Die UNO, die FAO, internationale Hilfsorganisationen und das UN-Welternährungsprogramm WFP schlagen seit zwei Jahren vergeblich Alarm vor einer anrollenden Welthungerkrise. Während die UN-Generalversammlung 2015 noch als Ziel formuliert hatte, bis zum Jahr 2030 den Hunger auszurotten, wächst dieser seit 2017 wieder stetig und seit Ausbruch der Corona- und Wirtschaftskrise 2020 gar rasant an – und explodierte von 690 Millionen 2019 auf aktuell 828 Millionen. Das sich auf Pressekonferenzen vorübergehend in zynisch instrumentalisierter humanitärer Pose wie SprecherInnen von „Brot für die Welt“ gerierende politische Personal des kollektiven Westens ist indes zwischenzeitlich ebenso verstummt, wie die westliche Presse ihr kurzzeitig geheucheltes Interesse am Welthunger-Tsunami wieder verloren hat.
In der dahinter stehenden Dramatik nachvollziehbarer ausgedrückt: Schon aktuell stirbt in den Krisenregionen alle 48 Sekunden ein Mensch an den Folgen von Hunger und die Zahl der von Unterernährung und akuter Hungersnot Betroffenen nimmt rapide und in Krisenhotspots nochmals multipliziert zu.
Entsprechend der humanitären Dramatik ergingen seit März 2020 – also lange vor Zuspitzung und Eskalation der Ukraine-Krise – auch ein knappes Dutzend großer Warnaufrufe, denen allerdings bis zum zynischen Kriegs-Narrativ eines angeblich russischen „Hunger-Kriegs“ gegen die Welt keinerlei Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und der Geberländer geschenkt wurde. Moskau, so der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bekanntlich, habe die „Hungerkrise“ vielmehr erst „angezettelt“. Ins selbe Horn krakeelten US-Außenminister Antony Blinken und seine deutsche Marionette Annalena Baerbock: Russland, so Letztere, habe„sich entschieden, den Krieg gegen die Ukraine als Kornkrieg gegen viele Staaten der Welt insbesondere in Afrika auszuweiten“, der dramatische Welthunger sei „ein ganz bewusst gewähltes Instrument in einem hybriden Krieg“ des Kremls, der „als Kriegswaffe“ „ganz bewusst“ „die ganze Welt als Geisel nimmt“, ja, so Blinken in dieselbe Kerbe schlagend, das säkularisierte Böse in Gestalt des Iwans ließe „zielgerichtet Lebensmittelpreise explodieren (…), um ganze Länder zu destabilisieren“. In der medialen und politischen Öffentlichkeit half gegen diesen Popanz noch nicht einmal der schlichte Hinweis des UN-Welternährungsprogramm, das gegen diese erbauliche Erzählung des kollektiven Westens hervorstrich: „Die Welt steckte schon vor dem Krieg in der Ukraine in einer globalen Ernährungskrise“, während die Antworten und Hungerhilfe „seit Jahren unzureichend“ sind.
Dass das im kriegspropagandistischen Dauerfeuer ratternde und niederprasselnde Narrativ, Russland hätte – ja könne alleine überhaupt auch nur – eine globale Nahrungsmittelkrise auslösen, ist ein dermaßen grotesker Humbug und Gipfel imperialistischen und neokolonialistischen Zynismus, dass sogar manch Staaten, Regionen und Kontinent geschlossen auf den Tisch hauten, wie es von Washington, Brüssel und Berlin wohl nicht einkalkuliert war. Während die geradezu manisch russophobe (und übrigens auch nicht minder sinophobe) Schreibtisch-Feldwebelin Annalena Baerbock auf Pressekonferenzen der Welt ihr krudes Weltbildchen, „Russland [habe] sich entschieden, den Krieg gegen die Ukraine als Kornkrieg … insbesondere in Afrika auszuweiten“, zum Besten gab und selbst Richtung Afrika versuchte das Narrativ des Westens durchzusetzen, entgegnete ihr die Afrikanische Union, dies gänzlich anders zu sehen. Statt mit der verheerenden Hungerkrise des afrikanischen Kontinents ihr Spiel zu treiben, solle die EU vielmehr ihre tödlichen Sanktionen aufheben oder allermindestens so anpassen, dass der dringend benötigte, feststeckende Weizen ausgeschifft werden kann. Was die EU auf Druck der UNO, der Afrikanischen Union und afrikanischer Staaten dann heimlich, still und leise nach quälenden Monaten für Millionen Hungernde mit einer Modifizierung ihrer Sanktionsbestimmungen auch tat.
So überschwänglich die von den westlichen Bellizisten vorübergehend zur Schau gestellte humanitäre Besorgnis vorgetragen wurden, so schweigsam-kühl fiel dann die Reaktionen auf das nicht zuletzt von UN-Generalsekretär Guterres in unermüdlichen Verhandlungen zum Erfolg gebrachte Getreideabkommen aus, mit dem die Handelsblockade gelöst und der in der Ukraine feststeckende Weizen losgeeist werden konnte. Denn über den Verlust eines zwar hanebüchenen, aber emotionalisierenden Narrativ braust der Welthunger-Tsunami – vom UN-Welternährungsprogramm als das „größte lösbare Problem der Welt“ bezeichnet – dennoch alles andere als ausgeräumt mit seinem tödlichen Odem über den Globus, lediglich (da nicht weiter kriegspropagandistisch ausschlachtbar) wieder aus dem medialen Interesse verschwunden. Was allerdings unausweichlich, wenn auch nach Kräften gegenüber dem öffentlichen und politischen Diskurs abgemauert, die Frage nach den tieferen Ursachen aufwirft. „Denkt man an die Ideologien, mit denen die Marktwirtschaft stets legitimiert wird, müsste man angesichts der anhaltend katastrophalen Hungerstatistiken zumindest irritiert sein: Marktwirtschaft soll ja nach Aussage ihrer Befürworter die ‚effektivste und innovativste Versorgung‘ zustandebringen, die die Menschheitsgeschichte je gekannt hat. … Warum ändert sich an der miserablen Situation großer Teile der Bevölkerung in [den] Ländern [der 85% der Weltbevölkerung dann] so wenig?“ – hakt Renate Dillmann in einem ausführlicheren Beitrag mit dem treffenden Titel „Regelbasiert hungern“ nach.
Während UN-Generalsekretär Guterres angesichts der mittlerweile auf 828 Millionen gestiegenen Zahl an Hungernden als löbliche Ausnahme unvermindert vor einer beispiellosen Welthungerkrise warnt, haben Biden, Scholz, Macron, Blinken, Baerbock, von der Leyen und Konsorten ihr vorübergehendes Praktikum bei „Brot für die Welt“ wieder eingemottet. Dabei wäre, wie der Ökonom und langjährige wirtschaftliche Berater mehrerer afrikanischen Regierungen Jörg Goldberg jüngst schrieb, „der Kampf gegen den Hunger in der Welt … leicht zu gewinnen, würde die ‚internationale Gemeinschaft‘ richtige Prioritäten setzen. Das International Institute for Sustainable Development (IISD) legte 2020 eine Studie vor, in der es berechnete, ‚was es die Regierungen (kostet), bis zum Jahr 2030 den Hunger zu beenden, die Einkommen der Kleinerzeuger zu verdoppeln und das Klima zu schützen.‘ Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die entwicklungspolitischen Geber im Agrarbereich in der laufenden Dekade zusätzlich 12 Milliarden US-Dollar jährlich aufbringen müssten, um 490 Millionen Menschen vom Hunger zu befreien und die Einkommen von 545 Millionen Kleinerzeugern zu verdoppeln. Weitere 19 Milliarden jährlich müssten von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen über Steuern erbracht werden. Zusammengerechnet wären also im laufenden Jahrzehnt rund 300 Milliarden US-Dollar zusätzlich erforderlich – eine gemessen an den mehr als 20 Billionen, die im gleichen Zeitraum weltweit für Rüstung ausgegeben werden, geradezu lächerliche Summe.“ Ähnlich quantifizierte die „Welthungerhilfe“ zur Ernährungssicherheit gerade den Bedarf von für den selbsternannten „Lenkungsausschuss der Weltwirtschaft und Weltpolitik“ maue zusätzliche 14 Mrd. US-Dollar seitens der G7 jährlich. Weit davon entfernt brüstete sich der heurige G7-Gipfel demgegenüber mit der Bereitstellung lächerlicher 4,5 Milliarden Dollar für die weltweite Ernährungssicherheit. Davon etwa die Hälfte aus den USA.
Darüber hinaus, aber das wäre eine gesonderte Thematik, warnen Hilfsorganisationen, dass beispielsweise die derzeit herrschende Hungersnot in Afghanistan, zumal aufgrund der von den USA, Großbritannien oder Deutschland eingefrorenen Zentralbankgelder Kabuls, mehr Menschen das Leben kosten könnte, als die vergangenen zwei Jahrzehnte NATO-Krieg zusammen. Selbst konsequenteste Gegnerinnen des Taliban-Regimes wie Sevim Dagdelen fordern diesbezüglich daher, dass diese Gelder vom Westen „umgehend freigegeben“ werden müssen, „statt den Hunger weiter als Waffe einzusetzen – im fatalen Irrglaube, damit die Taliban zu treffen.“ Nicht unähnliches ließe sich zum seit über sieben Jahren mit US- und NATO-Unterstützung geführten Jemen-Krieg sagen, dem von vielen sogenannten „vergessenen Krieg“ und der laut UNO größten gegenwärtigen humanitären Katastrophe, in dessen Wirren seit Jahren sogar noch mehr Menschen an Hunger als an den steten Gemetzel sterben.
Freilich, all das wäre erstmals „nur“ ein Mindestausgleich gegen den anrollenden Hunger-Tsunami. Aber doch das Mindeste gegen den grassierenden Zynismus des Westens und dessen notorische Selbstgefälligkeit sowie die Ernährungssicherheit für Millionen. Aber selbst die dafür nötigen Brosamen bringt der selbstmandadierte, zivile „Lenkungsausschuss“ der „westlichen Wertegemeinschaft“ namens G7 nicht auf, während allein dessen Rüstungs- und Kriegsetats beim 250fachen (!) liegen, das neue Wettrüsten noch gar nicht eingepreist.
Um diesem schreienden Gipfelpunkt des westlichen Zynismus und seines „regelbasierten Welthungers“ öffentlich etwas zu kaschieren, hat die EU aufgrund der unnachgiebigen Forderungen des UN-Welternährungsprogramms nach einer „gerechteren Verteilung der Nahrungsmittel“ und „mehr Unterstützung“ angesichts der Hungerkatastrophe, gerade eine Ausweitung der Getreideproduktion angekündigt. In der Tat dient der überwiegende Teil des Getreideanbaus in der EU als Viehfutter und sind nur mehr bloße 23% der Getreideproduktionsmenge zu Nahrungszwecken vorgesehen. Die akute Welthungerkrise liegt allerdings nicht in einem „Mangel an Nahrungsmittel“ – Nahrungsmittel gäbe es ausreichend und auch Weizen ist global nicht eigentlich knapp –, gar an einem „Mangel zusätzlicher europäischer Agrarprofite“, sondern liegt in einem „Mangel an Bezahlbarkeit“ für das Gros der nahrungsmittelimportierenden Weltregionen. An der mörderischen spekulationsgetriebenen Preisexplosion der Nahrungsmittel und dem zynischen Wetten auf Lebensmittel auf den Agrarbörsen ändert die EU-Ankündigung grundsätzlich kein Jota (auch wenn steigene Angebote gegebenenfalls die Preisspitzen auf den Weizenterminmärkten etwas zu dämpfen vermögen). Dazu kommt verschärfend, worauf auch gerade Miriam Frauenlob den Finger gelegt hat, noch hinzu: „Immer noch erschweren die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) etwa strategische Lagerhaltung, damit Staaten kurzfristige Preisschwankungen ausgleichen können. Sogar das Welternährungsprogramm ist auf kurzfristige Verträge zu aktuellen Marktpreisen angewiesen“ – ganz abgesehen vom Irrsinn Ganz abgesehen vom Irrsinn „die Preisbildung für lebensnotwendige Güter einzig den Märkten zu überlassen.“ Aber die dringend nötige Unterstützung – für die „kollektive westliche Wertegemeinschaft“ eigentlich nur Peanuts –, unumgängliche Schuldenerlässe oder mindestens Schuldenaudits und ein wirksames Einschreiten gegen die Spekulations- und Finanzgeschäfte mit Nahrungsmittel (wie im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2008 und Lebensmittelpreiskrise 2007-2008 sowie erneuten Spekulationswelle auf Lebensmittel 2011/12 großspurig angekündigt) – gar nicht zu reden davon, die Preisbildung für die zumindest überlebensnotwendigen Grundnahrungsmittel dem Marktmechanismus zu entwinden – stehen freilich nicht auf der Agenda der „humanitären Besorgnis“ gegen den „regelbasierten Hunger-Tsunami“.