Während etwa die fürchterliche Hungersnot in Irland 1846 – 1848, in der der von Großbritannien rassistisch unterdrückte Inselstaat (gegen dessen Rebellen London abseits der damals aufgetretenen neuen Kartoffelfäule eine Politik des Hungertodes betrieb) 2,5 Millionen seiner 8 bis 9 Millionen Einwohner verlor – die Hälfte davon durch Hungertod, die andere durch Auswanderung –, das notorisch gute Gewissen und die unerträgliche Selbstgerechtigkeit des westlichen Metropolenkapitalismus nicht die Spur eines Hauchs tangiert, schwingt man in Berlin heute demgegenüber den „Hungergenozid“- oder „Holodomor“-Knüppel. Ein aus dem Milieu der Hitleristen in den USA und dem Milieu der ukrainischen NS-Kollaborateure stammender Mythos über die sowjetische Hungertragödie 1932/33, für dessen politisch motivierten Kriegseinsatz als zusätzlichen antisowjetischen wie zugleich russophoben Todschläger man anscheinend keinen Waffenschein braucht. Denn im Unterschied zu den oliv-grünen und sozialdemokratischen Geschichtsrevisionisten im deutschen Bundestag, die die seinerzeitige Hungersnot in der Sowjetunion zu einem von der sowjetischen Führung intendierten Völkermord an der Ukraine umlügen und erklären wollen, widersprechen dem sowohl die historischen Tatsachen wie auch die seriöse Geschichtswissenschaft.
Update: Dennoch hat der deutsche Bundestag – wider besserem Wissen des seriösen Forschungsstandes der internationalen Historikerzunft und Fachhistoriker, die den Mythos eines intendierten „Hungergenozids“ („Holodomor“), von einer meist weit rechts stehenden Minderheit abgesehen, ablehnen und der eigenen Einschätzung des Petitionsausschusses aus dem heurigen Frühjahr 2022, dass eine solche Einordnung als „Völkermord“ (mindestens) viel zu strittig ist um vom Bundestag verabschiedet zu werden (siehe unten) -, die Hungerkatastrophe in mehreren Teilrepubliken der UdSSR nun mit den Stimmen der SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU per parlamentarischen Mehrheitsbeschluss als gegen das ukrainische Volk gerichteten Genozid eingestuft und zum „Holdomor“ erhoben. Auch der ORF hält es für angebracht, daher jetzt wie selbstverständlich von einem „gezielt herbeigeführten Völkermord“ zu schreiben und die NEOS forderten gleich überhaupt, es auch im österreichischen Parlament dem deutschen Bundestag gleich zu tun und mit der internationalen Geschichtswissenschaft nicht viel Federlesen zu machen, sondern die geschichtliche Hungertragödie einfach zum „Hungergenozid“ zu erklären. Angesichts dieses ebenso mehrheitlich wissentlich wahrheitswidrigen, wie schäbigen und politisch durchsichtigen Unterfangens, fügen auch wir unserem Beitrag zur dieser Chuzpe stellenweise noch einige ergänzende Anmerkungen hinzu.
Nun ist hier [nach wie vor] nicht der Ort, die Ursachen der verheerenden Hungersnot Anfang der 1930er Jahre oder gesamte Geschichte der schwarzen Legende vom „Hungergenozid“ in extenso zu behandeln. Zumal Gewichtungen der Faktoren – insbesondere bis zu welchen Grad zu den hauptverantwortlichen Umweltfaktoren (Dürre, Überflutungen, Getreidebrand, Schädlingsbefall, …) auch politische Entwicklungen (die Kollektivierung der Landwirtschaft, Ablieferungsquoten, …), sowie der historische Kontext (Weltwirtschaftskrise, Finanzierung ausländischer Kredite, Besetzung der Mandschurei durch die japanische Armee und deren Stellungsbeziehung entlang der sowjetischen Grenze 1931, Aufstieg und Machtübertragung an Hitler im Jänner 1933, …) zu einer Verschärfung beitrugen –, auch in der seriösen Geschichtsforschung im Einzelnen kontrovers diskutiert werden. Ebenso wenig Gegenstand sind freilich nicht minder verheerende und weitaus „menschengemachere“ Hungerkatastrophen und Vergleichsfälle des „Westens“, wie etwa die Hungerkatastrophe in Bengalen 1943/44, die rund 3 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, ganz zu schweigen von jener im kolonialen Indien wenige Jahrzehnte davor, in der zwischen 20 bis 30 Millionen Inder und Inderinnen ihr Leben verloren – um nur via Schlaglichter bei Großbritannien zu bleiben. Im britischen Parlament tobten dazu nach dem Zweiten Weltkrieg noch heute längst vergessene Debatten, in denen sich Konservative und Sozialdemokraten wechselseitig die Verantwortung für fürchterliche Hungerkatastrophen mit je Millionen Opfern unter ihren jeweiligen Regierungsverantwortungen vorwarfen. [Ergänzung: Wer sich zu den Hungerkatastrophen im imperialistischen Zeitalter jedoch einen eingehenden Überblick verschaffen möchte, sei insbesondere auf das ebenso luzide wie erschütternde Buch des jüngst verstorbenen US-amerikanischen Historikers und Soziologen Mike Davis „Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter“, 2004, hingewiesen.] Gleichwohl aber muss dem Geschichtsrevisionismus eines angeblich willentlich herbeigeführten „roten Holocaust“ der Sowjetführung an der Ukraine auf das allerentschiedenste entgegengetreten werden. Umso mehr als dies nach der jüngsten Verschärfung des § 130 des deutschen Strafgesetzbuches auch weitreichende Folgen für die Meinungsfreiheit und Geschichtswissenschaft außerhalb der Ukraine und einiger reaktionärer Adepten und Zirkel haben könnte.
Die faschistischen Ursprünge des erfundenen „Hungergenozids“ an der Ukraine
Erstmals entstanden ist der Mythos vom „Hungergenozid“, wie Thanasis Spanidis schon vor längerem (in einem aktuell von der JungeWelt erneut publizierten Artikel „Der erfundene Völkermord“) nachzeichnete, im Jahr 1935. „Damals veröffentlichten US-Zeitungen, die dem Imperium des Medienmoguls William Randolph Hearst angehörten, eine Serie über die ‚ukrainische Hungersnot‘, gezeichnet von Thomas Walker. Hearst selbst war einer der reichsten Männer der Welt und glühender Anhänger von Hitler und Mussolini. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sich alles an der Serie als Fälschung herausstellte: Nicht nur die Behauptungen Walkers waren erfunden, auch seine Bilder stammten aus anderen historischen Kontexten, aus Österreich-Ungarn während des Ersten Weltkriegs oder Russland während der Hungersnot von 1921/22. Diese Peinlichkeiten hielten natürlich den Völkischen Beobachter nicht davon ab, die Schauermärchen der Hearst-Presse zu übernehmen und in den Dienst der Propaganda gegen den ‚jüdischen Bolschewismus‘ zu stellen.“
Thomas Walker, zu dessen Artikelserie als einer der weiteren Aufmacher in der Chicago American seinerzeit in Riesenlettern prangte „Ein Journalist wagt sein Leben für Photos dieses Massakers“, war, wie skeptische US-Auslandskorrespondenten in der Sowjetunion schon seinerzeit vermuteten und bereits teils recherchierten und er selber später auch eingestand, zudem überhaupt nie in der Ukraine. Obwohl verwendete Photos relativ rasch aus anderen historischen Zusammenhängen entstammend erkannt wurden – worum sich u.a. der kanadische Journalist und Gewerkschafter Douglas Tottle sogleich verdient gemacht hat, der ein halbes Jahrhundert später mit einem als anerkannt luzid dokumentiertem Buch „Fraud, Famine and Fascisme, The Ukrainian Genocide Myth from Hitler to Havard“ 1987 in die Debatte eingriff –, setzte sich derartiges sogar später noch fort.
Mit heißen Nadeln von ukrainischen NS-Kollaborateuren in Kanada fortgestrickt
„Das Nazireich wurde 1945 begraben, nicht aber die Lüge über den ‚Hungerholocaust‘“, die, so Spanidis weiter, zu einem zentralen Mythos der UPA-Faschisten unter ihrem Führer Stepan Bandera aufstieg. Allem voran in deren kanadischer Exilcommunity. „Hintergrund war, wie der Historiker Per Anders Rudling von der Universität Lund es bereits vor Jahren beschrieben hat, die Debatte über die Shoah, die nach der Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust im Jahr 1978 erstarkte. In diesem Kontext fürchteten ukrainische NS-Kollaborateure in Kanada, ins Visier von Öffentlichkeit und Ermittlungsbehörden zu geraten, und gingen zu einer Art Gegenoffensive über, indem sie – so schildert es Rudling – die Hungersnot von 1932/33 zu einem angeblich gezielten Massenmord, zum Genozid erklärten“ – wie dieser Tage german-foreign-policy den weiteren Fortgang des Narrativs nochmals nachzeichnete. [Per Anders Rudling: Memories of “Holodomor” and National Socialism in Ukrainian political culture. In: Yves Bizeul (Hg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich. Göttingen 2013. S. 227-258]
Und parallel in den USA …
Aber nicht minder in den USA, wie zu ergänzen wäre, in denen ins US-Exil geflüchtete ukrainische Faschisten und NS-Kollaborateure 1953 und 1955 das 2-bändige Machwerk „Black Deeds of the Kremlin“ herausgaben. Einer der Mitautoren des 1. Bandes ist kein Geringerer als Alexander Hay-Holowko, ehemaliger Propagandaminister in der kurzeitig ausgerufenen faschistischen Bandera-Stezko-„Regierung“. In den Fußstapfen eines Thomas Walkers findet sich darin als neuerliches „Photo der sowjetischen Massaker“ u.a. eine Aufnahme in der vier Soldaten und ein Offizier eine Reihe Menschen hinrichten. Die Soldaten tragen allerdings zaristische Uniformen.
1983 und die „Völkermords-Hungersnot“-Kampagne Ronald Reagans
Unter US-Präsident Ronald Reagan folgte in dessen Konfrontationspolitik gegen die Sowjetunion dann 1983 überhaupt eine großangelegte Kampagne zum Gedächtnis des „50. Jahrestages zur Völkermords-Hungersnot in der Ukraine“. Einer der maßgeblichen professoralen Autoren der Kampagne war Walter Dushnyck, mit seinem Buch „50 years ago: The famine in Uraine“, vordem ebenfalls aktiver ukrainischer Faschist „der faschistischen Hörigkeit“ in den 1930er Jahren. In diesem Klima avancierte in nachfolgenden Publikationen neben anderem dann etwa auch das von Olexa Woropay verfasste und von der Bandera-Jugendbewegung 1953 veröffentlichte Buch „The Ninth Circle“ zu einer namhaften Quelle. Vor diesem Hintergrund vermag es denn auch kaum mehr zu verwundern, dass Ronald Reagan in diesem Kontext auch Banderas vormaligen Stellvertreter Jaroslaw Stezko 1983 mit den vielsagenden Worten: „Ihr Kampf ist unser Kampf“ empfing. Und jenes „Ihr Kampf ist unser Kampf“, war durchaus wörtlich gemeint und zu nehmen. Denn in der Ukraine, so der seitens der CIA für die illegale Kriegsführung und verdeckten Operationen der OUN und UPA nach 1945 zuständige Geheimdienstler Frank Wisner, wurden in den Nachkriegsjahren bis Mitte der 1950er Jahre unter Führung von Stezko in deren fortgesetztem Untergrundkampf gegen die UdSSR rund 35.000 sowjetische Kader, Gewerkschafter und Exekutivorgane ermordet.
Karriere der schwarzen Legende im Westen
So richtig Karriere machte die Geschichtslegende dann allerdings zunächst mit dem Machwerk des britischen Historikers Robert Conquests „Harvest of Sorrow“ 1986, um danach nochmals von Nicolas Werth im „Schwarzbuch des Kommunismus“ 1997 popularisiert zu werden, bevor der – vorsichtig formuliert – umstrittene US-amerikanische Historiker Thimothy Snyder in seinem Bestseller „Bloodlands“ dem ganzen noch die Krone aufsetzte. Robert Conquest, der zuvor als Desinformations-Agent des britischen Geheimdienstes arbeitete, hat im selben Jahr übrigens noch sein weiteres Buch „What to Do When the Russians Come: A Survivalist’s Handbook“ herausgebracht, in dem er seinen MitbürgerInnen Ratschläge erteilte, wie sie den drohenden Überfall durch die Sowjetunion überleben können, die die USA Reagans unter der sowjetischen Führung Gorbatschow Gefahr liefe.
Dass die im Milieu ukrainischer Faschisten zum „Genozid“ erklärte Hungerkatastrophe von 1932/33 (der etwa 3,5 Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen zum Opfer fielen) zu einem Gründungsmythos der wieder kapitalistischen Ukraine avancierte, dem 1998 unter Leonid Kutschma ein Gedenktag und unter dem späteren „orangenen“ Präsidenten Wiktor Juschtschenko 2006 dann per Gesetz die Erklärung zum „Holodomor“ folgten, wird nur bedingt überraschen. Dass, „gemessen an der Größe der Bevölkerung … während der gesamten Hungersnot nicht die Ukraine, sondern vielmehr Kasachstan [mit etwa 1,5 Millionen Toten, Anm.] die höchste Zahl an Todesopfern zu beklagen (hatte)“ – so nochmals german-foreign-policy –, sei zumindest insofern erwähnt, als lediglich die Ukraine das „Genozid“-Narrativ verficht.
Die einhellige Ablehnung des „Holodomor“-Narrativs seitens der internationalen Historikerzunft
Dass so gut wie sämtliche mit der Sache intimer vertrauten Fachhistoriker und die seriöse Geschichtswissenschaft die These eines intendierten „Holodomor“ ablehnen (und außerhalb der Ukraine nur von einer verschwindenden, meist weit rechts stehenden Minderheit vertreten wird), geht in den Politintentionen Kiews und Berlins geflissentlich vielfach unter. [Ergänzung: Vor diesem Hintergrund hält selbst einer der wenigen linken mit der „Holodomor“-Legende kokettierende Historiker, Wladislaw Hedeler, die Hungerkatastrophe letztlich viel vorsichtiger als die deutschen Parlaments-HistorikerInnen für eine auch aus seiner Sicht mindestens „unabgeschlossene Debatte“.] Darunter – als eine der bekanntesten Fachhistoriker – der renommierte US-amerikanische Experte der sowjetischen Agrargeschichte Mark B. Tauger in einer Reihe einschlägiger Bücher und Aufsätze. Etwa „Golod, Golodomor, Genotsid“ 2008.
Ohne hier Taugers umfassende Analysen, Quellenauswertungen und Argumentationslinien gegen einen vermeintlichen „Holodomor“ auch nur im Ansatz nachzeichnen zu wollen – eine sehr bündige Übersicht dazu gibt etwa sein Artikel in „Roter Holocaust“?, Hrsg. Jens Mecklenburg, Wolfgang Wippermann, 1998 –, seien hier zumindest sein Resümee mit einigen anschließenden geschichtlichen Ausführungen und Eckpunkten kurz zusammengefasst: „Durch meine Kritik … möchte ich die Tragödie der sowjetischen Hungersnot von 1932/33 keineswegs bestreiten“, so der Fachexperte aus den Vereinigten Staaten. Aber: „Die Hungersnot 1932/33 war ein überaus kompliziertes Ereignis mit umweltbedingten und menschlichen Ursachen und Auswirkungen.“ Und: „Die Maßnahmen des sowjetischen Regimes waren zwar hart“, allerdings, so der US-Historiker weiter, wohl „daran orientiert … eine unbeabsichtigte wirtschaftliche Krise und Hungersnot zu bewältigen, als eine derartige Krise bewusst herbeizuführen, um eine bestimmte Gruppe zu bestrafen. … Diese sowjetische Krise hatte weitaus mehr mit den Krisen gemeinsam, vor denen seit dem Zweiten Weltkrieg Entwicklungsländer standen …“ Man muss Taugers um Unbestechlichkeit bemühten Forschungen weder von bürgerlicher Seite, noch von links in jedem Punkt folgen. Entsprechend existieren auch unter seriösen Historikern gewisse Streitigkeiten. Mindesten zur Kenntnis nehmen sollte man indes wenigstens, dass in der einschlägigen internationalen Historikerzunft unter jenen Forschern „die sich an ein Mindestmaß qualitativer Forschungsstandards halten“, wie Spanidis zu Recht betont, weitestgehende Einigkeit in der Ablehnung der These einer angeblich „intendierten Hungersnot“ á la „Holodomor“ besteht.
„Roter Holocaust“?
„Die Unterlagen beweisen“, wie Mark B. Tauger zu den maßlos überhöht kolportierten Ablieferungsquoten ausführt, „dass Anfang 1932 zwar hohe Quoten erwogen wurden, dass aber die erste amtlich veröffentlichte Erhebungsquote – erhalten im bekannten Erlass vom 6. Mai 1932, in dem auch der private Getreidehandel wieder legalisiert wurde – um fast 20% niedriger als die von 1931 lag. Im Laufe der darauffolgenden Eintreibungskampagnen strich das Regime die Quoten in den Regionen zusammen, die die größten Schwierigkeiten hatten, sie zu erfüllen, darunter den nördlichen Kaukasus und die Ukraine.“
„Eine vollständigere Durchsicht der Beweismittel stellt auch … [jenes vielfach] … implizierte[] Argument, dass das Regime durch verschärfte Steuererhebungsquoten eine Hungersnot bewusst herbeiführen wollte, ebenfalls in Frage. Indem sie die Quoten senkten, versuchten die sowjetischen Führer offenbar, einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der Dörfer und dem Bedarf außerhalb (in den Städten, in der Armee usw.) zu schließen.“
Thanasis Spanidis, dessen Aufsatz hier ebenfalls nochmals im Gesamten empfohlen sei, fasst die historischen Tatsachen betreffend seinerseits auf der Grundlage der Forschungen Taugers komprimiert zusammen: „Die Regierung war sich der Gefahr einer Hungersnot bewusst, unterschätzte sie aber, da der sowjetische Staat zu diesem Zeitpunkt weder ausreichend über effektive Informationsbeschaffungssysteme noch über landwirtschaftliches Expertenwissen verfügte. Beides befand sich erst im Aufbau. Die Regierung ging dennoch zu einem breiten Spektrum an Maßnahmen über, um die Hungersnot einzudämmen. Das vom Land abgezogene Getreide (über staatliche Abgaben und Privatverkäufe der Bauern) sank erheblich von 18,8 Millionen Tonnen 1931 auf 13,7 Millionen Tonnen 1932. [Die von Versorgungskommissar A.I. Mikojan Anfang 1932 angesetzte hohe Abgabequote von zunächst 29 Millionen Tonnen, wurde schon im selben Frühjahr drastisch auf einen Bruchteil herabgesetzt, Anm.] Viele erzwungene Abgaben hatten zudem in den Hungergebieten stattgefunden und wurden zurückerstattet. Die Getreideexporte, die oft als Beleg angeführt wurden, dass die Regierung den Hungertod von Millionen in Kauf nahm, wurden in Wirklichkeit nach Ausbruch der Hungersnot drastisch reduziert: Mitte 1931 bis Mitte 1932 waren noch 4,7 Millionen Tonnen exportiert worden, im Folgejahr nur noch 1,6 Millionen, davon nur 220.000 Tonnen im ersten Halbjahr 1933, gemessen an der Gesamtgröße der Ernte eine minimale Größe.“
„Hintergrund war die Notwendigkeit, im Westen für Valuta Industrieanlagen zu erwerben, um die Sowjetunion auf den drohenden imperialistischen Überfall vorzubereiten“, wie der Historiker Harald Projanski gerade erinnernd hervorhob. Die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise warf zahlreiche vorhergehende ökonomische Berechnungen der sowjetischen Führung über den Haufen. Die Sowjetunion exportierte gleichzeitige vor allem Rohstoffe (Getreide und Erdöl), deren Preise noch viel stärker verfielen als jene der importierten Industriemaschinen, was sich für Moskau, bei Beibehaltung des eingeschlagenen Industrialisierungsprozesses der nachholenden Entwicklung, lediglich durch Exportsteigerung kompensieren ließ. Allerdings, so nochmals Tauger in prinzipieller Absicht, „dass es dem Staat nur um Einnahmen gegangen sei“, ist für eine „ernsthafte Diskussion“ der sowjetischen Hungersnot freilich schlicht „irreführend“. „Dem Regime ging es genauso ums Überleben.“
„Die staatlichen Getreidereserven waren“ zugleich, wie wiederum Thanasis Spanidis hervorhebt, „eine ständige Sorge der Sowjetführung, die den Aufbau solcher Reserven für den Kriegsfall als wichtige Priorität sah. Dennoch wurden diese nun weitgehend für die Ernährung der Bevölkerung aufgebraucht, einschließlich der Getreidelager der Roten Armee. Insgesamt wurden 5,76 Millionen Tonnen an Nahrung und Saatgut in die Hungergebiete geliefert, die größte Hungerhilfe der sowjetischen und russischen Geschichte. Da die Ernte insgesamt bei weitem zu niedrig war, bildete das Politbüro der Kommunistischen Partei ab September 1932 eine Kommission zur Ernteverbesserung, der auch Stalin und Außenminister Molotow angehörten. Spätestens jetzt hatte die Hungersnot die volle Aufmerksamkeit der politischen Führung. Das Landwirtschaftsministerium legte Programme zur Schädlingsbekämpfung und Erntesteigerung mit verbessertem Saatgut auf. Ineffizient arbeitende Funktionäre auf dem Land wurden durch erfahrene Bauern ausgetauscht. Neue Gesetze sollten auch durch Strafen die Arbeitsdisziplin verbessern. Politische Abteilungen wurden in den Maschinen-Traktoren-Stationen auf dem Land sowie in den Staatsfarmen gegründet, um die Arbeitsorganisation zu verbessern.“
Zu Letzterem schrieben etwa ebenso, auch die nur des geringsten Hauchs der Sympathie mit der Sowjetunion völlig unverdächtigen damaligen faschistischen Diplomaten Mussolini-Italiens, deren Berichte der italienische Philosoph und intime Geschichtskenner Domenico Losurdo näher auswertete: „In verschiedenen Orten sind Soldaten aufs Land geschickt worden, um den Bauern bei der Arbeit zu helfen“, parallel dazu ebenso Arbeiter, „um die Maschinen, die zeitweilig nicht arbeiten, so gut es geht zu reparieren.“ Denn, so faschistische Diplomaten Italiens weiter, gleichzeitig zur Repression gegen antisowjetische Kräfte und „ukrainischen separatistischen Anwandlung(en)“ entwickelt sich seitens Moskaus eine „Politik der Aufwertung der nationalen ukrainischen Charakteristiken“, die versucht, „die Ukrainer Polens zu einer möglichen oder wünschenswerten Vereinigung mit er UdSSR“ zu stimulieren. (Ausführlicher vgl.: Domenico Losurdo: Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen, 2007, ders.: Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, 2012). „Nahm sich Stalin vor“, so denn auch Losurdos leicht polemische Frage an die „Genozid“-Adepten aus alledem, „‘die Ukrainer Polens‘ an die sowjetischen Ukrainer anzunähern, indem er Letztere durch Hungertod ausrottete?“
[Ergänzung: Und während der deutsche Bundestag zu wissen wähnt, dass es „dem Kreml“ seinerzeit um die Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins, von Sprache und Kultur gegangen ist, urteilten die zeitgenössischen Beobacher auch hier geradezu entgegengesetzt. Im vorangegangenen Absatz im Verstande der italienischen Faschisten benanntes Ziel der „Politik der Aufwertung der nationalen ukrainischen Charakteristiken“ wird „aus dem Kreml“ (wie es im Bundestagsbeschluss heißt) nämlich verfolgt, so selbst Mussolinis Diplomaten, indem man hierfür den freien Ausdruck der ukrainischen Sprache, Kultur und Bräuche fördert. „Man möchte also einen separatistisch geprägten ukrainischen Nationalismus, der auf Polen blickt, durch einen zentripedalen ersetzen, der die Ukrainer Polens zu einer möglichen oder wünschenswerten Vereinigung mit denen der UdSSR anreizt.“ Entsprechend wurde seinerzeit bspw. am 1. Mai in der Ukraine, so die Depeschen nach Rom, nicht nur als Aufputz in „prächtigen ukrainischen Nationaltrachten“ mitmarschiert. „Am Vorabend [etwa] wurde im Opernhaus, nach der Feier des roten Festes mit einer kurzen Rede, ukrainische Lieder gesungen und auf der Bühne traditionelle ukrainische und Kosakentänze aufgeführt. Auf den verschiedenen Versammlungen im Freien am 1. und 2. Mai sah man nicht nur moderne Tänze, sondern auch und vor allem (…) ukrainische Tänze.“ Vor diesem Hintergrund „kehrten“ nach dem Bürgerkrieg Anfang der 1920er Jahre auch „zahlreiche nationalistische Führer – zum Großteil Aktivisten der sozialistischen Parteien, die im Bürgerkrieg Gegner der Bolschewiki waren – … in die Heimat zurück.“ Usw. usf. Es wäre müßig die Eindrücke dieser ausgewiesenen italienischen Feinde der Sowjetunion weiter auszuführen. Nicht minder, ihre Lesart der Politik des Kremls näher zu analysieren. Aber von einem „Ethnozid“ jedenfalls, wie ihn der deutsche Bundestagsbeschluss nahelegt bzw. gleichsam behauptet, weiche ihre Ausführungen denn doch meilenweit ab. Und einzig darum ist es uns hier zu tun.]
„Wenn die sowjetischen Führer die Bauern bestrafen wollten“, nicht minder unbeantwortet die Frage Mark B. Taugers, „warum ließen sie zu, dass sogar in Moskau die Arbeiter und ihre Familien zu Hunderttausenden verhungerten oder dass Tausende von Rotarmisten keine Lebensmittel bekamen?“ „Die Tatsachen lassen eher darauf schließen, dass das Land vor Problemen mit der gesamten Versorgung mit Lebensmitteln stand.“ Ja, die Quellen belegen, dass die Hungersnot „sogar Arbeiter in Betrieben, die Vorrang genossen und denen größere Lebensmittelrationen zustanden“ traf, „von der Roten Armee ganz zu schweigen“. Die Legende des „Holodomors“ „unterschätzt das Ausmaß der Hungersnot“. Zudem lassen Anhaltspunkte vermuten, „dass die Ernte 1932 weitaus geringer ausfiel, als amtlich zugegeben“. Und Tauger, hier bewusst als unverdächtiger US-Historiker stellvertretend für die einschlägige fachhistorische Forschung herangezogen, lässt keinen Zweifel über sein geschichtliches Urteil aufkommen: „Dies muss als primäre Quelle der Hungersnot gelten“.
Faschistisch und revisionistische Umschreibung der Geschichte als Ausdruck der „Zeitenwende“
Entsprechend aufschlussreich dazu ist denn auch ein gestriger Kommentar von Sevim Dagdelen in der JungeWelt: „Die überwältigende Mehrheit der Historiker … zweifelt am Genozidcharakter. Genau aus diesem Grund hat der Bundestag im Jahr 2017 noch eine Petition abgelehnt, die den ‚Holodomor‘ als Genozid anerkannt wissen wollte. Es spreche doch ‚einiges dagegen‘, und es liege ‚nicht im Ermessen des Petitionsausschusses‘, über eine in der Geschichtswissenschaft strittige Frage zu entscheiden, befand das Parlament damals, mit den Stimmen auch derjenigen, die das heute anders entscheiden wollen. Noch im Frühjahr 2022 fasste der Petitionsausschuss in einer vorläufigen Beschlussempfehlung zusammen, dass die Einschätzung, ob der Holodomor die Merkmale eines Völkermordes erfülle, weiterhin umstritten sei.“ Und ergänzt: „Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft haben sich seit diesen Beratungen nicht geändert.“ Wohl aber der Wind gedreht. Kommt dabei die Verschärfung des § 130 StGB zum Tragen, kann gegebenenfalls selbst der Beck-Verlag seine bisherige „Kleine Geschichte der Ukraine“ von Andreas Kappeler wegen „Verharmlosung“ eines „Völkermords“ einstampfen und nach Bundestags-Petition überarbeitet neu auflegen. Denn selbst dieser „dem nationalukrainischen Gedanken sehr nahe Historiker“, wie ihn Harald Projanski charakterisiert, hat bislang eingeräumt, dass die „Holodomor“-These in der Forschung mindestens umstritten ist. Ja, das träfe sogar offizielle israelische Geschichtsabhandlungen, da Israel die Einstufung der Hungerkatastrophe in der Ukraine als „Genozid“ ablehnt, da die Tragödie keine „Vernichtung anhand ethnischer Kriterien“ darstellt.
Die fürchterliche Hungerkatastrophe 1932/33 heutigentags auch noch in faschistischer Version geschichtsrevisionistisch umschreiben zu wollen [bzw. jetzt per parlamentarischen Mehrheitsbeschluss umzuschreiben], ist ein ebenso wahrheitswidriges wie schäbiges und politintendiert durchsichtiges Unterfangen sondergleichen.