In der Neujahrsnacht 1993/1994 betrat mit dem indigenen Aufstand der EZLN (Zapatistische Nationale Befreiungsarmee) unter Subcommandante Marcos in Bundesstaat Chiapas in Mexiko eine neue linke Bewegung die Bühne der Weltöffentlichkeit.
Nicht nur für die herrschenden Kreise, auch für die weltweite Linke kam die Revolte der EZLN vielfach überraschend.Die Sowjetunion hatte gerade ein schmähliches Ende gefunden, China forcierte seinen gesellschaftlichen Umbau und seine Öffnungspolitik nochmals, die ArbeiterInnenbewegung war mit der Niederlage des Realsozialismus in ihre tiefste Krise geschlittert, die USA hatte im Irak gerade den größten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg gewonnen, der EU-Imperialismus nahm konkrete Gestalt an, der Neoliberalismus befand sich inmitten seines globalen Triumpfzugs, das sandinistische Nicaragua war vom US-Imperialismus eben erdrosselt worden, die Hochzeit der bewaffneten Kämpfe in Lateinamerika war ebenfalls schon des längeren vorbei, selbst die maßgeblichen Kräfte des Sendero Luminosos in Peru riefen zum Frieden mit der Regierung auf, auch die PKK forcierte verstärkt eine Reihe von Friedensinitiativen und möglicher politischer Lösungen, die siegestrunkene bürgerliche Publizistik rief teils gar das Ende der Geschichte aus, einzig Kuba stand noch wie ein Fels in der Brandung (befand sich aufgrund der Umbrüche aber in einer „periodo expecial“) … Da überraschte ein bewaffneter Aufstand der indigenen Bevölkerung Mexikos aus dem völlig verarmten Südosten und bergigen Hochland – begleitet von vielfach poetisch-blumigen Erklärungen ihres Commandantes – die Welt.
Der Aufstand der Zapatisten
Dass die zapatistische Rebellion gegen Neoliberalismus und die Unterdrückung der Ureinwohner in Mexiko gerade in jener Nacht seinen Beginn nahm, in der Staatspräsident Carlos Salinas die Sektkorken auf das wegweisende, parallel in Kraft getretene neoliberale Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA zwischen Mexiko, den USA und Kanada in Kraft trat, war symbolträchtig. Zeitgleich mit der Knüpfung des Freihandelsabkommens forcierte Salins seinen Privatisierungskurs, lockerte das Verbot des Bodenverkaufs, hob die Bestimmung das Veräußerungsverbot von „Ejido“-Gemeinbesitz („Ejido“: bäuerliche Dorfgemeinschaften der Indios) auf und brachte „Erschließungs-Projekte“ in den Maya-Regionen auf den Weg (ohne die Indio-Bevölkerung auch nur zu konsultieren). Gegen diese sozial-reaktionäre Offensive, die himmelschreiende Misere, die desaströsen Verhältnisse und die rassistische Unterdrückungspolitik nahmen die indigene Guerilleros – in ihrer Mehrzahl vom Volk der Mayas (resp. der Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Mayas) – mit ihrem spektakulären Überraschungscoup den Kampf auf.
Einer der neuralgischen Punkte an denen sich der bewaffnete Aufstand seinerzeit entzündete, war die weitgehende Außerkraftsetzung des Artikels 27 der mexikanischen Verfassung durch Präsident Salinas. Dieser Verfassungsartikel markierte neben dem in der mexikanischen Revolution von 1910 – 1917 verkündeten Recht auf einen 8-Stunden-Tag, auf bezahlten Urlaub und einen gesetzlich fixierten Mindestlohn eine weitere deren wichtigster Errungenschaften. Artikel 27 zufolge war der Boden Mexikos, einschließlich aller Bodenschätze, unveräußerlicher Nationalbesitz. Er konnte Privatpersonen stets nur auf Widerruf zu Nutzung überlassen werden. Dieser Verfassungsartikel bildete dementsprechend über Jahrzehnte die juristische Grundlage der schon 1915 deklarierten Agrarreform und der Auseinandersetzungen um deren zunehmend auf der Strecke bleibender Verwirklichung. Zudem erhielten die bäuerlichen Dorfgemeinschaften der Indios das Recht auf Zuteilung von Boden als Gemeinschaftsbesitz aus den Latifundien. Während zwar bereits nach Amtszeit von Präsident Cardenas (1934 – 1940) – dem Höhepunkt der Agrarreform in Mexiko –, ein Prozess der zunehmenden Re-Latifundisierung einsetzte, trachtete Präsident Salinas darüber hinaus jedoch überhaupt drauf, dem traditionellen juristischen Boden der Kämpfe um die Verwirklichung der Agrarreform und damit verwobenen Errungenschaften der mexikanischen Bauernfamilien, bäuerlichen Genossenschaften und indigenen Gemeinschaften den Garaus zu machen.
Ein neues linkes Projekt in Form zweier paralleler politischer Projekte
Die ersten Worte des mit der Unterschrift von „Commandante Marcos“ unterzeichneten Kommuniqués der Zapatistischen Befreiungsarmee, bildete der seither in sozialen Kämpfen Lateinamerikas millionenfach wiederholte Slogan: „Hoy decimos ¡basta!“ – „Heute sagen wir: es reicht!“ und die allgemein gehaltenen Kampfforderungen nach „Arbeit, Land, Wohnung, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden“.
Darin spiegelt sich, dass die Zapatistas gleichsam stets zwei parallele politische Projekte zu verwirklichen suchten: Zum einen ihre Selbstbestimmung als Indigene und die Überwindung ihrer Diskriminierung wie Unterdrückung, sowie die Anerkennung ihrer Rechte als Ureinwohner. Zum anderen ein neues linkes Projekt gegen den international entfesselten Neoliberalismus und ungezügelten Kapitalismus, für eine globale soziale und humanistische Menschheits-Perspektive von Seiten der Subalternen. Entsprechend erklärte die EZLN von sich neben ihrer Indio-Identität bereits zu Anbeginn denn auch: „Wir sind eine Gruppe von Bauern, Arbeitern und Studenten … und haben uns in einem geheimen Komitee für den revolutionären Kampf organisiert.“ Inwiefern ihnen die Vermittlung beider Projekte dabei im zurückliegenden Vierteljahrhundert gelang bzw. wie tragfähig ihre diesbezüglichen theoretischen Ansätze aus marxistischer Sicht im Einzelnen zu bewerten sind, kann für den vorliegenden Zweck zurückgestellt bleiben. Jedenfalls, so wie sich die föderative Lösung ihres Selbstverwaltungs-Projekts in den ersten Strang einfügt, so ihre internationalistische Ausrichtung gegen den Neoliberalismus und die neoliberale Globalisierung in den zweiten Strang.
Entsprechend strömten zur gemeinsam von der „Koordination der Indio-Völker“ und der Linksparteien, Gewerkschaften und StudentInnenorganisationen Mexikos organisierten Solidaritäts-Demonstration mit den Aufständischen und ihren Forderungen, 1994 auch über 100.000 Menschen auf die Straßen Mexiko-Stadts sowie vor den Sitz des Staatspräsidenten.
Neben den sozusagen herkömmlichen sozialen Fragen, spielte auf dieser Demonstration naturgemäß ebenso der Kampf gegen die rassistische Unterdrückungspolitik eine äußerst bedeutende Rolle. Zumal die Regierung Salinas sogleich über 12.000 Soldaten in Marsch setze und mit Panzern, Hubschraubern und Bombern gegen die Aufständischen vorrückte. Demgemäß erhob der Massenaufmarsch in Mexiko-Stadt neben der Forderung nach einer sofortigen Einstellung des Feuers des Militärs auch Losungen nach einem „Schluss mit der Unterdrückung“ sowie „Stopp dem Völkermord“. Die Dynamik der Ereignisse erzwang mit dem erst ein Jahr zuvor berufenen Innenminister und früherem Gouverneur von Chiapas, Patrocinio Gonzalez, als einem maßgeblichen Verantwortlichen der brachialen Unterdrückungspolitik in Chiapas bereits in der ersten Woche des Aufstands dessen Entlassung.
„Lasst die Zentren der Erde unter dem schwesterlichen Liebesgebrüll erbeben“
Einen nicht minder integralen Bestandteil des neuen linken Projekts der zapatistischen Bewegung bildet zugleich die Frauenemanzipation. Bereits ein Jahr vor dem Aufstand hatten Zapatistinnen mit dem „zapatistischen revolutionären Frauengesetz“ ihre frauenspezifischen Interessen innerhalb der zapatistischen Bewegung formuliert und stark gemacht. Mit ihm sollte ebenso ein neues Kapitel in der Geschichte der Frauenbefreiungskämpfe aufgeschlagen werden, die Gleichstellung der Frau und ihre gleichberechtigte Teilhabe in sämtlichen Lebensbereichen durchgesetzt werden. Auch die zu schützenden Bräuche und Traditionen haben sich dieser Selbstreflexion kritisch zu unterziehen.
Dass es sich hierbei – wenngleich in einem langwierigen, auch von Widersprüchen, Mühsal und Schwierigkeiten geprägten „Kampfes innerhalb des Kampfes“ – nicht einfach um leere Deklarationen handelte, zeigte sich bereits bei der zentralen Besetzung der Stadt Cristobal de las Casas am 1. Jänner 1994, bei der die zapatistische Majorin Ana Maria das Kommando inne hatte. Und während international vorrangig Subcommandante Marcos Widerhall in der Öffentlichkeit fand, repräsentierte in Mexiko in den ersten Jahren des Aufstands insbesondere Commandanta Ramona nachdrücklich zugleich die frauenspezifischen Perspektiven der EZLN. Ein Eckstein, den die Zapatistas als Kampf sowohl gegen die herrschenden patriarchalen Verhältnisse sowohl in der Gesamtgesellschaft wie auch bei den Indigenas selbst verstehen. Demgemäß erklangt aus Nantes gerade erst dieser Tage erneut ihr Ruf: „Lasst die Zentren der Erde unter dem schwesterlichen Liebesgebrüll erbeben“ („Que retiemblen sus centros de la tierra al sorroro rugir del amor“).
Zapatismus im Wechsel der Jahre, aber unbeirrter Wirkmächtigkeit
In einer anschließend wechselvollen Geschichte riefen sich die zapatistischen Gebiete 2003 im Rahmen ihres Selbstverwaltungs-Projekts schließlich zu selbstverwalteten „autonomen rebellischen Gemeinden“ aus. 2013 erklärte dann ihr, seine Identität stets hinter eine Wollmütze mit dünnen Sehschlitzen gehüllter, charismatischer Anführer der ersten Stunde, Subcommandante Marcos, seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit – und ließ am 25.5. 2014 die zur Ikone aufgestiegene symbolische Kunstfigur auf einer Abschiedsveranstaltung „sterben“ und nannte sich ab nun Subcomandante Galeano. Die Zapatisten, allen voran die neue Generation, bräuchten die Figur eines „Subcomandante Marcos“ nicht mehr. Die weitere politische Wirkmächtigkeit der Zapatistas und die weitere Ausgestaltung des zapatistischen Modells der demokratischen Selbstverwaltung blieb davon freilich unberührt – wenngleich sie mit den Jahren stark an medialer Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit einbüßten und mehr und mehr von der nationalen politischen Bühne Mexikos verschwanden.
Letzteres lag sicherlich auch an der insbesondere von Marcos vertretenen strikten Abgrenzung zu anderen linken Organisationen in Mexiko und Parteien im Allgemeinen. Während die Zapatistas auf der anderen Seite freilich zunehmend ihre Verbindung mit autonomen mexikanischen Bauernbewegungen, anderen Indigenas und der internationalen Zivilgesellschaft zu festigten trachteten.
Gleichzeitig verschob sich das Gewicht stärker auf die zivilen Belange des Aufbaus, der Konsolidierung und der Verwaltung der autonomen kommunalen Selbstverwaltung (gegenüber der Befreiungsarmee), und damit einhergehend auch einer deutlicheren Trennung der (ursprünglich ja bereits 1983 hervorgegangenen) Guerrila und ihrer politischen „Frente“.
500 Jahre Conquista
Zwölf Jahre vor ihrem Aufstand wurde – allen voran von Spanien – in der UNO der Antrag gestellt, das Jahr 1992 als 500. Jubiläumsjahr der Entdeckung Amerikas durch die Spanier – sprich: 500 Jahre Eroberung des Kontinents – mit sogenannten „würdigen“ Gedenkfeiern zu begehen. Eine Eroberung die untrennbar mit dem Namen Christoph Kolumbus, aber auch mit den massenmörderischen Schlächtern Hernán Cortés und Francisco Pizarro verbunden ist.
Die indigenen Bewegungen und Organisationen des Kontinents haben bereits damals ihren nachdrücklichen Protest dagegen zum Ausdruck gebracht. Die Zapatistas wiederum schicken sich dieser Tage die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.
Ampam Karakas, damaliger Sprecher der Indigenen-Bewegung Ecuadors etwa, bezeichnete die Eroberung Lateinamerikas als bewussten Genozid, als Usurpation, gewaltsame Aneignung des Territoriums und der Rohstoffe, Zerschlagung der sozialpolitischen und kulturellen Institutionen und als ideologische Unterwerfung durch die Zerstörung der indigenen Identität.
Nach Berechnungen des amerikanischen Anthropologen Henry F. Dobnys kostete die Eroberung Amerikas und Dezimierung der autochthonen Bevölkerung über 90 Millionen Indigenen das Leben. Ein bis heute unfassbarer Genozid.
Zugleich wurden rigorose ethnische und soziale Diskriminierungen und Hierarchien, ein struktureller und vielfach offener Rassismus etabliert, die den Kontinent auch heute noch prägen.
Die Geschichte gegen den Strich bürsten: „Umgekehrte Conquista“
Vor diesem Hintergrund und der globalen politischen Lage, kündigte die Zapatistische Bewegung bereits letzten Oktober an, dass sie 2021 zapatistische Delegationen auf alle fünf Kontinente entsenden werde. Symbolisch für ihre Europa-Delegation steht dabei der 13. August. Der 13. August ist ein historischer Trauertag. Genau 500 Jahre zuvor brachen die spanischen Conquistadores den Widerstand der Méxica (Fremdbezeichnung: Azteken) und besetzten die letzte widerständige Hauptstadt des Dreierbundes, Tenochtitlan. Die Stadt lag nach harten Gefechten in Trümmern, Zehntausende ihrer BewohnerInnen waren hingemordet. Damit war der staatliche Widerstand der Konföderation gegen die Conquista gebrochen. Um an das ersehnte Gold zu gelangen, wurde der letzte Aztekenherrscher Cauthemoc im Auftrag Cortés brutal gefoltert. Die Spanier übergossen ihm die Beine mit Öl und sengten sie im Feuer. Aber Cauthemoc verriet ihnen nicht wo die begehrten Goldschätze liegen. Wenig später wurde er „wegen Vorbereitung eines Aufruhrs“ von den Conquistatoren gehenkt. Cortés kehrte später nach Spanien zurück, wo ihm Karl V. den kastilischen Titel „Admiral des Südmeeres“ verlieh und zum „Marqués des Tales“ erhob (er also das eroberte Gebiet als Erbbesitz erhielt). Doch die dezentralen Gesellschaften, insbesondere der Maya-Völker, befinden sich bis heute in einer ungebrochenen Widerstandskontinuität.
Die „La Montaña“, das Segelschiff der zapatistischen Delegation, hat am 20 Juni nach siebenwöchiger Schiffsreise denn auch bereits das europäische Festland erreicht. Die Vorhut der VertreterInnen der Zapatistas liefen im galizischen Hafen Vigo ein.
Neben den zahlreichen Treffen in den verschiedensten Ländern, hat Europa betreffend natürlich die geplante Ankunft der Zapatistas in Madrid, der Hauptstadt jenes Landes aus dem in den vergangenen fünf Jahrhunderten die meisten Conquistadores in die Amerikas aufbrachen, am 13. August 2021 eine überrangende symbolische Bedeutung. Mit dem pünktlichen Eintreffen der Delegation in Madrid will die zapatistische Bewegung zeigen: „Wir sind hier, sie konnten uns nicht kolonialisieren. Wir leisten weiter Widerstand, unser Aufstand geht weiter.“ Auf ironische Weise bezeichnen die Zapatistas daher ihre Delegationen selbst als „umgekehrte Conquista“.
Foto: Cesar Bojorquez, flickr (CC BY 2.0)