Während laut einer aktuellen Umfrage selbst 44% der Israelis der Meinung sind, dass Premier Netanjahu die Hauptschuld am Hamas-Angriff und -Massaker trägt und drei Viertel für seinen Rücktritt sind, gilt in Washington, Berlin und Wien die zur „Staatsraison“ erhobene Devise der bedingungs- und vorbehaltslosen Rückendeckung für die rechteste Regierung in der Geschichte Israels. Und dies nicht nur gegen die überwältigende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft (die für Tel Avivs UNO-Botschafter sonach „nicht einmal einen Hauch von Legitimität besitzt“) sowie diverseste gesellschaftliche Sektoren und politische Kräfte Israels, wie auch der Mehrheit der Angehörigen der entführten Geiseln, die einen „sofortigen Waffenstillstand“ fordern. Sondern ebenso gegen arrivierteste israelische Holocaust- und Genozidforscher wie etwa Raz Segal, der den gegenwärtigen brachialen Kriegsgang Israels und die „kollektive Bestrafung“ der PalästinenserInnen (UNO) einen „Lehrbuch-Fall des Völkermords“ nannte. All jenen gegenüber tönt es aus unseren Leitmedien hingegen: Alles außer einer vorbehaltslosen Unterstützung des Gemetzels sei Empathielosigkeit, moralische Verkommenheit und (mindestens „israelbezogener“) Antisemitismus. Basta. Auch wenn linke und jüdische Kritik am Staat Israel und dessen Politik nichts damit zu tun hat, dass – um es mit Alfredo Bauer zu sagen – nach dem Jahrtausendverbrechen des Nazi-Faschismus „für die Masse der entwurzelten Juden Europas ein Asyl [sprich: eine Heimstatt] gefunden werden musste“.
Aber während bei uns die vorbehaltslose Rückendeckung für die aggressive Palästina- & Siedlungspolitik und nunmehrige militärische Großoffensive der rassistischen, kolonialistischen, rechtsextremen Regierung nach dem mörderischen Großangriff der Hamas als Solidarität mit „den Juden“ erklärt wird, erodiert die Zustimmung im eigenen Land (und weiten Teilen der ‚Diaspora‘). Umfragen zeigen, dass sich das israelische Kriegskabinett in der Gunst der Israelis im freien Fall befindet. Die Likud-Partei von Premier Netanjahu würde bei Neuwahlen nach aktuellen Umfragewerten von ihren derzeit 32 Sitzen in der Knesseth auf nur noch 19 Sitze absacken. Die ultrarechten Parteien fielen von ihren aktuell 14 Sitzen auf nur mehr 4 oder 5.
Zum Komplex der sogenannten „feministischen Außenpolitik“
Dass Rosa Luxemburg, beiher polnische Jüdin, eine seinerzeit prominente politische Gegnerin des Zionismus und „Palästina-Ghetto(s)“ war, ist vielen geläufig. Schon weniger bekannt hingegen, obschon in anderen Zusammenhängen als Autorin ersten Ranges gerne herangezogen, sind die fundamentalen Kritiken Hannah Arendts, die dem Ahnherren des (westlichen) Zionismus, Theodor Herzl, den französischen Journalisten Bernard Lazare gegenüberstellte. Denn, um den diesbezüglichen Angelpunkt mit dem italienischen Philosophen und Historiker Domenico Losurdo auf den Punkt zu bringen: „Im Gegensatz zu Herzl versuchte Lazare die Emanzipation der Juden nicht durch ein paar koloniale Zugeständnisse zu fördern, die den damaligen Großmächten abzuringen sind; vielmehr bezieht er den Kampf der Juden und den der anderen unterdrückten Völker, den Kampf gegen den Antisemitismus und den gegen den kolonialen Rassismus in ein umfassendes antikolonialistisch und antiimperialistisch ausgerichtetes revolutionäres Vorhaben ein.“ Aber auch nach Gründung des Staates Israel auf politisch zionistischer Staatsdoktrin behielt Arendt ihre bissigen Kritiken und verbitterten Polemiken bei – unterscheidend zwischen einer nötigen Heimstätte der Juden und der jüdischen Emanzipation einerseits und dem politischen Zionismus, dem Zionismus als kolonialistisch-expansiver nationalistischer Ideologie und dem Staatszionismus Israels mit seinem ethnisch-exklusiven Charakter, Ausgrenzungsmechanismen, Gewaltpotential und militaristischen Charakter andererseits. (Dementsprechend kam es übrigens auch erst im unmittelbaren Vorfeld ihres 100. Geburtstag 2006 zu den ersten Veröffentlichungen ihres Werks auf Hebräisch, und setzte seinerzeit im israelischen TV noch eine Professorin diesen Schritt mit der Übersetzung von Hitlers „Mein Kampf“ gleich.)
In diese Tradition – konträr zur allseits kriegsschwangeren und gemeingefährlichen „feministischen Außenpolitik“ einer Annalena Baerbock – reiht sich heute auch das Who‘s Who der linken Ikoninnen des Feminismus – von Angela Davis bis Judith Butler – ein. Letztere etwa hat gerade zusammen mit Dutzenden weiteren jüdischen Intellektuellen im Einklang mit dem Gros der Weltgemeinschaft in einem offenen Brief gefordert: „Zuallererst ist ein sofortiger Waffenstillstand notwendig.“ Zur ihres Erachtens „genozidalen Gewalt Israels“ wiederum erklärt sie: „Die PalästinenserInnen werden dabei als nicht beklagenswert eingestuft. Das heißt, sie sind keine Gruppe von Menschen, deren Leben als wertvoll erachtet wird“ Ja, sie sind in der „Schablone“ der westlichen Medien „nicht nur weniger wert als Menschen – das ist sicher –, sondern eine Bedrohung“. Einen Schritt weiter ging jüngst die bekannte israelische Historikerin und Journalistin Amira Hass, Tochter der beiden Holocaust überlebenden Hannah Lévy-Hass und Abraham Hass, die sich in einem offenen Brief an Deutschlands Kanzler Scholz mit den Worten wandte: „Ihre Aufgabe ist es, den Zerstörungsfeldzug zu stoppen.“
„Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend“ (Yoav Gallant)
Der bekannte deutsche Völkerrechtler Norman Paech hat für seine – mit der gemeinsamen völkerrechtlichen Verurteilung der israelischen Kriegsoffensive durch 800 US-RechtswissenschaftlerInnen konform gehenden – Stellungnahme zur Zurückbombung des Gazastreifens „in die Steinzeit“ (so, der das jetzige Kriegskabinett erweiternde, Benny Gantz im Wahlkampf 2019) auch wesentliche Aussagen und Erklärungen (ob des rechtlich subjektiven Tatbestands) zusammengenommen. Ob jene Präsident Jitzchak Herzogs der am 14. Oktober auf einer Pressekonferenz erklärte: „Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist. Diese Rhetorik über Zivilisten, die angeblich nicht involviert wären, ist absolut unwahr“, oder die Ankündigung Premier Netanjahus vom 8. Oktober: „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen“, oder die Erklärung des Sprechers der israelischen Armee Daniel Hagari am 10. Oktober: „Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Focus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“ und die Erklärung von Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober: „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere (Tiermenschen) und handeln entsprechend.“ Oder der Generalmajor der israelischen Armee Ghassan Allan bei einer Ansprache am 9. Oktober: „Menschliche Tiere (Tiermenschen) werden entsprechend behandelt, ihr wolltet die Hölle und ihr kriegt die Hölle“ bzw. die Ansprache des Veteranen der israelischen Armee Ezra Yachin am 13. Oktober an Reservisten: „Löscht ihre Familien aus, ihre Mütter und Kinder. Diese Tiere dürfen nicht länger leben“. Schließlich die Abgeordnete der Regierungspartei Tally Gotliv am 9. Oktober in der Knesseth: „Jericho-Rakete! Weltuntergangswaffe. Das ist meine Meinung. Mächtige Raketen sollen ohne Grenzen abgefeuert, Gaza zerschlagen und dem Erdboden gleichgemacht werden. Ohne Gnade.“ Bis zur jüngsten – Paech noch nicht bekannten – Atomschlagsaussage des rechtsextremen israelischen Kulturerbeministers Amichai Elijahu, der in einem Interview mit dem Radiosender Kol Barama gerade den Abwurf einer Atombombe auf den Gazastreifen als eine „mögliche Option“ bezeichnete. Eine atomare Pulverisierung und Einäscherung des Gaza war dann, zumal angesichts des wachsenden internationalen Drucks, selbst für Premier Netanjahu keine ministrable Erklärung.
Vor diesem Hintergrund wird denn auch zu Recht quer über den Globus, nicht zuletzt unter Jüdinnen und Juden, die Forderung „Ceasefire Now!“ (sofortiger Waffenstillstand) immer lauter und vehementer. Nicht zuletzt auch gegen die Nonchalance eines drohenden Flächenbrands im Nahen Osten.
Update: Zwischenzeitlich haben in einer seltenen gemeinsamen Erklärung ebenso die Leiter der großen UN-Organisationen wie des Kinderhilfswerks UNICEF, des Welternährungsprgramms der Vereinten Nationen (WFP) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie das Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) und das Nothilfebüro (OCHA) u.a. nachdrücklich eine „sofortige humanitäre Waffenruhe“ gefordert. „Genug ist genug. Das muss jetzt aufhören“, so die Vertreter der Vereinten Nationen.