Es hat nicht lange gedauert und war zu erwarten: wieder einmal wird zum Garaus gegen die österreichische Neutralität geblasen. Dazu ist man sich bis in die Spitzen des politischen Establishments auch geschichtlicher Uminterpretationen nicht zu blöde. So gerade auch Bundeskanzler Karl Nehammer, für den die Neutralität Österreich bloß als Oktroy historisch „aufgezwungen“ wurde und der damit zugleich das erschreckende, in letzter Zeit fast täglich neu aufploppende gleichermaßen groteske wie reaktionäre Geschichtsbild der ÖVP nochmals komplettiert. Umso nötiger denn auch ein korrigierender Blick zurück in die Geschichte, Bedeutung und Aspekten der Motivlage der österreichischen Neutralität.
Die mit den Stimmen der ÖVP, SPÖ und KPÖ 1955 beschlossene österreichische Neutralität – einzig, auch das zur Erinnerung, der FPÖ-Vorläufer VdU stimmte dagegen –, entsprang mitnichten nur einem taktischen Kalkül, um den Abzug der alliierten Truppen zu erreichen (seither symbolisch im Bild des letzten Jeeps verdichtet), sondern verdankt sich zugleich der historischen Einsicht, sich nicht neuerlich bzw. nie wieder in die Gravitationsfelder konkurrierender Großmachtpolitiken zu begeben. Entsprechend führte der damalige ÖVP Bundeskanzler Julius Raab in der Nationalratssitzung zum Neutralitäts-Beschluss auch in bemerkenswerten und heute geradezu denkwürdigen Worten aus: „Unsere Neutralität ist keine provisorische, widerrufliche Beschränkung unserer Souveränität, die wir etwa unter dem Zwang der Verhältnisse widerstrebend auf uns genommen haben, sondern die Basis für eine Außenpolitik, die unserer Heimat und unserem Volk für alle Zukunft Frieden und Wohlstand gewährleisten soll.“ Mit der Neutralitätserklärung, so Raab weiter, beginne eine neue Epoche, die Österreich mit dem aufrichtigen Willen beschreite, um durch die Neutralität und eine Neutralitätspolitik „nicht nur uns und unseren Nachbarstaaten, sondern darüber hinaus der ganzen Welt zu nützen.” Dieser Bedeutung und Motivlage nach noch frischer Erinnerung der Verheerungen und schuldhaften Verbrechen der zweimaligen Juniorpartnerschaft in den beiden Weltkriegen um Großmachtsinteressen wurde auch im Zuge des Bundesgesetzes mit dem man zehn Jahre später den 26. Oktober zum Nationalfeiertag erklärte, noch einmal ausdrücklich unterstrichen: Das Neutralitätsgesetz bilde die Grundlage dafür, „für alle Zukunft und unter allen Umständen die Unabhängigkeit zu wahren” und einen „wertvollen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten zu können.”
Entgegen dem gängigen Narrativ ist der Gedanke einer Österreichischen Neutralität auch kein bloßes Kind des Kalten Krieges, sondern geht auf den widersprüchlich-konservativen Geist des großen Völkerrechtlers und Kriegsgegners Heinrich Lammasch (1853 – 1920) zurück, der bereits in seiner Abhandlung „Die norische Republik“ im Frühjahr 1919 für ein unabhängiges, in den Völkerbund eingebundenes Österreich mit neutralem Status nach Schweizer Vorbild eintrat. Was, nebenbei bemerkt, zudem den heute allenthalben geflissentlich unterschlagen Umstand der österreichischen Neutralitätserklärung nach „Muster der Schweiz“ ins Licht rücken sollte, dass die auf dem Wiener Kongress von 1815 garantierte Schweizer Neutralität nicht einmal mit den wildesten Verrenkungen einfach in das Prokrustesbett des Ost-West-Konflikts des 20. Jahrhunderts gepresst werden kann. Doch zurück zu Lammasch. Bereits seinerseits zugleich die Puffer- und Brücken- wie Vermittlungsfunktion der Neutralität mit herausstellend, betonte er damit über die heutige verengte Debatte schon 1919 deren doppelten Gesichtspunkt: „So würde die Aufrichtung einer neutralisierten norischen Republik nicht nur dem Wohle Österreichs selbst und der Erhaltung des europäischen Friedens, sondern auch dem Wohle der Nachbarstaaten dienen.“ Der reaktionäre Flügel der österreichischen Bourgeoisie und namhafte Kreise der hiesigen Parteienlandschaft haben mit Lammasch und seinem Denken freilich nie etwas anzufangen gewusst. Über eine unauffällige Statue im Arkadenhof der Uni Wien, die man im Vorbeigehen vielleicht einmal schulterzuckend zur Kenntnis nahm, hinaus, hat er es in deren Köpfen denn auch kaum gebracht.
Diese Kräfte versuchen seit den weltpolitischen Umbrüche 1989/91 denn auch vielmehr stetig die österreichische Neutralität zur Disposition zu stellen bzw. nach Kräften auszuhöhlen. Und sind auf ihrem Kriegspfad und Schwenk auf eine forcierte imperialistische Außenpolitik auch schon sehr weit vorangeschritten. Und das betrifft beileibe nicht nur maßgebliche Kreise der ÖVP – beginnend mit Alois Mock und Andreas Kohl –, sondern ebenso sehr Spitzen und Regierungsverantwortliche der SPÖ und der Grünen.
Man muss aus linker Perspektive auch nicht den Verklärungen der Hochzeit der österreichischen Neutralitätspolitik und Entspannungspolitik der „Ära Kreisky“ aufsitzen oder die Möglichkeiten einer aktiven Neutralitätspolitik und absehbaren Zukunftsperspektiven in schillerndsten, unrealistischen Farben malen, um Österreichs Einbindung in den vom Westen ausgerufenen und mit dem Ukraine-Krieg Russlands nun weiter eskalierten„Kalten Kriegs“ gegen die ‚antagonistischen‘ „systemische Rivalen“ (China und Russland) und eine forciert imperialistische Positionierung im Nord-Süd-Konflikt abzulehnen. Mit ihrer Abschaffung brächen jedoch allemal auch die letzten noch verbliebenen Dämme gegen die vorbehaltslose Einbeziehung Österreichs in die imperialistische Globalstrategie des Westens auf allen Fronten, samt Integration in die NATO- und/oder eine Euroarmee und wäre jeder auch nur Hauch des Gedankens einer Vermittlerrolle Österreichs in der Welt bereits im Ansatz obsolet. Dagegen vermag auch Nehammers heute versuchte Beschwichtigung nicht hinwegzutäuschen.