Man fühlt sich ins Jahr des historischen Sündenfalls der sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften 1914 zurückversetzt. Der ÖGB hat dem ebenso prominent wie politisch hochkarätig besetzten „Internationalen Gipfel für Frieden in der Ukraine: Frieden mit friedlichen Mitteln“ – auf „Wunsch der Ukraine“, wie man freimütig bekennt – gerade kurzerhand die angemieteten Räume im ÖGB-Catamaran storniert und damit der Friedensbewegung das gewerkschaftliche Bürgerrecht abgesprochen. Anstatt elaborierteren Sichten auf den Ukraine-Krieg und Vorschlägen für eine politische Lösung des Gemetzels (unter anderem von Brasiliens Präsident Lula da Silva), sowie deren eingehende Diskussion, heißt es in Aufgriff der seinerzeitigen Kriegsparole für die sozialdemokratische Gewerkschafts-Spitze anscheinend von Neuem: „Jeder Schuss ein Russ!“. Basta.
Der renommierte US-Ökonom Jeffrey Sachs als offizieller Stein des Anstoßes
Als offiziellen Stein des Anstoßes hat der ÖGB den renommierten US-Ökonomen Jeffrey Sachs (nicht nur Berater dreier UN-Generalsekretäre, sondern einst auch des Westens beleumundeter Berater von Boris Jelzins) auserkoren. Allerdings ist Sachs – und damit heute quasi aus dem „Wertewesten“ exkommuniziert – ein scharfer Kritiker der NATO-Osterweiterung, die für ihn neben „Installation eines russophoben Regimes in der Ukraine“ 2014 „im Mittelpunkt dieses Krieges steht“. Ein wie auch immer gearteter Rekurs auf die NATO-Ostexpansion im Kontext des Ukraine-Kriegs und Langzeitkonflikts indes, wie der ÖGB mit Nachdruck erklärt, verstößt gegen die Hausordnung österreichischer Gewerkschaftsräumlichkeiten. Dass selbst ranghöchste und ehemals führende NATO-Militärs dies weit unbefangener debattieren und teils radikal anders und mit realistischerem Blick betrachten, sei wenigstens in Parenthese vermerkt. Zu alledem plädiert der UN- wie Russland-erfahrene Ökonom anstatt des mörderischen Ost-West-Stellvertreterkriegs bis zur „vernichtende Niederlage“ Russlands „auf dem Schlachtfeld“ (wie der Militärstratege Franz-Stefan Gady die Marschrichtung im ORF regelmäßig zum Besten geben darf)nachdrücklich für „Verhandlungen zur Wiederherstellung des Friedens“. Ein Plädoyer, das er gegen den bellizistischen Mainstream u.a. schon letzten Herbst gemeinsam mit dem ehem. EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi in deren und anderer Aufruf „Keine Angst vor Friedensverhandlungen!“ nachdrücklich verfocht und zu welcher mit dem „Aufruf: Frieden schaffen!“ in beispielsweise Deutschland auch gerade höchstrangige ehemalige und aktuelle GewerkschaftsfunktionärInnen aufgerufen haben. Unter ihnen etwa Michael Sommer (von 2002 – 2014 Vorsitzender des DGB), seiner Nachfolger als DGB-Vorsitzender (von 2014 – 2022) Reiner Hoffmann, bis zur IG-Metall „Legende“ Franz Steinkühler.
Beileibe kein einsamer Rufer der US-Thinktanks in der Wüste
Um zumindest andeutungsweise in den hiesigen, bellizistischen Tunnelblick zu rücken, dass Jeffrey Sachs mit seinen Positionen in der US-amerikanischen Ökonomenzunft alles andere als ein einsamer Rufer in der Wüste ist, mag an dieser Stelle ein Verweis auf seinen Fachkollegen Thomas Palley – ehemaliger Chefökonom der United States China Economic and Security Review Commission – genügen. So konstatierte Palley jüngst seinerseits knapp und bündig: Die EU („Europa“) „hat sich dazu entschlossen, in Bezug auf Geopolitik und Konflikte die Rolle des Mitläufers der USA zu spielen“. Der den Massen medial wüstenweise in die Augen gestreute Sand, vermochte den Klarblick des geopolitischen Haudegens natürlich nicht zu trüben. Noch in den entscheidenden Tagen vor dem 24.2. 2022 schrieb er: „Die liberalen Leitmedien haben sich an vorderster Front für eine militärische Konfrontation mit Russland, eine fortgesetzte Osterweiterung der NATO und die Ablehnung jeglicher Legitimität der russischen Interessen ausgesprochen. Außen vor bleibt eine kritische Reflexion des US-amerikanischen Handelns, angefangen bei der offensichtlichen Frage, was die USA an den Grenzen Russlands zu suchen haben.“
Die Kritik an der Grand Strategy der NATO-Osterweiterung als „größter strategischer Irrweg der Geschichte“ – Topos seit 1997
Neu sind derartige Stimmen, aber auch eindringliche Warnungen vor dem westlichen Konfrontationskurs „2.0“ indes beiweilen nicht. Im Gegenteil. Bekanntlich hielt schon der einstige US-Spitzendiplomat und stramme Kalte Krieger George F. Kennan – ehem. US-Botschafter in der Sowjetunion, US-Russlandexperte, Stratege der Containment-Politik und von Moskau schließlich als persona non grata ausgewiesen – „eine Ausweitung der NATO“ nach Osten, für den „verhängnisvollste(n) Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Kriegs“. In Moskau – so der Anfang bis Mitte der 1930er Jahre, in den entscheidenden Jahren 1944/45, sowie Anfang der 1950er Jahre in der dortigen US-Botschaft stationierte Diplomat –, „ist man [nicht ohne Grund, wie er aus eigenen Missionen und intimen inneren Kenntnissen der US-Administration zur Genüge wusste, Anm.] wenig beeindruckt von den Beteuerungen, dass Amerika keine feindlichen Absichten hegt.“
Ins selbe Horn wie Kennan stieß 1997 auch Jack Matlock – vormaliger US-Botschafter in der Sowjetunion von 1987 bis 1991 – in einer Anhörung vor dem US-Senat. Eine NATO-Osterweiterung, so der Diplomat und intime Kenner deren Brisanz vor dem Ausschuss für auswärtige Beziehungen warnend, „könnte als der größte strategische Irrweg in die Geschichte eingehen, der seit dem Ende des Kalten Krieges gemacht wurde.“
Das sozialdemokratische Adieu auf Egon Bahr
In jenem Jahr, 1997,– Wladimir Putin war gerade erst vom stellvertretenden Leiter der Kreml-Liegenschaftsverwaltung zum stellvertretenden Kanzleileiter Präsident Jelzins die Karriereleiter emporgestiegen –, publizierte der berühmt-berüchtigte US-Globalstratege Zbigniew Brzezinski seine Furore machende „Strategie der Vorherrschaft“ der USA als „einziger Weltmacht“ und charakterisierte in dieser Westeuropa als „Protektorat“ der Vereinigten Staaten. Egon Bahr, der heute von seinen „Genossen“ nur mehr schlecht beleumdete sozialdemokratische Spiritus rector der sog. „neuen Ostpolitik“ unter Willy Brandt ab 1969, vermerkte zu Brzezinskis Qualifizierung der EU als US-Protektorat später sarkastisch: das sei korrekt, zumal sich noch nicht einmal in irgendeinem europäischen NATO-Land oder Brüssel dagegen Widerspruch erhob.
„Fuck the EU“
Am ungeschminktesten brachte diese Subalternität der EU für die USA sicherlich US-„Fuck the EU“-Vizeaußenministerin Victoria Nuland – in der Maidan-Zeit zuständig für den Regimewechsel in der Ukraine und heute erneut im Biden-Kabinett – zum Ausdruck. Ihr Gatte, der nicht minder einschlägig bekannte Neocon Robert Kagan, wiederum meinte zur ein Jahrzehnt zuvor orchestrierten, aber dann kläglich mit einem Bauchfleck gelandeten „Orangenen Revolution“: „Die Russen und Chinesen sehen [in den „Farbrevolutionen“, Anm.] nichts Natürliches, sondern nur vom Westen unterstützte Putsche, die den westlichen Einfluss in strategisch wichtigen Teilen der Welt stärken sollen. Haben sie so unrecht?“ Auch zu diesen beiden Kapitel verbot sich der ÖGB jüngst, sie womöglich aufs Tableau zu bringen. Dass Washington in diese Regimewechsel, gelinde gesagt, involviert gewesen wäre, sei eine schäbige Verleumdung. Derartiges souverän per Tweet in Abrede zu stellen, ist allerdings selbst für manische Transatlantiker, und nochmals um eine Schippe mehr für die ÖGB-Spitze, starker Tobak.
Helmut Kohl, John Major und François Mitterrand – die ersten Vertreter des „Putin-Versteherismus“?
„Marc Trachtenberg, Professor für Politikwissenschaft der Universität von Kalifornien“, wie neuerdings bei Oberstleutnant Jochen Scholz – ehemaliger Referent des deutschen Verteidigungsministerium – nachzulesen, „hat sich ausführlich mit der Thematik NATO-Osterweiterung beschäftigt.“ „Ihm verdanken wir ein Protokoll, aus dem hervorgeht, dass Diplomaten der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands [unter Kohl, Major und Mitterrand, Anm.] noch im März 1991 in Bonn ablehnten, Polen und weitere osteuropäische Staaten in die NATO aufzunehmen.“ Allerdings gelangten im außenpolitischen Establishment Washingtons noch im selben Jahr die Neocons um Dick Cheney und Paul Wolfowitz in die Vorhand und trieben daraufhin systematisch die NATO-Ost-Expansion voran. Während man sich in Moskau also noch auf die im Katharinensaal des Kremls hoch und heilig getätigte Versicherung von US-Außenminister James Baker verließ, dass das westliche Militärbündnis seinen Einflussbereich „nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen“ wird (wie zusätzlich auch von deutschen Politikern wie Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher unterstrichen), stand genau diese schon auf der Agenda der US-Defense Planning Guidance in Washington. Parallel hielt das Strategiepapier der „einzig verbliebenen Supermacht“ unverhohlen fest, dass die KSZE „die eigentliche Gefahr für die NATO“ und die westliche Führungsmacht jenseits des Atlantiks darstellt, weshalb die USA „darauf achten (müssen), dass es keine auf Europa zentrierte Sicherheitsvereinbarungen gibt, welche die NATO untergraben könnten.“ Genau gegen diesen Konfrontationskurs – den man 30 Jahre später nicht mehr als solchen benennen darf – mit dem Zeug zur Eskalation in einen neuen, großen heißen Krieg, schrieben und schreiben des Langen auch honorigste Think Tanks an.
Oder wohnt der „Putinismus“ im US-Establishment in Washington?
Dass also prominenteste Spitzen-Politologen des US-Establishment (nicht zuletzt auch etwa John Mearsheimer) und ranghöchste, wiewohl ihrerseits mit dem US-Exzeptionalismus und der NATO geradezu wie mit der Muttermilch gesäugt, einen differenzierteren bis teils radikal abweichendenBlick auf die Eskalation um die (Ost-)Ukraine haben als die gängigen Narrative in den westlichen Hauptstädten, ist sonach nur in einer Befangenheit in einem von den westlichen Hauptquartieren vorgegebenen Tunnelblick verwunderlich. Und das betrifft namentlich eben sowohl den aggressiven Expansionsdrang der NATO nach Osten, wie die vom Westen orchestrierte pro-westlich nationalistische „Orangene Revolution“ 2004, die 2013 von Brüssel (flankierend zur NATO-Osterweiterung) vor eine Entweder-Oder-Entscheidung gestellte Assoziationsfrage Kiews, den Maidan-Putsch“ 2014, den seit 9 Jahren anhaltenden (Bürger-)Krieg gegen den Donbass, oder die gezielte Ignoranz der russischen Sicherheitsinteressen.
Ist der Stab auch schon über Ex-EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen gebrochen?
Als eine der dahingehend wenigen, rühmlichen Ausnahmen in der EU gilt es allerdings den seinerzeitigen EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen zu nennen, der das damals aufgeworfene Entweder-Oder zwischen einer Integration der Ukraine in eine Freihandelszone mit der EU oder deren damals gleichzeitigem Projekt einer Zollunion mit Russland heute als eine verheerende Weichenstellung und Zäsur im Ukraine-Konflikt sieht, die es als schrecklichen „Fehler“ der EU „aufzuarbeiten“ gilt – wie er selbstkritisch unterstreicht. Und der als einziger der verantwortlichen EU-Granden die für ihn unabdingbar aufzuarbeitende Frage aufwirft: „wer oder was hat die EU dazu getrieben, sich im Jahr 2013 an einer Regimechange-Operation in der Ukraine zu beteiligen?“
Verrat auf allen Ebenen: selbst Generalstabschef der US-Streitkräfte Mark Milley …
Ja, die Ablehnung des westlichen Stellvertreter- und Abnutzungskriegs und dessen immer weitere Eskalation wiederum, reicht – entgegen der Einordnung des ÖGB in die Kriegsfront des „Kollektiven Westens“ – bis hin zum (im September von seinem Posten scheidenden) amtierende Generalstabschef der US-Streitkräfte Mark Milley, der schon des längerem für eine Verhandlungslösung plädiert. Und den amtierenden Oberbefehlshaber der US-Army wird man wohl nicht einmal in den Botschaften und Konsulaten der Ukraine, dem kriegshysterischen Blätterwald der Mainstream-Medien oder seitens der Gewerkschafts-Spitzen als „Putin-Versteher“ punzieren können.
Ausbuchstabiertes ABC des ÖGB: ‚Hoch lebe Friedrich Austerlitz‘ – Was soll uns der „Zaren-Versteher“ Karl Liebknecht?
Die Rufe der ersten Tage nach einem Waffenstillstand und einer diplomatischen Lösung aus dem politischen Establishment sind schon längstens verhallt. Politische und diplomatische Bemühungen gibt es nur mehr aus dem Globalen Süden (werden sie nun von China betrieben oder stammen sie von Brasilien oder aus Afrika aus) und werden von der westlichen Kriegsallianz verlässlich kleingeredet, konterkariert, hintertrieben und torpediert. Aktuell schlägt vielmehr die Stunde der Schreibtisch-Feldherren und -Feldwebelinnen – assistiert von den Friedrich Austerlitz‘ und Hugo Haase von heute.
Zu Gedenkjubiläen wird dann wohl wieder eine Redeschablone zum antimilitaristischen Vorzeigekampf Karl Liebknechts zu Besten gegeben, der für seine antimilitaristische Haltung und Agitation schon Jahre vor seinem Nein zu den Kriegskrediten zu eineinhalb Jahren Festungshaft wegen „Hochverrats“ verdonnert wurde. Und dies nicht unwahrscheinlich aus dem Munde irgendeines ‚Linksblinkers‘ aus den Reihen der FSG, wie ja seinerzeit auch bewusst Hugo Haase das Rampenlicht des weltgeschichtlichen Sündenfalls der führenden Sozialdemokraten übernahm. Von schlichteren Adepten wird dafür dann wohl der dümmliche Totschläger gegen identifizierte „Putin-Versteher“ geschwungen werden dürfen, wie analog übrigens schon seinerzeit gegen Liebknecht als vermeintlichen „Zaren-Versteher“.
Nichts für ungut Lula – baba und fall net
Und unter diesem Verdikt vermag man dann selbst noch Brasiliens Präsidenten Lula da Silva und langzeitigem Vorsitzenden der Arbeiterpartei PT mit einem herzlichen gewerkschaftlichem „Glück auf!“ das internationale Auditorium zur Vorstellung seine Bemühungen um eine internationale Vermittlungsinitiative zur Beilegung des Ukraine-Krieges entziehen.
Hat man Worte?