Wir dokumentieren unsere Rede auf der Kundgebung „Keine Einzige* weniger“ – gegen Gewalt an Frauen und Femizide vom 6. April in Wien.
Am 5. April ist die von ihrem Ex-Partner ein Monat zuvor mit Benzin übergossene und angezündete 35-jährige Wiener Trafikantin ihren schweren Verletzungen erlegen. Es ist bereits der 7. Femizid in diesem Jahr. Und ein noch dazu besonders brutaler und widerwärtiger. Etwa gleichviele Frauen überlebten seit Jahresbeginn einen Mordversuch schwer verletzt.
Und die Zahl der Morde und Mordversuche an Frauen steigt auch hierzulande seit Jahren an. Ja, gerade Österreich nimmt diesbezüglich seit Jahren einen traurigen Spitzenplatz im EU-Vergleich ein. Alleine 2019 wurden in Österreich 39 Frauen ermordet. Letztes Jahr – nach Medienberichten – 24.
Zudem ist in Österreich täglich eine von fünf Frauen ab ihrem 15. Lebensjahr körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Verstärkt nochmal unter Bedingungen von Lockdowns, Quarantäne, Massenarbeitslosigkeit und der mit ihnen einhergehenden angespannteren Situationen und Frust, patriarchaler Machtausübung, den Existenzsorgen und häuslich beengten Wohnverhältnissen. ExpertInnen gehen dabei gleichzeitig von einer steigenden Dunkelziffer aus und setzen diese mit über 65% an.
Diese vielfältigen patriarchalen Gewaltakte – von versteckteren psychischen Formen der Gewalt, über brachiale Gewaltexzesse und Misshandlungen bis zu Morden – finden zumeist allerdings nicht durch Fremde auf Straßen oder in Parkanlagen im Schutz der Nacht, sondern in der Regel im nahen Umfeld, vielfach in Partnerschaften oder der Familie bzw. dem weiteren Familienkreis statt.
Vor diesem Hintergrund ist unter gesamteuropäischem Blickwinkel auch der Austritt der Türkei auf Präsidialdekret Recep Tayyip Erdoğans aus der Istanbuler Konvention für Frauenrechte nochmals besonders bezeichnend.
Dass das faschistische AKP/MHP-Regime diese erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung und damit Rechtsrahmen für Frauenrecht gerade inmitten der grassierenden Corona-Pandemie suspendiert hat, bildet dabei eine besondere Provokation. Gerade in der Pandemie stieg die Gewalt an Frauen noch einmal in all ihren Dimensionen an. Entsprechend zählte die Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (KCDP) in der Türkei alleine im vergangenen Jahr 300 Femizide. Und registrierte seit Anfang dieses Jahres weitere rd. 80 Frauenmorde. Hinzu kommen Fälle hunderter Frauen, die auf verdächtige Weise tot aufgefunden worden sind.
Gleichviel hält dieser reaktionäre Backlash nicht nur in der Türkei Einzug. Auch nicht die Istanbuler Konvention betreffend. So kündigte etwa bereits im Vorjahr die rechts-konservative polnische Regierung an, einen Austritt aus der Vereinbarung anzustreben und ist gerade bestrebt einen gesetzlichen Gegenentwurf auf den Weg zu bringen. Die EU-Länder Ungarn und die Slowakei wiederum haben die Konvention bis heute erst gar nicht ratifiziert. Selbiges gilt auch für Tschechin, Bulgarien, Lettland und Litauen. Und auch in Kroatien nehmen die Kräfte und Bestrebungen eines Austritts zu. Die Empörung über den türkischen Austritt seitens zahlreicher EU-Spitzen ist sonach mehr als berechtigt. Nur dahingehend hat man von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell oder den österreichischen Staatsspitzen bisher noch keinen Aufschrei vernommen.
Im Kontext dieser europaweiten Verschiebungen des politischen Koordinatensystems nach rechts, ging auch dem türkischen Aus der Konvention eine von einer religiös-konservativen Plattform losgetretene, mehrmonatige Debatte voraus, die in der Istanbuler Vereinbarung in ihrem anachronistischen Weltbild eine Gefährdung der „Religion“, „Ehre“ und des „Anstands“ sah.
Aber ebenso, wie sich etwa die Frauenbewegung Polens vehement gegen diesen Backlash und den von der Regierung vorangetriebenen Gegenentwurf »Ja zur Familie, nein zu Gender« stemmt, kämpfen die Frauenbewegung, progressiven Fortschrittskräfte und die Linke in der Türkei wie auch in Österreich unbeirrbar und unnachgiebig für die Verteidigung der Frauenrechte und die Emanzipation der Frauen sowie aller LGBTIQ+ (von Reaktionären wie dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu schlicht als „Perverslinge“ verunglimpft). Freilich unter je verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Lagen, wie gerade die gestrigen Massenverhaftungen und wogende Repressionswelle gegen die Frauenstrukturen und den Verein Rosa in Amed, sowie Polizeibrutalität gegen die Protestdemonstrationen gegen den Austritt aus der Istanbuler Konvention deutlich vor Augen führen.
Währenddessen treffen die sich in Sonntagsreden gelegentlich „besorgt“ gebende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel heute unberührt von alledem in der Türkei ein, um den Autokraten am Bosporus, Recep Tayyip Erdoğan, die Visite abzustatten. Mit im Gepäck für den Gastgeber haben die beiden neben weiteren Milliardenschweren Finanzhilfen im Zusammenhang des EU-Türkei Flüchtlings-Deals, eine neue Agenda zur verstärkten Wirtschaftszusammenarbeit. Der Austritt Ankaras aus der Istanbuler Vereinbarung steht nicht auf der Tagesordnung des Reiseplans. Gegebenenfalls kaschiert man/frau diese leicht schiefe Optik für die EU freilich mit dem folgenlosen Stehsätzchen, dass man auch weiterhin „besorgt“ bleibt.
Und auch wenn die unterschiedlichen Anstrengungen der patriarchal geprägten Klassengesellschaften und ihrer politisch herrschenden Figuren, das Rad der Frauenemanzipation geschichtlich zurückzudrehen, in seinen Dimensionen nicht in eins zu setzen sind, sei doch daran erinnert, dass unter Türkis-Grün anstatt der Wiedereinrichtung eines eigenen Frauenministeriums, die Frauenagenden ins Integrationsministerium (!) verräumt wurden – und das unter Führung einer Ministerin, deren Partei etwa das Frauenvolksbegehren 2.0 und dessen Forderungen rundweg ablehnte.
Umso notwendiger ist es, uns diesem breiten reaktionären Backlash vereint und mit allen Kräften kämpferisch und in internationaler Solidarität entgegenzustellen.
Unsere Empörung, unsere Wut und unser Widerstand wird keinen Fußbreit nachlassen!
Wir werden keinen Femizid mehr unbeantwortet lassen!
Wir waren, wir sind – wir werden sein!