Kampf um Kobanê 2022

Seit Dienstag Vormittag bombardiert die Türkei in ihrer bereits vor drei Monaten angekündigten Militäroffensive die symbolträchtige kurdische Grenzstadt Kobanê und eskaliert ihre Angriffe gegen Nord- und Ostsyrien resp. die demokratische Selbstverwaltung Rojava auf breitem Frontabschnitt. Neben den massiven Luftschlägen, dem Bombenhagel und Artilleriefeuer, flogen zuletzt auch Drohnen gezielte Mordanschläge und fanden parallel auch im Nordirak militärische Spezialoperationen statt. Mit im türkischen Feuer stehen neben Kobanê zahlreiche weitere Ortschaften und Siedlungsgebiete. Aus anderen Weltregionen würden die Medien in Eilmeldungen berichten: heftige Luftschläge, Artilleriefeuer auf das Stadtzentrum, jüngst aus Hubschrauber abgesetzte Luftlandetruppen, vorrückende Bodentruppen, türkische Sondereinheiten samt pro-türkischen Paramilitärs und djihadistischen Milizen, Kriegsverbrechen, Einsatz chemischer Kampfstoffe, zerbombte kurdische Wohngebiete, tote ZivilistInnen, darunter Kinder …Nicht so freilich, wenn ein NATO-Partner der „Wertegemeinschaft“ ins Gefecht zieht und es zudem noch gegen die kurdische Freiheitsbewegung geht. Dabei beabsichtigt der Schlächter am Bosporus mit der gestarteten Militäroffensive nach eigenen Worten nicht weniger als das basisdemokratische Selbstverwaltungsprojekts Rojava zu „zermalmen“.

Der Krieg Ankaras und der doppelte Maßstab „des Westens“

Um ernsthafte internationale Kritik, Ächtung, einem Einfrieren von Vermögenswerten, Embargos, gar massive Sanktionen bis hin zum Abklemmen der Türkei aus dem SWIFT oder einem Decoupling, muss sich der faschistische AKP/MHP-Koalitionsblocks in Ankara aufgrund der doppelten Standards des Westens nicht scheren. Die NATO-Staaten besitzen quasi die Lizenz zum Krieg und haben schon seit Langem ihr eigenes Faustrecht über den Globus verhängt. Und seitdem der „kollektive Wertewesten“ offene Kriegspartei gegen Russland ist, fungiert Ankara im Schatten des Ukraine-Kriegs nicht mehr nur als blutiger Türsteher Europas gegen Flüchtling, sondern mimt bzw. gibt der innenpolitisch in einer tiefen Hegemoniekrise steckende Despot am Bosporus gar den letzten internationalen Vermittler – und gilt der Weltöffentlichkeit sogar schon fast als Friedenstäubchen.

Unbeachtete bzw. mit grünem Licht des Westens versehene neo-osmanische Kriegsgänge und Okkupationen

Zugleich forciert das türkische Regime im Windschatten der imperialistischen Konfrontations-, Kriegs- und Weltordnungspolitik seine neo-osmanischen Ambitionen: einer Ausweitung der türkischen Grenzen auf die nördlichen Regionen Syriens (die es zwischen Tall Abjad und Ras al-Ain bereits mit Segen der Großmächte kontrolliert) bis in die erdölreichen Gebiete um Kirkuk im Nordirak, sowie die Wiedereröffnung der Mossul-Frage. Mit seinen steten Militäroperationen im Nordirak setzt sich die Türkei so auch Schritt für Schritt dauerhaft im Irakisch-Kurdistan fest und okkupiert neben syrischem zusehends auch irakisches Territorium. Nun soll abermals ein 30 Kilometer breiten Streifen entlang der nordsyrischen Grenze kolonialisiert werden.

Bevölkerungspolitische Neuordnung und großangelegte ethnische Säuberungen

Begleitend macht Erdogan auch keinen Hehl aus seiner Absicht einer weiteren, großangelegten bevölkerungspolitischen Neuordnung Nord- und Ostsyriens – wie schon in der nordsyrischen Region Afrin. Flankierend zog in den besetzten Gebieten die türkische Lira als Zahlungsmittel ein, wurden türkischsprachige Schulen eröffnet und verdrängte die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet die nicht-muslimischen Glaubenseinstellungen und breitet über die einst multi-religiöse Region ihr türkisch-islamisches Ideologem aus. Anfang Mai kündigte er im Kontext der Militäroffensive an, 1 Million Geflüchtete, die bisher in der Türkei gelebt haben, in eigens für sie angelegte „Siedlungen“ in den türkisch besetzten und noch zu besetzenden Teile Nordsyriens rückzuführen. Dafür benötigt es nicht „nur“ eines entsprechenden zusammenhängenden Gebiets unter türkischer Kontrolle resp. auch sukzessiver Einverleibung als türkisches Staatsgebiet, sondern darin ist auch das eigentliche Ziel einer umfassenden ethnische Säuberung der Region von KurdInnen, aber auch JesidInnen und assyrischen ChristInnen eingeschrieben. Zur Kontrolle der annektierten Gebiete kann sich Ankara dabei aus dem Vollen ehemaliger Teile der IS-Mörderbanden und anderer djihadistischer Terrormilizen stützen. Im NATO-Hauptquartier und seinen Hauptstädten scheren die kolonialen Okkupationen, ethnischen Säuberungen und die stillschweigende Renaissance des IS indes niemanden.

Cemil Bayik: „Der laufende Angriff auf Südkurdistan ist ein NATO-Angriff“

Da die massive Militäroffensive ohne Einverständnis der USA und NATO schlicht nicht möglich wäre, betonte denn auch Cemil Bayik, Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der KCK (Koma Civakên Kurdistan, Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), wie schon zuletzt nachdrücklich: „Es mag also so aussehen, als führe [ausschließlich] die Türkei den Krieg …, aber in Wirklichkeit ist es die NATO. […] Da die Türkei Mitglied ist, erhält sie sehr umfassende Unterstützung von der NATO. Ohne diese Hilfe hätte die Türkei diesen Krieg nicht bis heute führen können. Die NATO ist diejenige, die diesen Krieg beschlossen hat, und die Türkei setzt diesen Beschluss in die Tat um.“ Für’s Publikum gibt’s allerdings vielleicht die eine oder andere medial vorgetragene „besorgte“ Miene.

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