85. Jahrestag des Massakers von Dersim

Im kollektiven Gedächtnis der westeuropäischen Linken nie so richtig Wurzeln geschlagen, entfachte die Türkei 1937/38 ein schreckliches, zehntausende Opfer fordernde Massaker an den AlevitInnen und KurdInnen Dersims. Unter der noch immer geltenden Staatsdoktrin „ein Staat, eine Nation, eine Sprache, eine Religion“ begann dieses am 4. Mai 1937.

Gegen die mit der Gründung Türkischen Republik 1923 und ihrem Integrationsnationalismus einsetzende Zwangsassimilation der Bevölkerung durch das kemalistische Regime in Ankara regte sich bald Widerstand. In Atatürks kemalistischen Staatsdogma: Die Türkei oder türkische Nation bestehe aus einem einzigen homogenen Volk und ausschließlich aus diesem, war für nationale Minoritäten und Andersgläubige kein Platz. Außer: Zwangsassimilierung, Unterdrückung, Ausschluss, Massendeportationen und/oder Vernichtung. Der so definierte „Türke“ „ist der einzige Herr dieses Landes“; „Wer nicht rein türkischer Herkunft ist, hat hier nur ein einziges Recht, das Recht, Sklave zu sein“, verkündete der türkische Justizminister Mahmut Esat Bozkurt 1930 entsprechend.

Ein besonderes „Krebsgeschwür“ stellte in den Augen von Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk dabei insbesondere die Bergregion Dersim dar. Die unzugänglichen Berghöhen Dersims an der nordwestlichen Außengrenze des kurdischen Siedlungsgebiets, die sich schon im Osmanischen Reich ihre Autonomie bewahren konnten, galten Mitte der 1930er Jahre als „letzte freie Burg“ der Kurden wie auch des Alevitentums. 1936 wurde schließlich der Belagerungszustand über Dersim verhängt. Die türkische Regierung und Militärgouverneur General Alp Dogan forderten daraufhin die bedingungslose Kapitulation der Siedlungsgebiete vor der kemalistischen Turkifizierung. Atatürk ordnete schließlich die „Vernichtung dieses Krebsgeschwürs an“, wie er sich ausdrückte.

So fanden denn auch sowohl der aktive Widerstand und Volkswiderstand unter Führung des angesehenen alevitischen Geistlichen Seyîd Riza gegen die kemalisitische Turkifizierungspolitik wie zugleich auch die staatlichen Massaker an den AlevitInnen und Kurden in Dersim 1937/38 ihren vorläufigen Höhepunkt. Mit 4. Mai 1937 begannen das Wüten und die Massaker der türkischen Regierung gegen die Bergregion mit ihren althergebrachten Autonomierechten, deren BewohnerInnen sich durch ihren humanistisch geprägten alevitischen Glauben und den dort gesprochenen kurdischen Zaza-Dialektik von anderen Regionen unterschieden. Selbst noch der Name „Dersim“ wurde seitens der Regierung gestrichen und durch das türkischsprachige „Tunceli“ ersetzt.

Die brutale, unbarmherzige Militäroffensive des Atatürk/Inönü-Regimes gegen die bäuerlichen Rebellen und Bevölkerung durch Luftbombardements und zu Boden, flankiert durch aus Deutschland geliefertem Giftgas, Exekutionen und Verbrennungen der BewohnerInnen bei lebendigem Leibe (der dazu vielfach in Scheunen zusammengetrieben DersimerInnen), sowie begleitet von stetigen Vergewaltigungen der Frauen und Mädchen, tobte bis Herbst 1938. Dass bei diesem Blutbad auch extra von Nazi-Deutschland geordertes Giftgas massenhaft zum Einsatz kam, sorgte – nachdem das geheime Dekret zur Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe mit der Unterschrift Atatürks medial einer breiteren Öffentlichkeit dokumentiert wurde – erst spät für ein gewisses Rauschen in der Zeitungs- und Fernsehlandschaft unserer Tage.

Rund 70.000 AlevitInnen resp. KurdInnen Dersims fielen dem Massaker zum Opfer. Über 100.000 DersimerInnen wurden in andere Landesteile deportiert. Seyîd Riza selbst wurde bereits im November 1937 verhaftet und in Elazig hingerichtet. Ein Dutzend weitere Anführer des Widerstands, darunter die Parlamentsabgeordneten Said Abd el-Kader und Hassan Khairi, wurden am Galgen gehenkt. Die Region vorübergehend in einer Friedhofsruhe erstickt – bis sie sich seit den 1970er Jahren erneut zu einem Kulminationspunkt und einer neuen Hochburg des Kampfes und Ringens um Anerkennung und Selbstbestimmung entwickelte.

Bild: Public Domain

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