„Selbstbewusstsein für eine konfliktorientiertere Linie“

Jan M. ist Vertretungslehrer an einer Sekundarschule in Nordrhein-Westfalen. Zusammen mit seinen KollegInnen hat er sich an den Warnstreiks vergangene Woche beteiligt, als deutschlandweit über 100.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst der Länder die Arbeit niederlegten. Der Grund: die mittlerweile abgeschlossenen Tarifverhandlungen. Mit uns hat Jan seine Streikerfahrungen und Arbeitsbedingungen geteilt und gibt uns dabei auch eine Einschätzung zum Abschluss der Tarifverhandlungen.

Was tust du beruflich, wie steht’s um deine Arbeitsbedingungen?

Ich bin angestellter Vertretungslehrer an einer Sekundarschule in Nordrhein-Westfalen, das ist so eine Art Gesamtschule ohne Oberstufe. Ich bin mit dem zweiten befristeten Vertrag an der Schule mit einer halben Stelle. Je nachdem wie viele Mittel gerade frei sind können Leute wie ich zusätzlich „eingekauft“ werden. Ich habe zum Glück eine sehr engagierte Schulleiterin, die mit auf unserer Seite der Barrikade steht, übrigens selbst nur Angestellte ist und auch mitgestreikt hat.

Für die Arbeitsbedingungen sind solche Verträge wie meine denkbar schlecht. Es dauert seine Zeit bis man die Abläufe, Regeln und Besonderheiten einer Schule durchblickt hat – und dann ist man schon wieder weg. Das ist für einen selbst unbefriedigend, aber auch für die Kolleginnen und Kollegen, die sich eine Entlastung erhoffen und diese aber nur eingeschränkt bekommen. Von der Unsicherheit, wie es weitergeht, ganz zu schweigen. Vor den letzten Sommerferien endete mein Vertrag, wie es weitergehen würde, war nicht klar. Zum Glück habe ich dann nach den Ferien einen neuen Vertrag an der gleichen Schule bekommen.

Was sind die wichtigsten Forderungen in der aktuellen Auseinandersetzung um den Tarifvertrag?

Die wichtigsten Forderungen waren 6% mehr Lohn mit einer Sozialkomponente von mindestens 200€, von der die unteren Einkommensgruppen besonders profitieren. Außerdem ein ganzer Blumenstrauß an strategisch wichtigen Forderungen, die der Spaltung der KollegInnen entgegenwirken sollten, dazu gehörten:

Die Angleichung der Gehälter der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst der Länder an die Gehälter der Beschäftigten der Kommunen.

Bei den Lehrkräften: Einführung der „Paralleltabelle“, die eine bessere Eingruppierung für viele angestellte Lehrkräfte bringen und die momentan herrschende Schieflage beseitigen würde.

Nicht nur, aber vor allem an den Unis: Die Eindämmung von Befristungen. Die Bundesländer sind die Arbeitgeber mit dem höchsten Anteil an befristet Beschäftigten. Insbesondere an Hochschulen herrscht ein regelrechtes Befristungsunwesen – neun von zehn Beschäftigten im Akademischen Mittelbau haben nur einen Zeitvertrag.

In den Kliniken:

  • Anhebung der Pflegetabelle um 300€
  • Anhebung der Zuschläge für Samstagsarbeit um 20%
  • Anhebung des Zusatzurlaubs für Wechselschicht um 50% (entspricht bei Vollzeitbeschäftigung 3 weiteren Tagen -> 9 Tage Zusatzurlaub -> 39 Tage Gesamturlaub)
  • Anhebung des Urlaubsanspruchs für Azubis und Praktikant*innen auf 30 Tage (bisher 29)
  • Wiedereinführung der Vorschrift zur Übernahme von Azubis nach erfolgreichem Ausbildungsabschluss

Das sind insgesamt keine spektakulären Forderungen, wenn auch zusätzlicher Urlaub natürlich gut ist und die Schichtzuschläge den anstrengenden Schichtdienst zumindest verteuern. Auch die Übernahme der Azubis bei erfolgreichem Abschluss wäre natürlich eine Verbesserung. Der starke Fokus auf Krankenhaus-Pflegekräfte (die nicht den Löwenanteil der Beschäftigten ausmachen) war tendenziell ungünstig und widerspricht auch der Auswertung der Streiks an den Unikliniken Düsseldorf und Essen, wo keineswegs nur Pflegekräfte die Kerngruppe der Streikenden ausgemacht haben. Entlastung für die Pflege wäre natürlich wichtig und richtig, aber auch hier verläuft eine Spaltungslinie. Es muss eben um alle Beschäftigten im Gesundheitsbereich gehen.

Die Forderungen wären finanzierbar:

  • Im ersten Halbjahr 2018 erzielten die Länder einen Überschuss von 13,1 Milliarden Euro im Vergleich zu 8,1 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2017 und 12,1 Milliarden Euro im gesamten vergangenen Jahr.
  • Die Steuerschätzung vom Oktober 2018 ergab, dass die Steuereinnahmen für Bund, Länder und Gemeinden im Vergleich zur Schätzung vom Mai 2018 insgesamt nochmals leicht ansteigen – im Durchschnitt um jährlich rund vier Prozent.
  • Die Steuereinnahmen der Länder sollen dabei in diesem Jahr um 4,4 Prozent, im nächsten Jahr um 2,7 Prozent und 2020 sogar um fast sechs Prozent steigen.

Gleichzeitig wäre die Durchsetzung der Forderungen ein wichtiger Schritt gewesen, um der Spaltung der KollegInnen entgegenzuwirken und der Umverteilung von unten nach oben etwas entgegenzusetzen.

Welche Berufsgruppen sind davon betroffen und wie viele Menschen?

Das Ergebnis gilt für 800.000 Landesbedienstete, darunter fallen Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst, in KiTas, Lehrkräfte, Hochschulbeschäftigte, Beschäftigte in der Unikliniken, der Justiz, der Polizei u.v.m. – eben alle, die bei einem deutschen Bundesland (mit Ausnahme Hessens, das der Tarifgemeinschaft der Länder nicht angehört) beschäftigt sind. Der Abschluss soll auf rund 2,3 Millionen Beamte und Versorgungsempfänger übertragen werden.

Wie hast du die Streikbewegung persönlich erlebt? Was sagen deine KollegInnen dazu?

Es war meine erste Warnstreikerfahrung und mich haben vor allem die mitstreikenden KollegInnen beeindruckt. Wir hatten für eine Schule eine enorm hohe Streikbeteiligung von etwa 25% der angestellten Lehrkräfte, die bei uns die Mehrheit der Beschäftigten ausmachen. Das hat dazu geführt, dass wir die einzige staatliche Schule in NRW waren, bei der ab einem bestimmten Zeitpunkt nichts mehr ging. Auch die Solidarität der verbeamteten KollegInnen war da. Bei uns sind viele nach Dienstende noch zu den Streikversammlungen und Kundgebungen gekommen und haben von ihrem Recht, nicht für streikende KollegInnen einzuspringen, Gebrauch gemacht. Da ist begriffen worden, dass wir auch für ihre Interessen kämpfen. Die beiden Warnstreiktage haben bei uns im Kollegium zu einer enormen Politisierung geführt. Viele sind neu in die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eingetreten und waren das erste Mal bei einem Streik dabei – einige Teilzeitkräfte, wie ich, auch an ihren freien Tagen.

Kommen die bis jetzt gesetzten Kampfmaßnahmen bei der Gegenseite an?

Nicht ausreichend. Vor der letzten Verhandlungsrunde, die jetzt ein Ergebnis gebracht hat, gab es kein Angebot der Länder. Aber der Druck stieg natürlich. Das hätte man fortführen müssen.

Welche Rolle spielt dabei Organisierung an der Basis und wie weit wird alles von sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsspitzen vorgegeben?

Das meiste ist vorgegeben. Wir werden von der Gewerkschaftsführung zum Warnstreik aufgerufen und dann gibt’s halt einen Warnstreik. Die Länderminister haben von ritualisierten Warnstreiks gesprochen. Die Gewerkschaftsführung streitet das öffentlich ab, aber da ist leider schon etwas Wahres dran. 1-2 Warnstreiktage, mehr gibt es nicht, mehr traut man sich nicht. Auch das Einknicken in der letzten Verhandlungsrunde jetzt ist ein Beispiel dafür. Wenn diese Runde gescheitert wäre, hätte man unbefristete Streiks machen können. Dazu fehlen der Mut und der politische Wille in den Gewerkschaftsführungen. Deswegen ist die Organisierung an der Basis so wichtig und die gab es auch. Auch wenn es nur zwei Warnstreiktage sind – sie müssen organisiert werden. Da spüren die KollegInnen ihre Kraft und ihre Macht. Wo das gut gelaufen ist, gab es auch Erwartungen, die mit dem Abschluss sicherlich nicht erfüllt werden – und auch das Selbstbewusstsein in der Gewerkschaft für eine konfliktorientiertere Linie zu streiten.

Jetzt hat die vergangene dritte Verhandlungsrunde ein Ergebnis gebracht – wie ist das zu bewerten?

Das ist jetzt noch schwer zu sagen, weil der Abschluss doch sehr komplex ist. Zunächst das Ergebnis:

  • Rückwirkend zum 1. Januar 2019: 3,2 Prozent (inkl. Mindestbetrag 100 Euro)
  • Ab 1. Januar 2020: 3,2 Prozent (inkl. Mindestbetrag 90 Euro)
  • Ab 1. Januar 2021: 1,4 Prozent (inkl. Mindestbetrag 50 Euro)
  • Darin enthalten sind außerdem größere Erhöhungen der Stufe 1: 4,5 Prozent zum 1. Januar 2019, 4,3 Prozent zum 1. Januar 2020 sowie 1,8 Prozent zum 1. Januar 2021
  • Das sind insgesamt 8 Prozent bei 33 Monaten Laufzeit des Tarifvertrags.
  • Erhöhung der Angleichungszulage für angestellte Lehrkräfte von bisher 30 auf 105 Euro.
  • Angleichung der Gehälter im Sozial- und Erziehungsdienst der Länder an das Niveau von Bund und Kommunen
  • Ab 1. Januar 2019 erhalten Beschäftigte in der Pflege nochmals 120 Euro monatlich

Das Hauptproblem ist die dramatisch lange Laufzeit von 33 Monaten. Gefordert waren 12 Monate. Das heißt, es wurden von den geforderten 6% im Schnitt pro Jahr weniger als 3% erreicht. Das ist kaum mehr als ein Inflationsausglich, die öffentlich verbreiteten 8% sind, wegen der langen Laufzeit, Augenwischerei. Die Zulage von 120€ in der Pflege bleibt ähnlich weit hinter der Forderung von 300€ zurück. Wobei hier ohnehin eher eine Entlastung als eine höhere Bezahlung wichtiger gewesen wäre, z.B. durch mehr Urlaub. Denn die Anhebung des Urlaubs ist auch nur in geringerem Umfang gelungen: Der Zusatzurlaub für ständige Wechselschichtarbeit wird schrittweise ab 2020 bis 2022 um jeweils einen Tag jährlich erhöht. Das ist nicht die Entlastung, die gefordert wurde und schon gar nicht die, die die Kolleginnen und Kollegen bräuchten.

Die Angleichung im Sozial- und Erziehungs-Bereich ist ein sehr wichtiger Schritt, der bei den Lehrkräften nicht gelungen ist, das ist für uns natürlich enttäuschend. Die Erhöhung der Angleichungszulage dürfte das in den allermeisten Fällen nicht im Ansatz kompensieren und – die diskriminierende Aufspaltung in unterschiedliche Entgeldtabellen bleibt bestehen und spaltet uns weiterhin.

Alles in allem: Natürlich setzt man in einer Tarifrunde nie alles durch, aber: hier wäre deutlich mehr drin gewesen. Wieder nicht umgesetzt wurde die Angleichung der Laufzeit an den Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes bei Bund und Kommune. So werden wir in den nächsten Jahren wieder getrennt streiken anstatt gemeinsam. Gleichzeitig sind es aber die im Arbeitskampf gemeinsam gewonnen Erfahrungen und das damit Stück für Stück entstehende Bewusstsein, das niemand mehr den KollegInnen nehmen kann!

Bild: GEW – Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Facebook)

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