24. April – Der Genozid an den Armeniern 1915/16 (II)

Im 1. Teil des Beitrags spannten wir den Bogen von der Pogromen 1894 – 1896, über den türkischen Genozid an den ArmenierInnen 1915/16, die indirekte wie direkte Mitschuld und Verstrickung der imperialistischen Großmächte, bis zu den sog. Unionistenprozessen, dem Beschluss der Daschnak das Recht selbst in die Hand zu nehmen und der beginnenden Kehrtwende unter Kemal Atatürk. Im 2. Teil gehen wir der weiteren Geschichte des Völkermords an den Armenieren nach.

Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs gestanden zunächst selbst hochrangige Repräsentanten am Bosporus das Ausmaß des Verbrechens noch deutlich ein. Gleichzeitig verblaste im Fortgang der innenpolitischen und internationalen Ereignisse jedoch zunehmend das Interesse und die Bereitschaft der weiteren Aufarbeitung sowie der Strafverfolgung und die Frage der Verstrickung wie Mitschuld der neue Führungsriege der CUP unter Kemal Atatürk zusehends. Dahingehend kam den neuen politischen Führern der Türkei in einer besonderen Ironie der Geschichte wie gesagt auch die Attentate der geheimen Kommandos der armenische Daschnak-Partei, die die Vollstreckung der Istanbuler Urteile in den Schlupfwinkeln der Hauptschuldigen selbst in die Hand nahm, entgegen, dass sie die belastende Erinnerungen an die jeweiligen Verflechtungen mit den jungtürkischen Hauptverantwortlichen des Genozids an den ArmenierInnen bis zu einem gewissen Grad mitbeseitigt.

Bereits im Laufe des Jahres 1919 wurde jegliche weitere Strafverfolgung der Völkermörder eingestellt und die Verurteilten später gar amnestiert. Die Hingerichteten galten fortan sogar mehr und mehr als Helden. Zwei der 1920 für ihre Gräueltaten zum Tode durch den Strang Verurteilten wurden vom kemalistischen Parlament schon wenig später zu „nationalen Märtyrern“ erklärt und Talat, Enver, Sakir und Cemal die Anerkennung ihrer „Verdienste um die Nation“ ausgesprochen. Entsprechend sind für die Haupttäter im Anschluss über die ganze Türkei hinweg Denkmäler errichtet worden, Boulevards, Straßen und Schulen nach ihnen benannt worden

Ja, die sterblichen Überreste Talats wurden wie erörtert später in Hitlers Einvernehmen vom Nazi-Faschismus unter militärischer Ehrenbezeugung, in einem zeremoniell mit Hakenkreuzfahnen behängten Panzerzug, nach Istanbul überführt und feierlich beigesetzt. Ein Ort, der bis in die heutigen Tage einen Pilgerweg für türkische Nationalisten markiert. 1996 wiederholte sich analoges mit dem Sarg Envers aus Tadschikistan.

Parallel erhob die Türkei die Leugnung des Genozids an den ArmenierInnen zur Staatsdoktrin und stellte die Wahrheit über den Völkermord als „Verbrechen gegen das Türkentum“ (heute sprachlich in „Beleidigung des Türktums“ umformuliert, ohne etwas am Sachgehalt zu ändern) unter Strafe.

Ein kurzer Schwenk auf Österreich

In Österreich wurde mit der längst überfälligen politischen Anerkennung und Verurteilung durch die „Gemeinsame Erklärung“ der österreichischen Parlamentsparteien 2015 auf die gemeinsame Initiative des Bündniszusammenschlusses „March for Justice“ dagegen ein erster förmlicher Schritt getan. Allerdings erst ein erster. Dessen nähere Bedeutung bemisst sich an den daraus folgenden Konsequenzen. Die gleichzeitig geforderte historische Aufarbeitung betrifft denn auch die Mitschuld und Verstrickung Österreichs, welche sich mitnichten auf die bloße Verbündetheit der österreich-ungarischen Monarchie mit dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg beschränkt. Zahlreiche verbündete Generäle, Offiziere und Soldaten beteiligten sich in den Reihen der osmanischen Armee persönlich an den Massakern oder wirkten mit der „Spezialorganisation“ der CUP zusammen. Durch seinen höchstrangigen österreichischen Offizier, k. u. k. Feldmarschalleutnant und Militärbevollmächtigten in der Türkei Joseph Pomiankowski sowie durch Berichte von Botschaften und Konsulaten, waren die Herrschenden im Land über den Völkermord genau unterrichtet. Der Presse wurde ein Maulkorb verpasst.

Franz Werfels „Vierzig Tage des Musa Dagh“

Wie anders dagegen die wenigen löblichen Ausnahmen, wie der Schriftsteller Franz Werfel, der dem Völkermord an den ArmenierInnen mit seinem historischen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ein literarisches Denkmal setzte. Den realhistorischen Hintergrund bildet eine der trotz präventiver Eliminierung der armenischen Kader, Honoratioren, Soldaten und Strukturen gleichviel zahlreichen Widerstandsaktionen: in diesem Fall jene von 5.000 ArmenierInnen an der syrischen Küste zu der sie sich geflüchtet haben und solange standhielten bis sie von der französischen Marine gerettet werden konnten. Und Werfel widmet in seinem Buch beiher auch Johann Lepsius die diesem unerschrockenen Ankläger des Genozids gebührende Anerkennung.

Die Staatsdoktrin der Türkei und der Artikel 301 des Strafgesetzbuches

Zeitgleich leugnet die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches den Genozid an den ArmenierInnen wie gesehen jedoch bis heute vehement. Die Opferzahlen werden relativiert und die Armenier selbst als Täter diffamiert. Der Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches („Beleidigung des Türkentums“) wiederum wird u.a. dazu verwendet, Kritik an dieser Position des türkischen Staates zu unterbinden, mundtot zu machen und zu bestrafen. Nur eine kleine, mutige Minderheit an HistorikerInnen, PublizistInnen und die Linke im Land erkennen den Genozid an.

Dabei hatten nach Ende des Ersten Weltkriegs wie eingangs erwähnt sogar einige hochrangige Repräsentanten des Landes das Ausmaß des Verbrechens noch deutlich eingestanden. Der zwischenzeitliche neue Innenminister der Regierung, der wenig später ein nationalistisch gesinnteres Kabinett folgte, etwa schrieb 1919 in aller Deutlichkeit: „Vor vier oder fünf Jahren wurde in diesem Land ein Verbrechen verübt, das in der Geschichte ohne Beispiel ist, ein Verbrechen das die Welt erschauern lässt. […] Es ist bereits eine bewiesene Tatsache, dass diese Tragödie durch die Entscheidung und Befehle des Zentralkomitees der Ittihadisten geplant wurde.“

Unter dem heutigen faschistische AKP/MHP-Regime in der Türkei und seiner erneuerten ideologischen militant-nationalistischen „türkisch-islamischen Synthese“ hat sich die Lage hinsichtlich der Anerkennung jedoch sogar noch weiter zugespitzt. Ursprünglich war das Resultat der Beitrittsgespräche mit der Türkei zur EU übrigens auch vom türkischen Eingeständnis des Genozids abhängig. Das entsprach seitens Brüssels freilich zugleich taktischen Kalkülen. Schon zur Jahrtausendwende, im Oktober 2001, wurde diese Forderung denn auch wieder gestrichen. Denn so wirklich von Bedeutung ist es „dem Westen“ gegenüber dem Wirtschafts-, Bündnis- und NATO-Partner in der ArmenierInnen-Frage sowie auch und anderweitig gelagerten Fragen des Staatsterrors, von Massakern, Kriegen, Pogromen und Suspendierungen der Menschenrechte dann auch wieder nicht. Allerdings betreffen diese nach der Ausmordung der ArmenierInnen in der Türkei bzw. deren Massenflucht in die Diaspora „mittlerweile hauptsächlich die Kurden“ – wie Michael Mann seine Studie zum Genozid am Bosporus schließt. Und auch diese Massaker, Repressionswellen und dreckigen Kriege wären ohne stillschweigender bis offener Kumpanei „des Westens“ nicht möglich.

Raphael Lemkin und der Begriff „Genozid“

Wenig bekannt, entwickelte der Völkerrechtlicher Raphael Lemkin den Begriff „Genozid“, eine Zusammenfügung des altgriechischen Begriffs genos (Volk oder Stamm) und des lateinischen caedere (töten), entgegen der staatsoffiziellen Leugnung des Völkermords am Bosporus beiher sogar im engsten Zusammenhang des Schicksals der ArmenierInnen im Osmanischen Reich – das ihm dafür Pate stand.

Allerdings brauchte es einen längeren Atem bis er den bis dahin als „Verbrechen ohne Namen“ bezeichneten Massenvernichtungen und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Zivilisation“ vor dem Hintergrund der NS-Gräuel, des Holocausts und des Vernichtungsprogramms der Nazis ihren bis heute definierenden Namen geben konnte und sein (Sammel-)Begriff für jene (nicht nur Tötungs-)Verbrechen, die darauf abzielen, eine ethnische Gruppe „als solche“ zu vernichten, Einzug fand.

Am 9. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen schließlich eine Konvention On the Prevention and Punishment oft the Crime of Genocide, die 1951 in Kraft trat und die bereits am 11. Dezember 1946 von der UN-Vollversammlung beschlossene Resolution über The Crime of Genocide nochmals völkerrechtlich umsetzte.

Vor diesem begrifflichen Hintergrund des Tatbestands des „Genozids“ aus dem Kontext des Völkermords an den Armeniern und dem nazistischen Völkermord an den europäischen Juden und dem rassistischen Vernichtungskrieg des deutschen Faschismus sowie seiner Begriffsbestimmung als Verbrechen, die darauf abzielen, eine ethnische Gruppe „als solche“ zu vernichten, kann man vor der heutigen inflationären, tagespolitisch-interessensgeleiteten Verwendung des Begriffs allerdings nur erschaudern und wird nicht umhin kommen sie als ungeheuerliche, geschichtsrevisionistische und völkerrechtsjuristische Verharmlosung und Instrumentalisierung zu brandmarken.

Warum?

Auf die Frage, warum die Türkei den Völkermord an den Armeniern auch nach über einem Jahrhundert so hartnäckig leugnet, antwortete der marxistisch orientierte britische Historiker Perry Anderson, ein intimer Kenner der türkischen Geschichte: „Die unerbittliche Weigerung des türkischen Staates, die Tatsache des Massenmordes an den Armeniern auf seinem Territorium anzuerkennen, ist … eine aktuelle Verteidigung der eigenen Legitimität. Denn der ersten großen ethnischen Säuberung, die Anatolien homogen muslimisch werden ließ, wenn auch noch nicht homogen türkisch, folgten kleinere Reinigungen des Staatskörpers, im Namen desselben integralen Nationalismus, und die dauern bis auf den heutigen Tag fort. Griechenpogrome 1955/1964; Annexion und Vertreibung der Zyprioten 1974; Ermordung von Aleviten 1978/1993; Unterdrückung der Kurden 1925 – heute‘“.

Oder nochmals in den resümierenden Worten Werner Röhrs: „Der Völkermord an den Armeniern war Gründungsmoment des gegenwärtigen türkischen Staates und hat mit diesem bis heute überdauert. Mit ihm wird auch seine ideologische Rechtfertigung reproduziert, nämlich jener türkische Integritätsnationalismus, der innerhalb der Nation keine inneren Differenzierungen anerkennen will, seien es ethnische, nationale oder religiöse. Minderheiten haben keine Reichte, weil es keine Minderheiten geben darf, ihre bloße Existenz gilt als ‚Beleidigung‘ der Integrität der türkischen Nation, die Einforderung ihrer Rechte als Straftatbestand.“

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