Sanktionspakte im Schatten ökonomischen Analphabetismus und logischer Märchenerzählungen

Marx schrieb einmal erschöpft: „Wollte man ein Ochse sein, könnte man den ganzen Menschheitsqualen den Rücken zukehren und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.“ Es müssen Tage wie diese gewesen sein, die ihn zu diesem Stoßseufzer veranlassten.

Nachdem sich auch in den Reihen der EU zunehmend Unruhe über die brachialen Bumerangeffekte der „massivsten“ und „präzisesten“ Sanktionen die die EU je verhängt hat (Ursula von der Leyen) breit macht, hat ihr Außenbeauftragter Josep Borrell, studierter Wirtschaftswissenschafter, den Kritikern einmal die Leviten gelesen und eine Borrellsche ökonomische Lektion erteilt. So sei es zum Beispiel gar nicht wahr, dass die Sanktionen gegen Russland für die gestiegenen Ölpreise verantwortlich seien. Ja, so stellt sich das der ‚kleine Maxi‘ auch in etwa vor. Der Boykott greift doch zunächst „bloß“ für runde 2/3 der Öl-Lieferungen und auch das erst in den nächsten Monaten so richtig. Warum also sollte dadurch der Öl-Preis aktuell steigen? Freilich, ähm, dann schon. Aber aktuell? Nein-nein, der „schwarze Peter“ liegt schon eindeutig bei Moskau.

Man ist darob zunächst ein bisschen sprachlos. Mag dieser ökonomische Analphabetismus im Boulevardblätterwald vielleicht noch durchgehen, schleuderte er diesen Humbug ernsthaft einem langjährigen EU-Regierungschef samt dessen dahinterstehenden Beraterstab entgegen. Das lässt einen fast glauben, er meint das ernst.

„Der Ölpreis wird“ aber, um dessen wahrlich alles andere denn geheimen Preismechanismus etwa mit Franz Garnreiter kurz auf den Punkt zu bringen, „in erster Linie auf Zukunftsmärkten gebildet (per Futures und Optionen), und zwar von Finanzspekulanten, lange bevor das Rohöl in der Raffinerie landet zur Verarbeitung. Wenn in 6 oder 12 Monaten absehbar und boykottbedingt zu wenig Angebot da ist, dann steigt der heute (!) gehandelte Ölpreis für zukünftige Lieferung (= Future). Wenn der 6-Monats-Future viel höher ist als der Ölpreis für den aktuellen Tag, dann steigt auch dieser entsprechend, weil man ansonsten heute billig Öl kaufen und in 6 Monaten teuer verkaufen könnte (die Finanzagenten, nicht die konkreten Verarbeiter, veranstalten diese Geschäfte, und zwar auf dem Papier, währenddessen das Öl im Tanker auf dem Ozean schwimmt oder sogar noch gar nicht gefördert wurde. Das bedeutet aber, dass die Spekulation auf Ereignisse in der Zukunft zur Preissteigerung heute schon führt, auch wenn heute noch genügend Mengen da sind und die Knappheit spekulativ erst am Horizont sich abzeichnet. …)“

Bei einem Außenbeauftragten der EU sollte man freilich eigentlich schon davon ausgehen können, dass er dieses Schul-ABC der Ölpreisbildung auch den internen Kritikern (immerhin EU-Staats- und Regierungschefs), oder zumindest ihren Beraterstäben, zubilligt. Oder er meint seinen dahererzählten Stuss, um die EU stramm auf Kurs zu halten, wirklich ernst – was allerdings wohl noch bedenklicher wäre.

Die Innovation in Sachen Logik, geht allerdings eindeutig an Ursula von der Leyen. Gebührt Platon und Aristoteles das Verdienst, nach Vorarbeiten seit den Vorsokratikern, die zweiwertige Logik ausgearbeitet zu haben und steht der Name Jan Lukasiewicz synonym für die Entwicklung der dreiwertigen Logik, so hat sie in (gelinde gesagt) Sachen „grenz-wertiger“ Logik gerade das Bravourstück herausgezaubert.

2014: Die USA und EU einigten sich erstmals darauf, gemeinsam Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Allerdings transatlantisch abgestimmt unter expliziter Aussparung des für Deutschland essentiellen Energiesektors. Von der Leyen wird sich als damalige deutsche Verteidigungsministerin sicherlich noch an das seinerzeitige Gefeilsche und die Debatte erinnern.

2021 – nebenbei, zu einem Zeitpunkt als eine Eskalation des Ukraine-Konflikts noch in weiter Ferne stand – dann der Schwenk: Der EU-Außenbeauftragte (und also schon länger mit der Causa beschäftigte Experte) Josep Borrell forderte in einem Strategiepapier viel weitgehender als bisher an der Sanktionsspirale gegen Moskau zu drehen und an Russlands Öl- und Gasexporten den „Hebel“ anzusetzen. Oder anders gesagt, die „Energie“ resp. „Energieexportabhängigkeit“ Moskaus als „Waffe“ gegen Russland in Anschlag zu bringen und gegen dessen Hauptexportgut, das zu „drei Vierteln“ aus Gas und Öl besteht, zu zücken.

Im Mai dieses Jahres war es mit dem fünften Sanktionspaket dann so weit – wenn auch (noch) nicht zur vollsten Zufriedenheit der beiden wichtigsten Mitglieder des EU-Beratungsstabs: Joe Biden und Wolodimir Selenskij. Russisches Gas wurde im EU-Raum einem (stufenweisen) Embargo bis zum demnächst definitiv bevorstehenden Ende unterworfen. Mit dem sechsten Sanktionspaket wurde darüber hinaus auch das russische Öl ins Visier genommen, mit einem weitgehenden Boykott belegt und soll bald ganz entbehrlich sein.

Nachdem aber ein ausreichender Ersatz russischer Energieträger auf dem Weltmarkt nicht zu haben ist – was unter sämtlichen Experten (außer Borrell) von Anbeginn der Sanktionsspirale gegen Moskau kein Geheimnis war, auch wenn von der Leyen bis zuletzt behauptet, es stünden ausreichend Alternativen zur Verfügung – hat die EU nun einen straffen „Energie Notfallplan“ auf den Weg gebracht. Denn, so klärt uns Ursula von der Leyen auf: „Russland erpresst uns, Russland setzt Energie als Waffe ein“. Man ist ob dieser verdrehten „Logik“ beinahe baff.

Hätte man die letzten fünf Monate abgeschieden von allen Nachrichten verlebt und würde von der Leyen hören oder der medialen Berichterstattung folgen, man käme unweigerlich zu Schluss, nicht der Westen hat Sanktionspakete gegen Russland beschlossen und Energie-Embargos mit einem angekündigtem definitiven Bezugsende gegen Russland verhängt, sondern umgekehrt, Moskau hätte einen Wirtschaftskrieg gegen die EU entfesselt und dieser fieser Weise seit Mai den Gashahn zugedreht und die Öllieferungen gestoppt. Bei so viel Infamie des Iwan muss natürlich sofort ein siebtes Sanktionspaket her.

Nachtrag: Spätestens der von Trump mutwillig losgetretene Wirtschaftskrieg gegen China sollte gezeigt haben, dass Sanktionen unaufhebbar immer auch Risiken, Nebenwirkungen und Bumerangs bergen, man sich in Sackgassen manövrieren kann und bei Gegenmaßnahmen Sanktionsgefechte auch verlieren kann oder zumindest gleichzeitig die eigene Gesellschaft nicht minder ruiniert wie jene des „Gegners“.

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