Äthiopien: Wenn die Arbeiter:innenbewegung fehlt

Alle Welt blickt aktuell auf den Bürgerkrieg in Äthiopien. Zu Recht, hat er neben der humanitären Katastrophe und Weichenstellung am Horn von Afrika doch zugleich das Zeug, darüber hinaus einen weiteren Teil der Welt langfristig zu destabilisieren.

Während das Tagesgeschehen die Medien füllt, bleibt das heutige politische Vakuum Äthiopiens, das Fehlen einer starken ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung, merklich ausgeblendet. Dabei spielten diese – im Unterschied zu heute – über weite Strecken der Geschichte Äthiopiens eine (zumal für ihre Größe) wesentliche gesellschaftliche und politische Rolle. Diese soll daher denn auch im Kontext der historischen Entwicklung und der gegenwärtigen Konfliktlinien nachgezeichnet werden.

Mussolinis Überfall auf Äthiopien & der antifaschistische und antikolonialistische Widerstand

Vor 85 Jahren zog die faschistische Soldateska Mussolinis nach hartem Widerstand der ÄthiopierInnen siegreich in Addis Abeba (Hauptstadt Äthiopiens, damalige Staatsbezeichnung Abessinien) ein. Bereits ein Jahr zuvor, 1935, eröffnete das faschistische Italien seinen kolonialen Kriegsgang gegen Abessinien. Parallel zum faschistischen Überfall erklärte Palmiro Togliatti auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale: „Das abessinische Volk ist der Verbündete des italienischen Proletariats gegen den Faschismus und wir versichern (es) unserer Sympathien“. Der Abessinienkrieg mit dessen rigoros rassistischem Charakter der italienischen Eroberungen und Verwaltungspraxis in Äthiopien, den erlassenen Rassengesetzen, errichteten Konzentrationslagern, Giftgasangriffen auf ganze Dörfer und viehischer Hinmordung der Zivilbevölkerung, gilt in der Forschung als erster faschistischer Vernichtungskrieg. Trotz der barbarischen Brutalität, militärtechnischen Überlegenheit und „Strafexpeditionen“ um den hartnäckigen Widerstand zu zerschlagen, gelang es den „Schwarzhemden“ des „Duce“ zu keinem Zeitpunkt, den Volkswiderstand im ganzen Land zu ersticken. Bis zur Befreiung – des von Italien 1936 mit Eritrea und Somaliland zur Kolonie Italienisch-Ostafrika zusammengeschlossenen Horn von Afrika – operierten in ganz Äthiopien Partisanenabteilungen gegen die Besatzer. 1941 konnten die englischen Truppen die zahlenmäßig überlegene italienische Besatzungsarmee denn u.a. auch deshalb so rasch besiegen, weil die äthiopischen Volkskräfte in diesem Kampf selbst eine entscheidende Rolle einnahmen. Der heroische Widerstand breiter Kreise der Bevölkerung gegen die faschistischen kolonialen Eroberer gehört nicht nur zu den wichtigsten fortschrittlichen Traditionen Äthiopiens, sondern ist bis heute im Bewusstsein vieler ÄthiopierInnen lebendig.

Unabhängigkeit und nachkoloniale Konfliktlinien

Während die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die Unabhängigkeit Äthiopiens anerkannten, behielten sich die imperialistischen Staaten die Entscheidung über das weitere Schicksal Eritreas (Vereinigung mit Äthiopien versus Eigenständigkeit) aufgrund ihrer diesbezüglichen Interessensgegensätze zunächst vor. In diesem Zusammenhang verstieg sich selbst Italiens damaliger Premier De Gaspari 1947 zur „Hoffnung Italiens“ unter neuen Vorzeichen „die Sache der Kolonialisierung fortzusetzen“ und die kolonialen Völker des faschistischen „Italienisch-Somali“ (Eritrea, Libyen und Somalia) „auf den Weg des Fortschritts … zu führen“. Immerhin habe man aufgrund umfangreicher Kapitalinvestitionen ja auch ‚gerechtfertigte Ansprüche‘ anzumelden, so De Gaspari sinngemäß weiter. Nicht zuletzt in Eritrea, an dessen Nordküste Italien 1889/90 seine erste Kolonie errichtete. Die Alliierten überließendie Entscheidung dann aber der UNO, die den Kompromissbeschluss fasste, demzufolge Eritrea mit Äthiopien zu einer Föderation vereint wurde mit garantierten Autonomierechten, einem Regionalparlament und einer Verwaltung, die die inneren Angelegenheiten selbständig regelt. Gleichzeitig mit der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität trat zugleich Kaiser Haile Selassie wieder an die Staatsspitze. Unter diesen feudalabsolutistischen Vorzeichen war im Grunde zugleich präjudiziert, dass keines der brennenden sozialen, politischen und nationalen Probleme des Landes seine Lösung finden wird.

Historisch jung, aber dynamisch – die sich herausbildende Arbeiterklasse Äthiopiens

Und in der Tat spitzten sich im weiteren Fortgang die Widersprüche in Äthiopien zunehmend zu. Zum Zeitpunkt der feudalabsolutistischen Macht- und Hegemoniekrise Anfang der 1970er Jahre lebten 89% der Bevölkerung noch auf dem Land. 86% der Werktätigen Äthiopiens waren in der Landwirtschaft tätig. Die sich im Wesentlichen erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildende Arbeiterklasse war erst schwach bzw. in ersten Ansätzen entwickelt. Und in ihrer sozialen Formierung noch sehr jung: ihr größter Teil bestand aus Zuwanderern vom Lande, die zugleich in der ersten Generation Lohnarbeitende waren. 1970 machten die etwa 620.000 LohnarbeiterInnen bloß 6% – 7% der Werktätigen aus. Davon arbeiteten wiederum rund 370.000 Lohnabhängige in den Städten, rund 250.000 auf dem Land (auf dem ihr Anteil an der ökonomische aktiven Bevölkerung ledigliche 2,9% betrug). Ein beträchtlicher Teil der städtischen Lohnabhängigen wiederum war noch nicht in der materiellen Produktion, sondern – neben Handel und (mit dem modernen tertiären Sektor nur partiell vergleichbaren) Dienstleistungen – in persönlichen Diensten der herrschenden und besitzenden Klassen und Schichten tätig (Hausangestellte, Diener, Chauffeure, Wächter usw.). Der Kern der erst in Formierung begriffenen modernen Industriearbeiterschaft, fand sich vorrangig in internationalen Betrieben. Neben Betrieben der Schwerindustrie (allem voran der Erdölbranche) sind diesbezüglich auch die Energiewirtschaft, die Lebensmittel- und die Textilindustrie zu nennen (die in der Hand japanischen, indischen und italienischen Kapitals den zugleich überhaupt höchsten Konzentrationsgrad aufwies). Auf dem Land lag der Schwerpunkt der Lohnarbeit vor allem auf den Kaffee-, Zuckerrohr- und Baumwollplantagen, sowie auf den landwirtschaftlichen Großgütern.  Zahlreiche LandarbeiterInnen waren zugleich saisonale WanderarbeiterInnen. Die Wanderarbeit – sei sie vorrangig binnenwirtschaftlich wie seinerzeit in Äthiopien oder heute in China (aber auch Ländern wie etwa Indien), oder sei sie Migrationsarbeit wie in vielen ölreichen Ländern des Nahen Ostens aber auch asiatischen Staaten oder in hochentwickelten Gefilden – ist übrigens keine ledigliche Reminiszenz, sondern in vielen Schwellenländern noch heute eine dominante Form von millionenfachem Gewicht.

Die Entwicklung der ersten Gewerkschaften

Gleichzeitig entwickelten sich jedoch, gemessen am äthiopischen Entwicklungsniveau, schon relativ frühzeitig die ersten Gewerkschaften. Die erste war, wie in vielen Ländern Afrikas, so auch in Äthiopien die Eisenbahnergewerkschaft, die sich bereits 1946 bildete und 1947 auch den ersten großen Streik des Landes führte. Auch 1949 und 1954 zogen sie in harte Arbeitskämpfe. 1964 legten die Eisenbahner Äthiopiens in einem siegreichen Streik dann überhaupt für drei Monate den Betrieb lahm und setzten eine Gehaltserhöhung von 25 – 40% durch. Parallel kam es in den 1960er Jahren darüber hinaus auch zu bedeutenden Arbeitskämpfen und Streiks in der Textil- und Zuckerindustrie sowie im Flug- und Busverkehr oder auch bei den Druckern.

Dass die Gewerkschaftsbewegung in Afrika ihren Ausgang vielfach im Transportwesen und allem voran im Eisenbahnwesen nahmen, ist freilich kein Zufall, sondern Ausdruck der kolonialen Verhältnisse. Die hauptsächlichen Güter der kolonialen Ausbeutung stellten vor allem agrarische Produkte und mineralische Rohstoffe. Der alles dominierende Fokus lag entsprechend auf deren Ausbeutung und Export, dem alle übrigen Zweige der kolonialen Wirtschaft untergeordnet waren. Dies bedingt jedoch (neben der Minenarbeit, die gleichfalls einen oftmaligen Ausgangspunkt der gewerkschaftlichen Organisierung bildete) den Bau entsprechender Eisenbahnverbindungen und Häfen, wie auch die Errichtung entsprechender energiewirtschaftlicher Versorgungen im Umfeld der extraktiven Industrie.

Zwar enthielt die 1955 überarbeitete Verfassung das Koalitionsrecht für Beschäftigte, und unterzeichnete Kaiser Haile Selassie dieses 1962, aber realiter musste die gewerkschaftliche Organisierung überwiegend halblegal oder illegal von statten gehen. Dazu kam, dass es im äthiopischen Kaiserreich keine Parteien gab. Mit der reformierten Verfassung von 1955 ging rein formal auch der neue Status einer konstitutionellen Monarchie einher, Parteien waren allerdings nach wie vor nicht zugelassen.Das sogenannte erste „frei“ gewählte Parlament 1957 setzte sich folglich beinahe ausschließlich aus Feudalherren und kaiserlichen Beamten zusammen, die Mitglieder des Senats, der zweiten Kammer, wurden gleich überhaupt von Haile Selassie als Kaiser nominiert. Ein Umstand der später auch eine der Besonderheiten des antifeudalen und in Angriff genommenen volksdemokratischen Umwälzungsprozesses markiert.

Der Vollständigkeit halber sei allerdings noch angeführt, dass das heute eigenständige Eritrea, nach seinem Schicksal als zunächst italienische Kolonie (ab 1889/90) und danach britisches Protektorat (ab 1941) im Anschluss 1952 mit Äthiopien föderiert, aufgrund seiner ökonomisch und sozialen stärkeren Entwicklung bereits in den 1940er Jahren eine beachtliche Arbeiterklasse und Gewerkschaften ausgebildet hatte. So begann der Eisenbahnbau in Eritrea denn auch bereits 1897 und setzte auch die Landarbeit auf Plantagen schon zu einem viel früheren Zeitpunkt ein.

Der Eritrea-Konflikt

Nachdem die feudalabsolutistische Zentralgewalt unter Kaiser Haile Selassie die Autonomie und föderalen Rechte Eritreas immer weiter aushöhlte bzw. abschaffte und Eritrea 1962 per kaiserlichem Dekret vollständig als bloße 14. Provinz dem äthiopischen Staat und seiner Zentralgewalt eingliederte, entspann sich daraus ein 30jährigen Bürgerkrieg. Schon bald nach Vereinigung zur Föderation wurden seitens Addis Abeba die bürgerlichen Freiheiten allmählich beseitigt, die politischen Parteien der Region unterdrückt und verboten, oppositionelle PolitikerInnen verhaftet oder ins Exil getrieben, der freien Presse zu Leibe gerückt und die Gewerkschaften unterdrückt und schließlich aufgelöst. Industrieanlagen wurden ins äthiopische Kernland verlegt und eine von einer steten Verschlechterung der sozialen Lage in Eritrea begleiteten Wirtschaftspolitik in Gang gesetzt. Begleitet von einer Politik der Amharisierung (als Amtssprache wurde jetzt Amharisch eingeführt, ebenso wurden die Ämterbesetzungen amharisiert etc.) entfalteten sich immer stärkere Proteste und Widerstände. Nach Massenprotesten und Generalstreiks wurden schlussendlich die eritreische Autonomieregierung durch eine Verwaltung ersetzt. Gestützt auf den Schutzschirm der USA (die nicht nur der größte Kreditgeber des Kaiserreichs war, sondern auch eine Militärmission in Äthiopien sowie wichtige Stützpunkte unterhielt und durch eine Reihe von Verträgen und ökonomischen Konzessionen zur dominierenden Macht in Äthiopien wurde, wenngleich sich die Außenpolitik Addis Abebas insgesamt durch ein geschicktes Lavieren Haile Selassies auszeichnete und eine bedeutende Rolle in der Bewegung der Nichtpaktgebundenen Staaten und der Gründung der OAU einnahm) wurde die Föderation von Haile Selassie schlussendlich aufgelöst und Eritrea ohne Punkt und Beistrich in den äthiopischen Staatsverband eingegliedert. Der daraus entstandene Bürgerkrieg wurde von den kaiserlichen Truppen mit ungeheurer Brutalität geführt und legte einen jahrzehntelangen Konfliktherd, in den sich neben zunächst arabischen Staaten gegen die spätere volksdemokratischen Regierung Mengistu Haile Mariams dann zunehmend auch die imperialistischen Staaten aktiv einmengten.

Volkserhebung und Sturz des Kaisers

Am Vorabend des Sturzes des verknöcherten und anachronistischen – sich zugleich im Übergang von einer feudalabsolutistischen zu einer damit teils verflochtenen, teils eigenständig formierenden kapitalistischen Wirtschaft befindlichen – Regimes Kaiser Haile Selassies, kam es aufgrund der sich immer weiter verschärfenden inneren Widersprüche und tiefen Krisenprozesse in zahlreichen Provinzen zunehmend zu Bauernunruhen und -revolten. In den Städten wiederum loderte es vor Zusammenstöße zwischen Studenten und der Polizei. Anfang 1974 brach die schon lange schwelende Krise dann offen aus. Im Februar 1974 setzten zunächst Teilstreiks für höhere Löhne und gegen Preissteigerungen sowie Demonstrationen gegen die Regierung und das Regime ein. An der Spitze standen zunächst die Beschäftigten im Verkehrssektor (Taxi- und Busfahrer sowie die Beschäftigten der Transportunternehmen) und Bildungsbereich (Lehrer, unterstützt von Studenten und Wissenschaftlern). Zusammenstöße mit der Polizei forderten erste Tote. Vor diesem Hintergrund begannen, angeführt von jüngeren Offizieren, ganze Armee-Einheiten (unter denen es ebenfalls gärte) zu rebellieren. Unter dem Druck der Gewerkschaftsmitglieder trat am 3. März nun auch die Gewerkschaftsführung des äthiopischen Dachverbands mit einem 16-Punkte-Forderungsprogramm hervor. Die Auseinandersetzungen gipfelten von 7. – 11. März schließlich in einem Generalstreik, an dem sich über 100.000 Werktätige beteiligten und der seinerseits wiederum als weiterer Katalysator wirkte.

Die Forderungen beschränkten sich in der nunmehrigen Volksbewegung immer weniger auf rein ökonomische, sondern zielten immer nachdrücklicher auf eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganzes ab. Denn es reifte die Einsicht, dass sich die Grundprobleme der Massen und des Landes nicht auf feudalem und kapitalistisch-bürokratischem Entwicklungsweg lösen ließen. Damit stand eine grundlegende, gesellschaftliche und politische auf der Tagesordnung, der sowohl ihre objektiven wie subjektiven Entsprechungen korrespondierten. Zunehmend mehr Armee-Einheiten solidarisierten sich vor diesem Hintergrund denn auch ihrerseits mit den Massen und warfen begleitend Flugblätter aus Armee-Hubschraubern ab. Parallel erhielt zugleich die Forderung nach einer umfassenden antifeudalen Agrarreform zunehmenden Auftrieb – befand sich der absolute Löwenanteil des Grund und Bodens ungebrochen als Kronland in den Händen des Kaisers, oder im weitgehenden Besitz einer kleinen, keine Tausend zählenden Feudalherren, sowie im Eigentum der Kirche. Dahingegen mussten nicht wenige Bauern und Bäuerinnen mit einem Hektar bearbeitbarem Land ihr Auslangen finden. Viele Bauern und Bäuerinnen verblieb von ihren Erträgen gerade noch „genug“ um an der Grenze zur Hungersnot dahin zu vegetierten. Für viele reichten die Vorräte nicht bis zur nächsten Ernte und die Wucherer und ihre Zinsen für Darlehen waren gnadenlos, brachten große Kreise der bäuerlichen Bevölkerung in zusätzliche Abhängigkeit und beschleunigten ihren Ruin.  Die auch die Folgemonate anhaltende Massenbewegung forderte neben sozialen Verbesserungen immer eindringlicher auch tiefgreifende demokratischen Umgestaltungen. Ab Sommer bildete sich ein rebellierendes „Koordinierungskomitee der Streitkräfte“, das sich aus Delegierten der verschiedenen Einheiten zusammensetzte. Im September erzwangen die Volksmassen Äthiopiens und junge linksdemokratische bis sozialistisch gesinnte Offiziere schließlich den Sturz des Kaisers und leiteten einen Umwälzungsprozess ein, der sich in seinen Zielstellungen im Anschluss weiter radikalisierte. Da es aus erwähnten Gründen zu diesem Zeitpunkt noch keine Parteien gab, verlief der Umwälzungsprozess zunächst unter Führung des „Koordinierungskomitees“, das sich nach dem Sturz Haile Selassies und seiner Machtübernahme in „Provisorischer Militärischer Verwaltungsrat“ (PMVR; vielfach auch unter PMAC firmierend: Provisional Military Administrative Council) umbenannte und von nun an die Geschicke führte. Die Gründung der Kommission zur Organisation der Partei der Werktätigen Äthiopiens (COPWE, Commission for Organizing the Party of the Working People of Ethiopia)) fand aufgrund mehrerlei Ursachen erst im Dezember 1979 statt. Der I. Kongress, auf dem dann auch das erste Zentralkomitee gewählt wurde, tagte darauf im Sommer, genauer: Juni, 1980 und gilt als eigentliches Gründungsdatum der äthiopischen KP.

Von der historischen Zäsur 1989/91 bis heute

Vor dem Hintergrund der späteren weltpolitischen Zäsur 1989/1991, die im Jahr 1991 auch zum Sturz von Mengistu Haile Mariamsund der neuen Präsidentschaft von Meles Zenawi führte, verkündete dieser parallel zu Francis Fukuyamas ausgerufenem „Ende der Geschichte“: „Die Unterernährung wird enden, der Hunger wird enden, die Konflikte mit Nachbarländern werden enden, und die Konflikte innerhalb des Landes werden enden.“ 1993 erfolgte in beiderseitigem Einvernehmen die Abspaltung und Unabhängigkeit Eritreas.

Wenig später (nach ersten, bereits 1997 ihre Schatten vorauswerfenden Anzeichen), brach daraufhin 1998 allerdings ein blutiger Grenzkrieg zwischen den beiden Kontrahenten aus, der bis 2018 währte. So folgte knapp auf den 30jährigen Bürgerkrieg (zunächst gegen die von den USA unterstützte kaiserliche Zentralgewalt unter Haile Selassie, dann gegen die von der UdSSR unterstütze rote Regierung Mengistu Haile Mariams) ein nun 20jähriger Krieg zwischen den Zentralregierungen in Addis Abeba und in Asmara. Dieser konnte unter dem neuen Premier Äthiopiens, Abiy Ahmed Ali, schließlich im Sommer bzw. Herbst 2018 mit einem Friedensschluss beigelegt werden. Mit dem Einlenken Äthiopiens über den Grenzverlauf näherten sich die lange verfeindeten Nachbarstaaten am Horn von Afrika – die aus dem gemeinsamen Kampf resp. Krieg gegen die nationaldemokratische, pro-sowjetische PMAC bzw. COPWE-Regierung zugleich auf eine gewisse Weise unausdrücklich immer auch befreundet waren – , wieder schnell an. Heute stehen beide Zentralregierungen gemeinsam im Kampf gegen die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) und die gerade aus der Taufe gehobene und in Washington vorgestellte „Vereinigte Front föderaler und konföderaler Kräfte“. Eine Eskalation die das geschundene Land an den Rand eines „Failed State“ führt und zugleich das Zeug hat, die Region in Brand zu setzen.

Der nach Unzufriedenheit der Massen, großen Protesten im Frühjahr 2018 und zunehmenden Streiks (allem voran gegen die Hungerlöhne im Land; die Löhne für ungelernte Arbeitende in der Textilindustrie beispielsweise sind die niedrigsten der Welt) etwas überraschend als Wahlsieger hervorgegangene neue Amtsinhaber Abiy Ahmed galt schon zuvor als Hoffnungsträger der Medien und gewann mit dem Friedensschluss mit Eritrea nochmals an Prestige. 2019 wurde er gar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Innenpolitisch verband er mit seiner Präsidentschaft den Bruch der autoritären Politik seiner Vorgänger, einen Reformprozess und die Gewährung bürgerlich-demokratischer Rechte, sowie einer liberalen Wirtschaftspolitik, neoliberalen Strukturreformen und einer forcierten Öffnung des Landes für das internationale Kapital. Gleichzeitig besetzte er eine ganze Reihe hoher Regierungsfunktionen mit Frauen, was von vielen Äthiopierinnen als Zeichen für einen bevorstehenden Schub ihrer Emanzipation gewertet wurde.

Da Abiy Ahmed der erste Präsident aus dem Volk der Oromo ist, verknüpften viele mit seiner Präsidentschaft auch die Hoffnung auf ein Ende der tiefen ethnischen Spaltung des Landes. Die Oromo stellen zwar mit rund 34% der Bevölkerung die größte Ethnie Äthiopiens dar, unterlagen aber jahrzehntelang der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ausgrenzung und Unterdrückung. Wie die meisten afrikanischen Staaten setzt sich die rund 115 Millionen starke Bevölkerung des Vielvölkerstaats Äthiopiens aus mehreren Völkerschaften und ethnischen Gruppen, konkret: über 90 Ethnien zusammen. Ihnen gegenüber waren über das kaiserliche Herrscherhaus traditionell jedoch die Amharen (mit einem Bevölkerungsanteil von heute etwa 27%) der am meisten privilegierte Teil der Bevölkerung und stellte historisch auch die Mehrheit im politischen System, in der Armee, unter den Beamten und unter den Großgrundbesitzern etc. Entsprechend waren und sind die sozialen und politischen Widersprüche am Horn Afrikas auch vielfach eng mit der nationalen Frage verbunden. Und diese wiederum eng mit religiösen Diskriminierungen. Verwiesen sei nur auf die Rolle der Koptischen Staatskirche im System der feudalmonarchistischen Macht Haile Selassies. Die knapp drei Jahrzehnte von 1991 bis 2018 wiederum standen dann im Zeichen und auch Klientelismus der tigrayischen Regierungspartei TPLF, obgleich die Tigrayer nur etwa 6% der Bevölkerung stellen. Abiy Ahmed wiederum tat seit seiner Amtsübernahme alles, um die TPLF-Führer aus den Machtzentren des Vielvölkerstaats zu verdrängen, sie im Staatsapparat zu entmachten und auf ihren Einfluss auf ihre Heimatprovinz zu reduzieren. Gleichzeitig optierte er als diese ihn den Fehdehandschuh hinwarfen, für eine militärische Lösung. Dieses komplizierte Geflecht an Widersprüchen hier in Gänze nachzuzeichnen, ist vorliegend nicht der Ort. Die wenigen Hinweise mögen aber die Vielschichtigkeit der Lage in den Blick rücken.

Die zurückliegende wie jüngste Geschichte des Landes zeigt jedenfalls eindrücklich, wie eng die soziale, demokratische und nationale Frage in Äthiopien verknüpft sind. Grundlegende Lösungskonzepte in diesem blutigen Bürgerkrieg sind indes von keiner Seite in Sicht. Dazu gesellen sich zudem Einflussnahmen der Nachtbarstaaten, Regionalmächte, regionale Problemkombinationen und insbesondere die geopolitischen Einflussnahmen des Imperialismus, die den Krieg in, resp. um Äthiopien weiter eskalieren und anfachen. Interessierte Kreise stellen des längeren auch bereits eine mögliche „humanitäre Intervention“ in den Raum. Parallel explodieren Elend und Leid, und bricht sich eine Hungersnot Bahn. Die Linke im Land ist marginalisiert. Und die einst mächtige, multiethnische Konföderation Äthiopischer Gewerkschaften (CETU, Confederation of EthiopianTrade Unions) vertritt heute rund 570.000 ArbeiterInnen. Angesichts einer Bevölkerung von 115 Millionen, ist das Gewicht das sie für einen progressiven Ausweg in die Waagschale werfen könnte, ebenfalls marginal. Ja, wenn die ArbeiterInnenbewegung fehlt…

Bild: Geflüchtete in der Region Tigray, Yan Boechat, VOA, gemeinfrei

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