„Wollt ihr den großen Krieg?“ – Henry Kissinger sagt: Nein!

Der ehemalige US-Außenminister (1973-1977) und strategische geopolitische Kopf ersten Rangs Henry Kissinger lässt zum Ukraine-Krieg aktuell erneut aufhorchen und zeigt darin zugleich medial verkleisterte Alternativen zum totalen Krieg gegen Russland auf, mit denen sich begleitende auch gewisse feine Unterschiede in den Optionen des Kampfes um die Ukraine skizzieren lassen, die in der mit dem Holzhammer vorgetragenen allgemeinen Kriegshysterie und Kriegspropaganda kaum das Licht der medialen Welt erreichen.

Kissinger 2014: Die Dämonisierung Putins ist keine Politik

Schon kurz nachdem die EU (flankierend zur NATO-Osterweiterung) die Ukraine – die es bis dahin mit einem ausbalancierten Sowohl-als-Auch zwischen Ost und West hielt – 2013 unter der Brüsseler Devise Entweder-Oder in die Zerreißprobe jagte und von Washington in Angriff genommenen und dann orchestrierten „Maidan“-Putsches 2014, meinte Kissinger kritisch: „Viel zu oft wird die ukrainische Frage als Showdown dargestellt: ob sich die Ukraine dem Osten oder dem Westen anschließt. Doch wenn die Ukraine überleben und prosperieren soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.“

Ähnlich sieht in dieser Zäsur heute auch der seinerzeitige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen eine verheerende Weichenstellung im Ukraine-Konflikt, die es als schrecklichen „Fehler“ der EU „aufzuarbeiten“ gilt – wie er selbstkritisch unterstreicht, und wirft die aufzuarbeitende Frage auf: „wer oder was hat die EU dazu getrieben, sich im Jahr 2013 an einer Regimechange-Operation in der Ukraine zu beteiligen?“

Ja, im Tone eines heute taxfrei als „Putin-Versteher“ aus dem Diskurs exkommuniziert Würdenden, ging der selbst vielfache Feldherr des States Department (von Vietnam bis Indonesien), sowie Drahtzieher und Unterstützer diverser Militärputsche in Lateinamerika (darunter nicht zuletzt jenen Pinochets gegen die Volksfront-Regierung in Chile 1973) Kissinger in seinen Ausführungen bereits damals noch einen Schritt weiter: „Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land sein kann. Die russische Geschichte begann in der so genannten Kiewer Rus. Von dort aus verbreitete sich die russische Religion. Die Ukraine ist seit Jahrhunderten Teil Russlands, und die Geschichte der beiden Länder war schon vorher miteinander verflochten. … Selbst so berühmte Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky bestanden darauf, dass die Ukraine ein integraler Bestandteil der russischen Geschichte und sogar Russlands ist.“

Und in Voraussicht der mit dem Maidan-Putsch gezündeten Lunte am Ost-West-Pulverfass warnte er bereits 2014: „Die Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation zu behandeln, würde jede Aussicht, Russland und den Westen – insbesondere Russland und Europa – in ein kooperatives internationales System einzubinden, für Jahrzehnte zunichtemachen.“ Entsprechend ungewöhnlich offen diktierte er den Barrosos, Obamas, Merkels und Konsorten aus Sicht eines alten Haudegens denn auch weitsichtig ins Stammbuch: „Für den Westen ist die Dämonisierung von Wladimir Putin keine Politik, sondern ein Alibi für das Fehlen einer Politik.“

Kissinger in Davos 2022: Für eine tragfähige Verhandlungslösung

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos warnt der ehemalige US-Außenminister jetzt mit Nachdruck davor, den Ukraine-Konflikt immer stärker in einen Stellvertreterkrieg des kollektiven Westens gegen Russland zu verwandeln. Die Orientierung auf einen langwierigen vom Westen alimentierten Abnützungskrieg mit dem Ziel Russland auf dem Schlachtfeld eine Niederlage zu bereiten, sei entgegen dem Wolfsgeheul der Schreibtisch-Feldherren und -Feldwebelinnen keine Perspektive.

Die Ukraine sollte seiner Ansicht nach demgegenüber mit Verhandlungen beginnen „bevor es zu Aufruhr und Spannungen kommt, die nicht leicht zu überwinden sind.“ Und gegen den immer weiter gehenden Kriegszielstrategien der dominierenden Fraktionen in Washington, Brüssel und Kiew gerichtet: „Idealerweise wird die Grenze wiederhergestellt, wie sie einmal war“. Oder, wie er es in mehreren englischsprachigen Medien formulierte: „Idealerweise sollte die Trennline eine Rückkehr zum Status quo ante sein.“ Darin angetönt ist sowohl der Umstand des bereits 8 Jahre währenden Krieges Kiews gegen die Gebiete und BewohnerInnen des Donbass – von Ulrich Heyden jüngst mit einem Buch unter dem Titel „Der längste Krieg in Europa seit 1945“ in Erinnerung gerufen, in der Mainstream-Berichterstattung schlicht inexistent – wie auch der Umstand, dass Kiew mit dem am 15. November 2014 von Präsident Petro Poroschenko unterzeichnetem Erlass Nr. 875 der Einstellung sämtlicher Tätigkeiten ukrainischer Institutionen und aller Zahlungen (selbst hart erworbener Pensionen) nach Ansicht nicht weniger Juristen, damit eigentlich de facto auch seinen Hoheitsanspruch auf die Ostukraine resp. die „Donbass Republiken“ aufgegeben hat. Den Krieg über diesen Punkt oder diese Grenzmarken hinaus weiterzuführen, bildet für Kissinger denn auch keinen Kampf um die Verteidigung der Ukraine mehr, sondern wird von ihm als neuer Krieg gegen Russland bewertet. Genauer wohl, aber das hat der Ex-US-Außenminister nicht expliziter ausgeführt, nicht bloß aufgrund der russischen Sicherheitsinteressen bzw. des Ansinnens Russland in die Knie zu zwingen, sondern auch in Verbindung mit dem aus völkerrechtlicher Sicht mit der Anerkennung der Volksrepubliken dann gedeckten Beistandsabkommen. Wie dem auch immer.

Im Kern jedenfalls zielt Kissinger auf eine Verhandlungs- und Friedenslösung in Richtung folgender Eckpunkte ab: Der Ukraine wird ihre Souveränität und Selbständigkeit garantiert, die Donbassregionen entscheiden über ihr staatliche Zugehörigkeit oder auch Unabhängigkeit, die Krim bleibt russisch, und begleitend werden eine tragfähige neue Sicherheitsarchitektur sowie Friedensregeln für Mittel- und Osteuropa unter Einschluss der Russischen Föderation und den USA angestrebt.

Dass im Konflikt um die Ukraine trotz der politischen Dominanz der „Falken“ in den Führungskreisen der westlichen Machtzirkeln und deren fast lückenloser medialer Hoheit, Hysterie und Kriegspropanda auch andere Optionen als der totale Krieg gegen Russland nicht ganz verstummt sind, machte dieser Tag auch die „New York Times“ mit ihrem Statement klar, dass dies keineswegs das Interesse sein kann. In den österreichischen Leitmedien steht die Kriegsfront demgegenüber ungebrochen Gewehr bei Fuß und zeichnet ein einsinniges Kriegs-Narrativ eines angeblich unausweichlichen offensiven Stellvertreterkriegs gegen den wiederentdeckten „russischen Bären“, zu welchem es keine diplomatischen Verhandlungs- und Lösungsalternativen gebe, das in dieser rigiden Indifferenz nicht einmal in den NATO-Hauptquartieren umstandslos vorherrscht.

Entsprechend verwies etwa der bekannte deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler in einem Interview mit der „Neuen Züricher Zeitung“ gerade auf tendenziellfeine Unterschiede in den westlichen Kriegszielen: „Die Vorstellungen über einen Friedensschluss liegen im Westen weit auseinander“, so Münkler etwas wohl all zu stark akzentuiert. „Die absolute Minimalbedingung ist sicher die Weiterexistenz der Ukraine als souveräner Staat, aber eventuell reduziert auf das Gebiet westlich des Dnipro. In … Frankreich betrachtet man eine Ukraine in den Grenzen des 23. Februars [also ohne Krim und Separatistengebiete] als Sieg. Die Briten möchten die Ukraine von 2013, also mit Krim und Donbass, wiederherstellen. Die Amerikaner schließlich haben eine eigene Sicht. Sie sagen: Putin ist uns wieder in die Quere gekommen (…) Das soll nie mehr passieren. Wir organisieren also einen Abnützungskrieg gegen die Russen, der ihr militärisches Potenzial aufzehrt.“ Vor diesem Hintergrund fällt dann auch Kissinger wiederum weniger aus dem Rahmen als Biden, Johnson, Von der Leyen, Baerbok, Habeck und ihre österreichischen Adepten.

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