„Die Welt“ trauert und verabschiedete sich von Queen Elizabeth II. – aber ist es wirklich der ganze Globus der sich vor der Regentin des Britischen Empires als „ihrer Heldin“ verneigt?
Angesichts des Ablebens und der heutigen weltweit übertragenen Beerdigung der englischen Langzeitkönigin Queen Elizabeth II. wäre man natürlich fast herausgefordert ihre 70jährige Regentschaft und die britische Entwicklung ihrer Ära zu resümieren. Ein solches Unterfangen sprengte allerdings jeden Rahmen. Der Aufstieg des englischen Empires jedenfalls fußt historisch untrennbar auf kolonialer Unterwerfung und Plünderung, Sklavenhandel und Kolonialkriegen (auch gegen seinen schwindenden kolonialen Einfluss nach 1945). Das britische Kolonialreich (inkl. Halbkolonien) erstreckte sich von Kanada über große Teile Afrikas, Indien, China bis nach Australien. Und auch die Geschichte des Vereinigten Königreichs unter der nun in einem Hype sondergleichen verklärten Monarchin war von knallharter Machtpolitik und imperialistischen Kriegen gekennzeichnet. Schon der große Immanuel Kant verurteilt in seiner Anklagerede in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ unerbittlich den Kolonialismus, die Verbrechen, den Sklavenhandel und die Sklaverei in den Kolonien Großbritanniens als Gipfelpunkt der „Mächte [Europas], die von der Frömmigkeit viel Werks machen“, in Wirklichkeit aber „Sitz der aller grausamsten und ausgedachtesten Sklaverei“ sind. Und gerade diese „Staaten unseres Weltteils“ wollen – wie Kant empört fortfährt – „indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten wissen.“ Selbst der „Standard“ sah sich gerade zu konstatieren gezwungen, dass es beiweilen nicht „die Welt“ ist die um die Regentin im Buckingham Palace trauert: „In Afrika erinnert man angesichts der beispiellosen Zeremonien um den Tod von Königin Elizabeth II. an die Gräuel von Kolonialismus und Sklaverei.“
Oder wie ein indischer Historiker zum Tod der gehypten Monarchin und des von ihr nur widerwillig zur Kenntnis genommenen Abstiegs des Britischen Empires und der Auflösung dessen weltweiten Kolonialreichs, allerdings auch nach Verlust seiner hegemonialen Vorherrschaft von ungebrochenen imperialistischen Kriegsgängen gekennzeichnet, gerade in Erinnerung rief: „Es gibt nur 22 Länder, in die Großbritannien im Laufe der Geschichte nie einmarschiert ist.“
Entsprechend war sie bis zuletzt auch noch das „Haupt des Commonwealth, ein Staatenbund aus der Erbmasse des Kolonialreichs, dem 56 Staaten angehören“, wie „Qualitätsmedien“, die Boulevardpresse und der Rundfunk in seiner Dauertrauerberichterstattung neben schwülstigen Narreteien am britischen Königshaus mit famoser Blindheit geschlagen oder inszenierten Verblendungen friktionslos vermelden. Zu Beginn ihrer Regentschaft war sie zudem noch Staatsoberhaupt von 32 Ländern, seitdem hat sie aber mehr als die Hälfte dieser Staatsoberhaupttitel verloren und stellt die englische Krone aktuell noch 15 derartige anachronistische Erbpachten.
Und so klafft auch eine eklatante globale „Wahrnehmungslücke“: „Die einen erinnern sich an eine Frau in bunten Kleidern, die Empfänge organisieren ließ und – wie nun oft betont wurde –‚ schon immer da war‘“ … und in „Zeiten von Krisen … etwas Stabilität ausstrahlte“, so jüngst Mohamed Amjahid in seinem Artikel „Wessen Heldin?“ zugespitzt. „Die anderen erinnern sich an ihre Rolle währen der Suezkrise 1956 [wegen der Nationalisierung der Suez-Kanal-Gesellschaft durch Ägyptens Staatschef Nasser] … an den Mau-Mau-Aufstand im heutigen Kenia … an die Apartheid in Südafrika … Bei all diesen Menschheitsverbrechen spielte die Queen eine aktive Rolle.“
Angesichts der aktuellen politischen Weltlage trat jüngst auch wieder die gegenüber der kolonialen Unterwerfung Indiens und Chinas nicht ganz so bekannte britische Kolonialgeschichte in Kenia stärker erneut ins Bewusstsein. Und die Thronbesteigung Elizabeths fällt auch zeitlich exakt mit dem blutigen Terror und Kolonialkrieg Großbritanniens gegen die später unter dem Namen „Mau-Mau“ zum Synonym für den antikolonialen Befreiungskampf in Kenia gewordene Erhebung zusammen. Im Frühjahr 1952 übernahm die Queen aus dem Hause Windsor die Regentschaft im Britischen Empire. Sie befand sich während ihr Vater George VI. starb gerade auf Weltreise in Kenia. Ihre Proklamation wurde denn auch in Nairobi verlesen. Im selben Jahr eröffnete London seinen Kolonialkrieg gegen die antikoloniale Massenbewegung in Kenia, verhängte den Ausnahmezustand über das Land und entfachte unter dem Namen Operation Jock Scott eine Verhaftungswelle gegen die für die Unabhängigkeit streitenden politischen RepräsentantInnen des Landes und regelrechte Menschenjagden auf UnabhängigkeitskämpferInnen.
In Kenia lebten damals rund 62.000 EuropäerInnen und 5,5 bis 6 Millionen „Farbige“. Die „weißen“ Eliten strebten in ihrer überwältigenden Mehrheit ein ‚Zweites Südafrika‘ an. Um das geplante Apartheids-Gebiet der Unterwerfung noch auszudehnen, wurde nach 1945 der Versuch unternommen, ihm auch die Territorien und AfrikanerInnen Ugandas und Tanganjika (heute – vereint mit Sansibar – Tansania) einzuverleiben (was misslang). Aber selbst der ebenso grausame wie blutige Kolonialkrieg gegen die afrikanische Bevölkerung Kenias 1952 – 1956 samt Einsatz aller dem Imperialismus zur Verfügung stehenden Arsenale des kolonialen Terrors (von Ausnahmegesetzen, über massenhafte Folter und Konzentrationslager, bis zur Flächenbombardierung von FreiheitskämpferInnen) konnte den hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung und die Beseitigung der Kolonialherrschaft nicht verhindern. Ja, die Partisanenarmee und eine Untergrundbewegung in den Städten und Dörfern errangen immer wieder beachtliche Erfolge. Dabei verglichen nach Kriegsende selbst britische Kolonialoffiziere das etablierte System grausamer Folterungen und Hinrichtungen offen mit jenen des europäischen Faschismus. Gleichzeitig verdeutlichte die Vehemenz, Breite und Hartnäckigkeit der Kämpf der englischen Krone sowie den europäischen Siedlern in Kenia die Aussichtslosigkeit des Vorhabens, Kenia nach Vorbild Südafrikas in ein Regime der institutionalisierten Rassentrennung und des permanenten Terrors gegen die einheimische Bevölkerung unter Herrschaft der „weißen“ Eliten er- und einrichten zu wollen. Der Ausnahmezustand blieb zwar noch bis 1960 aufrecht, im Oktober 1963 sah sich London jedoch gezwungen, auch Kenia in die Unabhängigkeit zu entlassen. Das britische Empire sah sich schlicht nicht mehr imstande, seine Kolonialmacht in Kenia zu stabilisieren.
Vor derartigen der Regentschaft der Queen anhaftenden kolonialgeschichtlichen Hintergründen empörte sich denn auch gerade die aus Nigeria stammende Professorin Uja Anya angesichts des Schicksals Igbo-Volks (das hier geschichtlich im Einzelnen zurückgestellt bleiben muss, in dem sich zumindest als Hinweis aber ethnische Konflikte mit einer prekären Unabhängigkeit, imperialistischen Interessen und die Lage wichtiger Öllagerstätten zu einem Konglomerat verflochten) mit den drastischen Worten: Sie wünschte Elizabeth II. einen „qualvollen“ Tod: „Wer erwartet hatte, dass ich etwas anderes als Verachtung für eine Monarchin übrig habe, die eine Regierung beaufsichtigte, die einen Völkermord unterstützte, der die Hälfte meiner Familie massakrierte oder vertrieb, der täuscht sich gewaltig.“
Es würde selbst jeden erdenklichen Rahmen sprengen hier in toto auf die als Kolonialmacht zu verantwortenden Millionen Toten in Indien oder in China einzugehen, die globalen Verwüstungen und Kriegsgänge der einstigen führenden imperialistischen Weltmacht auch nur ansatzweise skizzieren zu wollen, ihre unzähligen Kolonialkriege gegen ihren schwindenden kolonialen Einfluss oder auch Interventionen wie etwa 1946 in Griechenland gegen die kommunistische ELAS und DSE, oder auch in Indonesien (die der US-unterstützte und von Großbritannien tolerierte und gutgeheißene Putsch 1965 in einem der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts mit binnen kurzem etwa einer Million Ermordeter und nochmals etwa einer Million Weggesperrter zu Ende brachte – und damit die nach der KPdSU und KPCh drittgrößte kommunistische Partei der Welt regelrecht vom Erdboden radierte) näher ins Gedächtnis zu rufen, an vergessen gemachte Kriegsgänge wie den Falklandkrieg 1982 zu erinnern, die an der Seite des großen Bruders in Washington geführten jüngeren Angriffskriege wie dem 1. Irak-Krieg 1991, dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 (mit dem erstmals nach 1945 der Krieg erstmals nach 1945 nach Europa zurückkehrte), der 20jährigen Militärintervention in Afghanistan 2001 – 2021, dem 2. Irak-Krieg 2003, der Militäroffensive gegen Libyen 2011, dem militärisch und logistisch unterstützten Krieg im Jemen seit 2015 (laut UNO die „größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit“) … Und das alles mit dem royalen Segen ihrer Majestät im Buckingham Palace.
Verfolgt man – auch unter Berücksichtigung der Pietät – die schwülstigen Berichterstattungen, Pomp und Glorie, die politischen Kondolenzen (nicht zuletzt auch aus Österreich) und regelrechten Vernarrtheiten in die (persönlich zumal bekanntlich durchaus rassistisch wie anti-feministisch eingestellte) Queen und Obsessionen für das britische Königshaus sowie royalem Kitsch der „westlichen Wertegemeinschaft“, glaubt man sich aus der Zeit gefallen. Es bedarf denn schon eines indischen Historikers um diesen grotesken, rein westlichen Blick auf den Tod der gefeierten Monarchin und ihres Empires unter weltpolitischem Blickwinkel zu relativieren: „Es gibt nur 22 Länder, in die Großbritannien im Laufe der Geschichte nie einmarschiert ist.“ „Britische Schiffe transportierten insgesamt drei Millionen Afrikaner als Sklaven in die Neue Welt.“ „Ein Imperium, das Elend und Hungersnot nach Asien und Afrika brachte. Keine Tränen für die Königin. Keine Tränen für die britische Monarchie.“ Unerbittliche und harsche Worte freilich – die man allerdings auch von Kenia über Ägypten bis Pakistan vernehmen konnte –, aber sie vermögen im Sinne Kants auch den Blickwinkel anderer einzunehmen und einzubeziehen um sich ein gebotenes, rational geprägtes Urteil zu bilden und die Bubble der westlichen Selbstgefälligkeit wie Selbstgerechtigkeit zumindest ein Stück weit kritisch zu be- und hinterfragen. Denn: „Für Millionen von Menschen in den ehemaligen Kolonien Großbritanniens [und seinen imperialen Einflusssphären] war und ist Queen Elizabeth II. dagegen das Gesicht eines ausbeuterischen und gewalttätigen Regimes, das bis heute Landesgrenzen und Lebensrealitäten prägt“, so auch nochmals der bereits weiter oben zitierte Mohamed Amjahid. „Sie habe keinen politischen Einfluss gehabt und nichts ausrichten können, heißt es oft. Dabei hätte sie sich hinter den Kulissen und in der Öffentlichkeit durchaus davon distanzieren können, dass in ihrem Namen geraubt und gemordet wurde.“
Ja, sie hat sich als Königin – und damit nun mal höchste Repräsentantin des Britischen Empires – auch nie für die kolonialen Verbrechen des Vereinigten Königreichs entschuldigt. „Eine Thematisierung der kolonialen Melancholie Europas seit jetzt pietätlos, gaben einige in den vergangenen Tagen zu Protokoll. In Wahrheit ist für sie eine Thematisierung des Kolonialismus immer fehl am Platz.“