Äthiopien: Marx in Addis Abeba

Am Vortag des 10. Jahrestags des revolutionären Sturzes des Kaisers Haile Selassie (12. September 1974), wurde am 11. September 1984 in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba das – von Jo Jastram gestaltete – erste Marx-Denkmal auf afrikanischen Boden feierlich eingeweiht.

Gleichzeitig erschien am selben Tag eine Festausgabe des I. Bands des „Kapitals“ auf Amharisch und markierte damit die erstmalige Übersetzung des Marx’schen Hauptwerks in eine afrikanische Sprache. Schon davor gab es freilich Übersetzungen anderer Schriften ins Amharische und Oromo. Das „Kapital“ selbst fand in Äthiopien zuvor jedoch vor allem auf Englisch Eingang.

Wie immer man das nationaldemokratische, pro-sowjetische PMAC bzw. COPWE-Äthiopien des Näheren und im Detail auch einschätzen mag, das ist nicht Zielstellung des vorliegenden Beitrags, stand es Zeit seiner Existenz in bewaffneten Konflikten: allen voran mit Eritrea und der Volksbefreiungsfront von Tigray. Für den Nachschub der teils erbitterten, an Intensität und Vorankommen wechselnden, Auseinandersetzungen mit Addis Abeba sorgten nicht zuletzt eine Reihe arabischer Staaten im Bunde mit dem Imperialismus.

Im Mai 1991 nahmen die sich 1988 resp. 1989 zur „Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker“ (EPRDF) zusammengeschlossenen Kräfte unter Führung der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPFL) schließlich (mit US-Initiativen im Rücken) Addis Abeba ein. Die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) stellte danach bis 2018 hindurch rund 27 Jahre oder knapp 3 Jahrzehnte den Premierminister Äthiopiens und schwenkte das Land auf einen mehr marktwirtschaftlichen Kurs, frönte einem Klientilismus und verpasste dem Land 1994 eine neue Verfassung.

Zwar nicht Vasall der USA pflegte die TPLF gleichzeitig enge Beziehungen nach Washington: allem voran zu den Demokraten-Präsidenten Bill Clinton und Barak Obama, sekundierte aber auch George W. Busch und seiner „Koalition der Willigen“ im Irakkrieg 2003.

Unter Ausblendung ihrer Geschichte, Wandlungen und Paradigmen-Wechsel wird die 1975 gegründete Tigrinische Volksbefreiungsfront (TPFL) in vielen Kommentaren bis heute als eine „durch die Gedanken von Enver Hoxha“ inspirierte und einer „Kalaschnikow-Romantik“ verpflichtete Bewegung, die sich im Zuge der Zeit „sozialdemokratisiert“ und „korrumpiert“ habe, oder (noch weiter hergeholt) als „marxistisch-leninistisch“ in sozusagen ‚nicht-hoxhaistisch/maoistischen‘ Tradition rubriziert. Letzteres speist sich wohl auf irgendeine Art und Weise aus der mit ihr verschmolzenen und bisweilen ihren Kern gebildet habenden „Marxistisch-Leninistische Liga von Tigray“ (MLLT). Wie dem auch immer. Spätestens mit dem Zusammenbruch Albaniens unter Ramiz Alia mottete die TPFL auch öffentlich ihre ML-Bezüge jedweder Couleurs oder auch einstigen Bezug auf Enver Hoxha ein und korrigierte ihre Ansichten.

Dass der bis zu seinem etwas überraschenden Wahlsieg 2018 von den Medien protegierte und 2019 gar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Hoffnungsträger der Massenmedien Abiy Ahmed, abgesehen von seinen neoliberalen Strukturreformen und der forcierten Öffnung des Landes für das internationale Kapital, den herbeifabulierten Anbruch einer „neuen Epoche“ enttäuschteund sich als brachialer „Kriegspräsident“ erwies, steht auf einem anderen Blatt. Nur ist das kein Grund zur politischen Verklärung der TPLF (oder in folgerichtiger Konsequenz nun ihres gerade freigelassenen Gründungsmitglieds und Anführers bis 1989 Sebhat Nega). Zumal diese kurz vor Verkündung ihres Rückzugs Ende Dezember 2021 (freilich nicht zuletzt aufgrund des schmutzigen Drohnenkriegs Addis Abebas mit Hightech-Drohnen aus der Türkei und Israel, jüngst auch auf ein Flüchtlingscamp) Anfang November noch demonstrativ in Washington ein neues Rebellenbündnis acht bewaffneter Gruppierungen aus der Taufe gehoben hat und mit ihren Verbündeten symbolträchtig inmitten der US-Hauptstadt zum Sturz der äthiopischen Regierung aufrief und feierlich ihr Programm einer TPLF-geführten „Übergangsregierung“ präsentierte.

Während nicht wenige, auch linke, Kommentare kaum nachvollziehbar sind – und taxfrei der abgewirtschafteten und 2018 nicht zuletzt durch den immer breiteren Unmut der Bevölkerung, soziale Massenproteste sowie zunehmenden Streiks vom Sockel gestürzten, verklärten TPLF das Wort reden –, hat der auch von außen kräftig am Leben gehaltene Konflikt das Land in eine unermessliche humanitäre Katastrophe geführt, explodieren Elend und Leid, und bricht sich eine Hungersnot Bahn. Die Linke im Land ist marginalisiert. Und die einst mächtige, multiethnische Konföderation Äthiopischer Gewerkschaften (CETU, Confederation of EthiopianTrade Unions) vertritt heute nur mehr rund 570.000 ArbeiterInnen. Angesichts einer Bevölkerung von 115 Millionen, ist das Gewicht das sie für einen progressiven Ausweg in die Waagschale werfen könnte, ebenfalls marginal. Das alles zumal noch vor dem Hintergrund einer nach wie vor nicht ausgeräumten möglichen Weichenstellung am Horn von Afrika, die zugleich das Zeug hat, darüber hinaus einen weiteren Teil der Welt langfristig zu destabilisieren.

Einzig die erste Marx Statue auf afrikanischen Boden steht immer noch und verkörpert einen matten Vorschein auf eine emanzipatorische Zukunft.

(Zur ausführlicheren modernen Geschichte Äthiopiens und Geschichte der Gewerkschaftsbewegung am Horn von Afrika siehe: Wenn die ArbeiterInnenbewegung fehlt)

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