Die strategische Allianz der NATO & EU mit Marokko: Selbstbestimmungsrecht nach Strickmuster des Wertewestens
Nach der ehemaligen Kolonialmacht Spanien hat nun auch Deutschland das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris in der Westsahara am Altar des Ost-West-Weltordnungskriegs geopfert. Bezüglich der von Marokko als Besitzstand gehaltenen letzten Kolonie Afrikas gäbe es nur mehr „in Nuancen Unterschiede“, so Annalena Baerbock in der Hauptstadt des für „grünen“ Wasserstoff prominenten Königreichs gerade ein weiteres Kapitel ihrer „wertebasierten Außenpolitik“ aufschlagend. Zieht man ihre Aussage mit ein, sich auf diesem Weg „nie wieder abhängig (zu) machen von Ländern, die unsere Werte nicht teilen“, wär‘ man fast geneigt zu sagen: ‚Nur wer Kolonie kann, kann Außenpolitik‘.
Bereits im unsäglichen Zynismus rund um das Massaker in Melilla Ende Juni spiegelte sich wie durch einen Brennspiegel die im Frühjahr aufgeschlagene „neue Phase“ in den Beziehungen Spaniens (resp. der EU) zu Marokko wider. Ihr erstes Opfer wurde – unter weitgehendem medialen Desinteresse – die ‚Frente Polisario‘ in der Westsahara. Denn in eins damit wurde das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris, in der letzten Kolonie Afrikas, in diesem Zuge nun auch von dessen ehemaliger Kolonialmacht Spanien quasi offiziell ad acta gelegt und die Westsahara dem marokkanischen Expansionismus übergegeben. Dass wiederum Algerien auf diesen Schacher, der an tiefste Kolonialzeiten erinnert, Sanktionen gegen Madrid verhängte und die Gaspreise für Spanien erhöhte, findet sich in unseren Medien nur insoweit es die europäische Gasversorgung berührt. Ansonsten putzt man die dreckige von Brüssel und den Hauptstädten der „EU Wertegemeinschaft“ (mit)getragene „neue Marokko-Politik“ vorrangig schön auf.
Linke Kräfte Spaniens geißeln daher auch den Umstand, dass Madrid im Chor der NATO im Namen des oder zumindest unter dem Label des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine einerseits Waffen an Kiew liefert, das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris bzw. der Westsahara allerdings gerade dem Schwenk zu Marokko geopfert hat. Dabei ist deren Selbstbestimmungsrecht auf der internationalen Bühne spätestens seit der UN-Generalversammlung 1965 virulent, die Spanien seinerzeit aufforderte, die Westsahara in die Unabhängigkeit zu entlassen. Die Westsahara, bis 1975 Kolonie des faschistischen Spaniens und danach weitgehend von Marokko besetzt, verfügt über ungeheure Vorräte, wenn nicht gar weltweit größten Vorkommen, an qualitativ hochwertigem und im Tagebau abbaubaren Phosphat.
Dass das Massaker von Mellila die wenige Tage darauf in Madrid unter dem Titel der „Verteidigung der Souveränität“ (der Mitgliedsstaaten) tagende NATO nicht weiter anfocht, braucht wohl keine näheren Ausführungen. Viel zynischer noch, die „Verteidigung der Souveränität“ beinhaltete dabei vielmehr erstmals explizit auch die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko, die bisher zwar schon der EU angehörten, nicht aber als NATO-Territorium galten. Denn, so das NATO-Strategiepapier: „Wir stehen vor sehr großen Bedrohungen unserer Südflanke, die unsere Souveränität gefährden, in Form der politischen, nicht zu akzeptierenden Nutzung von Energie und der irregulären Migration.“ Dass das westliche Militärbündnis Flüchtlingsbewegungen und Schutzsuchende allem voran als „Sicherheitsproblem“, ja „Souveränitätsbedrohung“ wahrnimmt, ist geradezu kennzeichnend für die „westliche Wertegemeinschaft“ und beileibe kein Novum von Innenminister Gerhard Karner, wie es sich manche schönzimmern wollen. Wer erinnert sich nicht mit Schaudern an Kamala Harris noch nicht lange zurückliegenden Appell an die Schutzsuchenden an der US-Südgrenze: „Kommt nicht, wir schieben euch ab!“
Begleitend machte sich US-Außenminister Antony Blinken bereits zuvor für eine Stärkung der strategischen Allianz der NATO mit Marokko stark und signalisierte unzweideutig, dass auch die Biden-Administration die von Trump für Washington auf den Weg gebrachten Anerkennung der „marokkanischen Hoheitsrechte“ über die besetzten Gebiete beibehalten wird. Im Windschatten der eskalierenden Ukraine-Krise erklärte dann auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine stärkere politische, wirtschaftliche, technologische Präsenz im nordafrikanischen Königreich zu einer „absoluten Priorität“.
Nach einer Phase außenpolitischer Querelen und Misstöne haben nach der spanischen Preisgabe der Westsahara nun denn auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und ihr marokkanischer Amtskollege Nasser Bourita in Rabat im deutsch-marokkanischen Verhältnis ein „neues Kapitel“ aufgeschlagen (ja, geradezu lyrisch: „ein neues Kapitel unseres gemeinsamen Buches“). Bezüglich der letzten Kolonie Afrikas gäbe es nun nur mehr „in Nuancen Unterschiede“ und auch gegenüber dem südlich des Königreichs gelegenen widerborstigen Mali bestehen starke Interessenskongruenzen. Zudem hat man sich geeinigt, die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen auszubauen. Vor allem aber bietet der Wüstenstaat an der Mittelmeerküste mit seinen hohen Windstärken und zahlreichen Sonnenstunden geradezu ideale Voraussetzungen für Europas partielle Energiewende hin zu Erneuerbaren und milliardenschwere Investitionsmöglichkeiten.