Die Welt steht vor einer dramatischen – und seit der Wirtschafts- und Coronakrise schon des Längeren vorhergesagten – Hungerkrise. Aber: Nein! – klärt uns seit jüngstem besonders theatralisch die oliv-grüne Außenministerin Deutschlands Annalena Baerbock auf: Die Krise, das zeitgenössische Agrobusiness, das globale Finanz-Casino sowie der Klimawandel sind dahingehend weitgehend sekundär und die globalen Verteilungsverhältnisse wären eigentlich recht funktionstüchtig. Wäre da nicht Putin, der „neue Hitler“ in Moskau (H. Clinton). „Sein Krieg“, assistiert auch Olaf Scholz, habe die „Hungerkrise“ erst „angezettelt“. Mehr noch: Laut Baerbock hat „Russland sich entschieden, den Krieg gegen die Ukraine als Kornkrieg gegen viele Staaten der Welt insbesondere in Afrika auszuweiten“. Durch Russlands Handeln fallen Lieferungen aus, explodierten die Preise – „es droht brutaler Hunger“. Dies sei auch mitnichten ein Kollateralschaden, „das ist ein ganz bewusst gewähltes Instrument in einem hybriden Krieg“.
Die globale Ernährungslage ist in der Tat katastrophal. Viel zu ernst um sie auch noch zynisch für die westliche Kriegspropaganda instrumentalisieren zu lassen. Die Zahl der Unterernährten steigt seit Krisenausbruch 2020 wieder rasant an, die globale Wirtschafts- und Coronakrise hat sie schon bis Herbst 2021 weltweit auf 811 Millionen in die Höhe schnellen lassen. Und die UN-Langzeitprognosen bis 2050 zeichnen düstere Herausforderungen. Allem voran für die Länder des Globalen Südens. Die Geißel der Unterernährung, umfassender Hungernöte und millionenfachen Hungertods bleibt ungeachtet aller Millenniumsziele und Nach-Millenniumsziele eines der drängendsten Probleme und verschärft sich sogar noch.
Zwar hat sich die Weltgetreideproduktion bzw. Ernte im letzten halben Jahrhundert aufgrund steigender Hektarerträge (allen voran in den USA und Kanada oder Deutschland, aber auch etwa in Indien und Indonesien und China; die weltweiten Anbauflächen haben sich im Zeitraum nicht wesentlich erhöht) mehr als verdoppelt, nämlich um +230% seit Anfang der 1960er Jahre. Während die Ukraine, die traditionelle Kornkammer Europas, dahingehend gleichsam mithalten konnte, bildet Russland demgegenüber eines der Schlusslichter in der Flächenproduktivität der großen Getreideproduzenten. Indes: Das globale Hungerproblem konnte dadurch noch immer nicht überwunden werden. Daran werden denn auch mit einem Schlag die tieferen liegenden, dem globalen Agrobusiness eingeschriebenen Ursachen augenfällig. Dazu kommt, dass die Hektarerträge von Weizen und Gerste strukturell niedriger liegen als etwa jene von Reis, oder gar Mais. Gleichwohl ist Weizen auch aktuell eigentlich mitnichten knapp – ja wird die Weizenmenge nach FAO-Prognose, die Ausfälle Russlands und der Ukraine schon eingerechnet, heuer jene des letzten Jahres sogar um 6 Millionen Tonnen übertreffen –, sondern hakt die Nahrungsversorgung viel elementarer an anderen Problemen.
Nämlich an jenen – ohne die Verschärfung durch den Ukrainekrieg (aufgrund dessen zwischen 20 – 25 Millionen Tonnen Getreide feststecken), auf den dahingehend allerdings noch gesondert zurückzukommen sein wird, bagatellisieren zu wollen – von den Führungskreisen des ideologischen Generalstabs des Westens vielmehr vehement zurückgewiesenen.
Das bewies besonders ausgeprägt schon die spekulationsgetriebene Preisexplosion der Getreidepreise in der Weltwirtschaftskrise 2008, die die Preise für Getreide auf 238% der Durchschnittspreise von 2002-2004 explodieren ließen. Im Jahr 2011/12 erklommen sie aufgrund einer erneuten Spekulationswelle auf die dringend benötigten Nahrungsmittel (die zudem auch als Tierfutter und zur Produktion von Ethanol hoch im Kurs stehen) dann überhaupt ihr bisheriges Rekordhoch – bevor sich die Preisentwicklung wieder beruhigte und stärker auf die sogenannten Fundamentaldaten einschliff. (Unter diese fallen neben Erntemengen und Anbauflächen auch etwa die Logistik – da bis zu rund einem Drittel im Zuge des Transports bis zu den Verbrauchern vergammelt –, die Nachfrage usw.) Danach dümpelte der bekannte FAO-Food-Index wieder vor sich hin. Zwar sind Spekulationen auf landwirtschaftliche Produkte und Nahrungsmittel nicht gänzlich neu, mit der Liberalisierung der Finanzmärkte seit den 1990er Jahre und dem Aufstieg der internationalen Terminmärkte für Getreide hat die Spekulation mit der Ernährungslage der Weltbevölkerung, insbesondere jener des Globalen Südens, jedoch rasant zu- und eine neue Qualität angenommen. So jüngst auch die Ökonomin Miriam Frauenlob: „Während der Markt für agrarische Rohstoffe bis 2000 sehr stark reguliert war, bestimmen seit dem ‚Commodities Future Modernization Act‘ Terminbörsen die Preise für Agrargüter.“
Die Investment-Triebkräfte, Umwälzungen in den weltweiten Landwirtschaften, sowie Struktur des zeitgenössischen Agrobusiness sind vielfältig und können hier nicht im Einzelnen abgehandelt werden. Allemal unbestrittener Fakt jedoch ist, dass sich mit der neoliberalen Globalisierung, ihrem Agrobusiness und Finanz-Casino die Nahrungsmittellücke im Globalen Süden verschärft – mit dramatischen Folgen für die globale Ernährungssituation und den Welthunger. Und die mörderische Spekulation des anlagesuchenden Reichtums und Kapital auf den Hunger ist in dieser Situation ebenso attraktiv, wie an Skrupellosigkeit kaum zu überbieten. Und so schoss der FAO-Food-Index spekulationsgetrieben denn auch schon 2021, lange vor dem Ukraine-Krieg, kräftig aus seiner Vorkrisen-Zone von um die 95 auf 126 (und damit auf Höhen des Höchstpreisniveaus vor einem Jahrzehnt) empor um noch immer kurz vor dem Krieg auf überhaupt 136 zu klettern. Das spätere Decoupling war da noch so wenig absehbar wie die Lage an den Häfen oder die Verminungen des Asowschen Meeres.
Diesbezüglich einzig verwiesen sei in diesem Zusammenhang aber beiher zumindest auch auf den ungeheuerlichen Umstand, dass alleine in der EU die Viehfuttermenge von Getreide ein Mehrfaches der aktuellen Getreideausfälle der Ukraine und Russlands zusammen ausmacht. Ja, die EU rund das 1,5fache der jährlichen ukrainische Weizenproduktion als Viehfutter verwendet, während Millionen Menschen weltweit dahinsiechen und verhungern. Für heuer rechnet die EU-Kommission mit einer Produktion von 296 Millionen Tonnen Getreide, von denen satte 159 Millionen verfüttert werden. Zu Nahrungszwecken sind überhaupt bloße 23% der Getreideproduktionsmenge vorgesehen.
Bereits vor einem Jahr schlug denn auch das UN-Welternährungsprogramm Alarm. Zumal die Wirtschafts- und Corona-Krise die Länder des Globalen Südens, aber dieses Mal teils auch die großen Schwellenländer Südamerikas, nochmals besonders hart traf und trifft. Dazu gesellen sich aktuelle extreme Wetterlagen, Heuschreckenplagen, Dürren, regionale Ernteausfälle und Konflikte. „Wir sehen, wie sich eine Katastrophe vor unseren Augen entwickelt“, äußerte dazu bereits letztes Frühjahr der Direktor des UN-Welternährungsprogramms (WFP) David Beasley.
Die Corona- und Weltwirtschaftskrise, so David Beasley vor beinahe exakt einem Jahr weiter, droht die Zahl der an unmittelbarer Hungersnot und akuten Nahrungsmittelmangel leidenden Menschen sprunghaft glatt zu verdoppeln und in eine Hungerskrise multiplizieren Ausmaßes zu führen. Ja, die wirtschaftlichen Folgen der Krise droht UN-Forschungen zufolge eine derartige Masse Menschen in Armut zu reißen, dass an die 3,7 Milliarden Menschen – d.h. rund die Hälfte der Weltbevölkerung – unterhalb der Armutsgrenze vegetieren müssen oder zu darben haben werden. Mehr als 34 Millionen Menschen wiederum hatten nach damaligen UN-Angaben schon an so starker Unterernährung zu kämpfen, dass der Hungertod nicht mehr weit ist. Und die Prognosen haben sich zwischenzeitlich noch verdüstert.
Freilich, all das spielt in Denkschablonen einer Annalena Baerbock keine Rolle. Stattdessen sucht bzw. suchen sie und ihresgleichen – in rigoroser Entlastung des Metropolenkapitalismus, des Agrobusiness und des globalen Finanz-Casinos – manisch nach einer personifizierten Inkarnation des Bösen auf der Welt, einem Sündenbock für die globale imperialistische Barbarei der kapitalistischen Kernländer und ständig neuen Kriegsgründen um der beweinten „Kriegsmüdigkeit“ an der Heimatfront und unter den ukrainischen Bodentruppen und Bauernopfern des Kampfs, um „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“ des Westens auf dem „großen Schachbrett“ (wie der einflussreiche US-Stratege Zbigniew Brzezinski den Kampf um die Ukraine bereits 1997 kurz und trocken auf den Punkt brachte) entgegenzuwirken.
Teil II wird sich dann nochmals vertieft mit dem behaupteten Kornkriegs Narrativ direkt auseinandersetzen.