Armut in Österreich – „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“ (B. Brecht)

Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem ist durch massive Ungleichheit geprägt, sowohl in der Einkommens-, besonders aber in der Vermögensverteilung. Während einige im Überfluss schwelgen und, sowohl aufgrund ihrer Konsumniveaus und Konsummuster sowie aufgrund der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln, Haupttreiber:innen der Klima- und anderer Umweltkrise(n) sind, fehlt es anderen auch in Österreich an Vielem. In der Wirtschafts- und Corona-Krise sowie nunmehr grassierenden Hochinflationszeit ist die Armut nochmals rasant angeschwollen. Global, und auch in Österreich. Aufgrund der aktuellen Daten der Statistik Austria läuten denn auch regelrecht die Alarmglocken.

Armut hat viele Gesichter, deren Gemeinsames das Fehlen wirtschaftlicher Ressourcen ist, um an den Konsumaktivitäten der Gesellschaft teilzunehmen. Die Ursachen von Armut sind ebenso vielfältig. Sie sind geprägt von der konjunkturabhängigen, strukturellen oder saisonalen Situation am Arbeitsmarkt – von Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit, ganz- oder unterjähriger Beschäftigung, Niedriglohn- und/oder Teilzeitbeschäftigung. Weiters spielen Geschlecht, Alter, Gesundheit und die Haushaltszusammensetzung eine wesentliche Rolle, aber auch die Herkunft – sozial sowie regional. So zählen zu den Risikohaushalten u. a. alleinerziehende Frauen, kinderreiche Haushalte, alleinlebende Frauen und Männer ohne Pension, alleinlebende Frauen mit Pension, Langzeitarbeitslose und Nicht-EU/EFTA-Staatsbürger:innen. Während längere Phasen von Arbeitslosigkeit, die Ausweitung der Teilzeitarbeit oder auch Sozialversicherungsbetrug zahlreicher Unternehmen (etwa durch Anmeldung auf geringerer Stundenbasis mit oder ohne Schwarzgeldzahlung) eine tickende Zeitbombe hinsichtlich Altersarmut darstellen, führen die gegenwärtigen Inflationsraten schon jetzt bei mehr und mehr Haushalten zu Zahlungsschwierigkeiten und ziehen Armutsgefährdung und Verarmung immer weitere Kreise.

Armut ist ein vielschichtiges Phänomen

Im Jahr 2022 waren bereits über 1,3 Mio. in Österreich lebende Menschen armutsgefährdet. Damit war fast jede siebente Person betroffen. Die diesen Daten zugrundeliegende Armutsgefährdungsschwelle betrachtet die relative Einkommenssituation der Haushalte, die gewichteten verfügbaren Haushaltseinkommen, und soll die Konsummöglichkeiten abhängig von der Zusammensetzung der Haushalte abbilden, die sich nach Anzahl und Alter ihrer Mitglieder unterscheiden. Daraus ergibt sich, dass es nicht ‘eine‘ Armutsgefährdungsschwelle gibt, sondern je nach Haushaltsstruktur verschiedene Armutsgefährdungsschwellen.

Eine reine Konzentration auf derartige relative Armutsschranken, die sich am Median oder am durchschnittlichen Haushaltseinkommen orientieren, greift indes aber noch zu kurz und kann unterschiedliche Facetten der Armutsproblematik nicht abbilden. So führt beispielsweise eine Verringerung des gesellschaftlichen Einkommensniveaus (Median) einerseits zu einem geringeren Lebensstandard von betroffenen Haushalten, gleichzeitig sinkt allerdings die Armutsgefährdungsschwelle. Damit verringert sich, unter sonst gleichen Umständen, auch die Armutsgefährdungsquote, ohne dass sich an der konkreten Situation der armutsgefährdeten Menschen etwas gebessert hätte, einige von ihnen würden sogar nicht weiter als armutsgefährdet gelten. Eine andere Problematik tritt bei (stark) steigenden Preisen, also Teuerungswelle wie aktuell, und unveränderten Einkommensverhältnissen auf: Hier bleibt die Armutsgefährdungsquote unverändert, während eine zunehmende Anzahl an Menschen Probleme hat, ihre Konsumbedürfnisse zu befriedigen.

Daher müssen u.a. absolute Armutsschranken das Bild ergänzen, die die Kosten für Grundbedürfnisse abbilden.  Materielle Deprivation* erhebt die Nicht-Leistbarkeit von mindestens 3 von 9 Grundbedürfnissen. Haushalte können sich demnach beispielsweise nicht leisten, regelmäßige Zahlungen (Miete, Betriebskosten, Kreditrückzahlungen, …) rechtzeitig zu begleichen, unerwartete Ausgaben für Reparaturen von 1.300 Euro oder mehr zu finanzieren, die Wohnung angemessen warm zu halten, eine Waschmaschine, einen Fernseher oder ein Telefon/Handy zu besitzen. Als erheblich materiell und sozial depriviert gelten Personen ab 16 Jahren, wenn sieben von 13 Merkmalen auf Haushalts- und Personenebene erfüllt sind. Dazu zählen zu den oben erwähnten Merkmalen u. a. auch die finanzielle Nicht-Leistbarkeit abgenutzte Kleidung zu ersetzen, zwei Paar passende Schuhe zu besitzen, jede Woche einen kleinen Beitrag für sich selbst auszugeben oder einmal im Monat Freund:innen oder Familie zum Essen/Trinken zu treffen.

Als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet gelten Personen, deren gewichtetes Haushaltseinkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt, die erheblich materiell und sozial depriviert (benachteiligt, sozial ausgegrenzt, …) sind oder in einem Haushalt mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität (weniger als 20 % im Laufe eines Jahres) leben. Menschen können demnach auch mehrfach ausgrenzungsgefährdet sein. Auch die Wohnsituation ist zu berücksichtigen, etwa ob die Wohnung überbelegt ist, kein Bad, keine Dusche und/oder kein WC in der Wohnung vorhanden sind oder Schimmel oder Feuchtigkeit Einzug gehalten haben. Darüber hinaus ist auch die Dauerhaftigkeit von Armut zu berücksichtigen, ob sie beispielsweise nur zeitweilig oder dauerhaft ist.

Rasanter Anstieg in absolute Armutslagen

Über 200.000 Menschen im Land – deutlich mehr als noch 2021 –, allen voran alleinerziehende Frauen, konnten sich im Vorjahr überhaupt alltägliche Dinge wie etwa Kleidung oder Schuhe, neue Möbel oder eine angemessen warme Wohnung nicht mehr leisten, ganz zu schweigen von einem Urlaub. Damit kletterte die Zahl der „akut Armen“ in Österreich im letzten Jahr um eklatante 41.000 weitere Personen von rund 157.000 auf 201.000 Menschen in „absoluten Armutslagen“.

Dabei verhieß die schwarz-grüne Koalition in ihrem Regierungsübereinkommen als „Leuchtturmprojekt“ noch großspurig eine Halbierung der Armut – mit „besonderem Augenmerk“ auf die „Bekämpfung der Kinderarmut“. 

Kinderarmut in Österreich

Entgegen dem „besonderen Augenmerk“ des Koalitionspapiers sind in Österreich heute allerdings 353.000 Kinder und Jugendliche, und damit mehr als 20%, von Armut betroffen. Sie wachsen in Haushalten auf, die es sich nicht leisten können, unerwartete Ausgaben zu tätigen. Über 100.000 Heranwachsende bzw. deren Eltern können aus finanziellen Gründen nicht wenigstens einmal im Monat FreundInnen oder Verwandte einladen. Mit der Covid-19-Krise und Hochinflationswelle hat sich die Situation nochmals zusätzlich verschärft. Zwei der unmittelbaren Folgen für die betroffenen Kinder bestehen etwa in ihrer zunehmenden sozialen Isolation und früherem Ausscheiden aus dem Bildungssystem. Denn, so wie sich von Armut betroffene Familien vielfach Nachhilfeunterricht schlicht nicht leisten können, so vielfach auch soziale Alltäglichkeiten wie beispielsweise die Einladung anderer Kinder zu Geburtstagsfeiern nicht. Was umgekehrt oftmals wiederum dazu führt, dass auch die eigenen Kinder nicht zu Geburtstagen eingeladen werden. Ähnlich wirken auch Barrieren in Sportvereinen (von Mitgliedsbeiträgen bis hin zu unleistbaren Sportgeräten und Equipment). Die Liste der Folgen ließe sich noch lange fortsetzen.

Was tun?

Um dieser Erosion der sozialen Verhältnisse und der immer weiteren Kreise ziehenden Armutsgefährdung und Armut entgegenzuwirken, bedarf es einer kraftvollen Lohnoffensive, eines Mindestlohns von 2.000 Euro, der Anhebung des Arbeitslosengeldes, der Mindestsicherung und der Pensionen auf ein armutsfestes Niveau, eines Um- und Ausbaus des Sozialsystems und der öffentlichen Infrastruktur als Ganzes sowie einer verteilungspolitischen Schließung der horrenden Kluft zwischen Arm und Reich. Dazu gilt es prekären Beschäftigungsverhältnissen den Kampf anzusagen, v.a. unfreiwilliger Teilzeit, unterjähriger Beschäftigung und dem Niedriglohnsektor; Sozialversicherungsbetrug muss verhindert werden. Mit einer weitreichenden Arbeitszeitverkürzung bei vollem Personal- und Lohnausgleich und gesellschaftlichen Umverteilung der Arbeit auf alle, ließe sich die gesellschaftlich notwendige und ökologisch verträgliche Arbeit gleichmäßig aufteilen. Zudem braucht es dringen sozial effektive Mietobergrenzen und spezielle soziale Stützungsprogramme für die Armutsgefährdeten und Ärmsten.

Ob und wieweit sie sich dies allerdings durchsetzen lässt, wird sich letztlich an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und realen Kämpfen entscheiden. Und in diesem Konflikt ist Marxens Wort und Einsicht fundamental: Armut und Reichtum drücken eine bloß abstrakte Beziehung aus, sofern nicht die sozialen Kräfte herausgestellt werden, die ihrem Verhältnis in der Realität zugrunde liegen. Denn „der Gegensatz“ von Arm und Reich „ist ein noch indifferenter, nicht in seiner tätigen Beziehung, seinem inneren Verhältnis, noch nicht als Widerspruch gefaßter Gegensatz, solange er nicht als der Gegensatz der Arbeit und des Kapitals begriffen wird“ und im Klassenkampf entsprechend ausgetragen wird.

*Deprivation (lat. privare „berauben“) bezeichnet, vereinfacht gesagt, messbare materielle Benachteiligungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Existenz und Position

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