutragen gilt es jedoch, dass der US-Feldzug gegen Afghanistan ursprünglich sogar schon eineinhalb Jahre (!) vor dem Anschlag auf die Twin Towers geplant war. Damals sprachen sich allerdings sowohl die Regierung Putin wie die usbekische Regierung – die den USA die militärische Infrastruktur zur Verfügung stellen sollten – noch gegen einen Kriegsgang Washingtons aus, weshalb die US-amerikanische Militäroffensive gegen den Hindukusch vorerst noch aufgeschoben wurde.
Am 7. Oktober 2001 starteten die USA, ihre NATO-Vasallen und Verbündete dann vor dem vorgeschobenen Kriegsgrund der Tragödie des 11. Septembers den längsten Kriegseinsatz der Geschichte des US-Imperialismus. Eine zudem, fast dem Vergessen anheimgegeben, völkerrechtswidrige Militärintervention. Denn trotz der globalen Anteilnahme hat Washington vom UN-Sicherheitsrat nie ein Mandat für eine militärische Intervention erhalten. Auch nicht durch Resolution 1368, weshalb sich die USA denn auch – zu Unrecht – auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta beriefen bzw. sich einfach unverhohlen zu einem globalen „Krieg gegen den Terror“ selbst mandatierten. Zehn-, ja Hundertausende AfghanInnen, allen voran Zivilisten, aber auch Abertausende Regierungssoldaten, westliche Soldaten, Aufständische und HelferInnen, fielen der rund 1 Billion Dollar verschlingenden Besatzung und dem 20jährigem Krieg in einem zigtausende Kilometer entfernten Land zum Opfer. Insgesamt kostete der über vier Jahrzehnten herrschende Krieg und von außen geschürte bzw. nach Kräften befeuerte Bürgerkriege zig Hundertausenden AfghanInnen das Leben – darunter in zahllosen von den westlichen Militärmächten verübten Kriegsverbrechen. Die Mehrheit der im Durchschnitt jungen Bevölkerung Afghanistans hat in ihrem Leben noch nie Frieden erlebt – oder bestenfalls als drakonische Friedhofsruhe in Enklaven. Die letzten drei Generation Afghanistans sind allesamt im Krieg geboren. Die Führungsmacht der EU, Deutschland betreffend, unvergessen bleiben indes die grenzdebilen Worte des damaligen sozialdemokratischen Verteidigungsministers Peter Struck des ersten Rot-Grünen-Kriegskabinetts Berlins (Schröder/Fischer) zur mit dem Afghanistan-Krieg einhergehenden Neuausrichtung der militärpolitischen Richtlinie Berlins: „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“. Und während die desaströse Bilanz schlimmer kaum sein könnte und der Westen in Afghanistan vor dem Trümmern seiner zerstörerischen Politik steht, verkündete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Anschluss an die rigorose Verwüstung des Landes und panischen Flucht der NATO-Streitkräfte unverdrossen: Die NATO hat die Ziele ihrer Intervention erreicht.