Heute vor 80 Jahren begann der faschistische Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion, die das Land mit Krieg, Terror und Schrecken überzogen und die Menscheit vor die Alternative Befreiung oder faschistische Barbarei und ein triumphierendes Nazireich in Europa stellte. Zu diesem geschichtsträchtigen Hintergrund denn auch ein Beitrag von Klaus Wagener, aus der aktuellen UZ (unsere zeitung).
Der Krieg im Osten wurde mit zynischer Brutalität geführt. Mit den siegreichen Kriegen im Westen glaubten sich der Faschismus und die Wehrmachtsspitzen hinreichend stark, um die strategische Ostexpansion des Deutschen Reiches vorantreiben zu können. Die Aufrüstung zur vollen Kriegsstärke war vom Reichswehr-Generalstab bereits 1923 bis 1925 detailliert geplant worden. Und nach exakt diesen Reichswehr-Planungen wurde die deutsche Kriegsmaschine errichtet und genauso eröffneten die Hitlerfaschisten 1939 den Zweiten Weltkrieg.
Die Reichswehr/Wehrmacht als das entscheidende deutsche Machtzentrum hätte Faschismus, Krieg und Vernichtung verhindern können. Die Militärs wählten die Kollaboration. Auch sie wollten den Krieg, auch den Vernichtungskrieg. Eine „saubere Wehrmacht“ gab es nicht. Von vornherein war allen Beteiligten klar, dass dieser Krieg als „weltgeschichtlicher Kampf“ gegen das „Weltjudentum“ und den „Bolschewismus“ zu konzipieren war, wie Hitler es schon in „Mein Kampf“ geschrieben hatte und wie es dann bei den vorbereitenden Gesprächen mit den Spitzen des faschistischen Staatsapparates und des Militärs immer wieder dargelegt wurde. Wie bei der Besprechung mit 200 führenden Wehrmachtsoffizieren am 30. März 1941, bei der Hitler ausdrückte, was alle dachten: der Kommunist sei „vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad“. Es gehe um die „Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz“.
Der neue deutsche „Lebensraum im Osten“ sollte nach der Eroberung als eine Art vorindustrieller, hauptsächlich agrarischer Siedlungsraum mit spärlicher, nur notdürftig gebildeter Bevölkerung entstehen. Dazu musste die 170-Millionen-Bevölkerung der UdSSR deutlich dezimiert werden. „Die Bildung einer militärischen Macht westlich des Ural“ dürfe „nie wieder in Frage kommen und wenn wir hundert Jahre darüber Krieg führen müssten“, so hatte es Hitler vor Partei- und Wehrmachtsführern am 16. Juni 1941 ausgedrückt.
Ebenso klar war den Nazi- und Wehrmachts-Kriegsplanern, dass das Ziel von „Barbarossa“ die Eroberung, Annexion und wirtschaftliche Ausbeutung des weiten sowjetischen Raumes, des „neuen Lebensraumes im Osten“ war. Die Eroberung „neue(r) Gebiete in Europa“ könne „in der Hauptsache nur auf Kosten Russlands geschehen“, hatte Hitler in „Mein Kampf“ geschrieben, das neue deutsche Reich solle „seinen Vormarsch auf demselben Wege beginnen, den in früheren Zeiten die deutschen Ordensritter entlangritten, diesmal jedoch, um durch das deutsche Schwert Boden für den deutschen Pflug zu gewinnen und so der Nation ihr tägliches Brot zu geben“. In die gleiche Richtung dachte auch die deutsche Generalität. Daher der Codename „Barbarossa“. Natürlich ging es nicht nur um „das tägliche Brot“, sondern vor allem auch um Arbeitskräfte, Rohstoffe, Kohle, Erze, Mineralien und insbesondere Erdöl. Das „deutsche Schwert“ hatte zu diesem Zweck die „Wirtschaftsorganisation Ost“, eine Mammutbehörde mit 20.000 Mitarbeitern, geschaffen, die damit größer war als die kriegswirtschaftlichen Verwaltungen des Reiches und aller übrigen besetzten Gebiete zusammengenommen. Strategisch betrachtet ging es um die Schaffung eines vom Deutschen Reich unangefochten beherrschten Großraums vom Atlantik bis zum Ural, von der Barentssee bis zum Nahen/Mittleren Osten.
Schon das Kaiserreich hatte mit der Bagdadbahn und mit Hilfe der Osmanen vergeblich versucht, Zugriff auf die strategisch wichtigste Region des Globus zu erlangen. Nun versuchte es der deutsche Faschismus mit einer Art großräumiger Zangenbewegung von Nordwesten durch die Sowjetunion und von Südwesten aus Nordafrika. Das erklärte geostrategische Ziel war die Erringung einer blockadesicheren Nahrungsmittel-, Energie- und Rohstoffversorgung, der Erbeutung eines ausreichenden Arbeitskräftepotentials, um dem herrschenden anglo-amerikanischen Machtkomplex auf Augenhöhe gegenübertreten zu können. Hier lagen, wie es sich im Ersten Weltkrieg gezeigt hatte, die großen kriegswirtschaftlichen Probleme des strategisch weit unterlegenen Deutschen Reiches. Der Faschismus hatte diese Kriegsziele, die zur Erringung einer Weltmachtposition führen sollten, nicht erfunden. Sie wurden in den strategischen Zirkeln des Reiches schon seit mehr als einem halben Jahrhundert diskutiert.
Das „tägliche Brot“ des Reiches war aus eigenen Ressourcen nicht zu sichern. Im Ersten Weltkrieg waren angesichts der britischen Seeblockade 800.000 Menschen in Deutschland aufgrund von Unterernährung gestorben. Die „Barbarossa“-Planungen sahen daher eine Nahrungsmittelversorgung aus den Ressourcen der Sowjetunion vor. Auf der Besprechung der Staatssekretäre am 2. Mai 1941 stellte Staatssekretär Herbert Backe (Ernährung und Landwirtschaft) die nach ihm benannten agro-ökonomischen Planungen für „Barbarossa“ vor. Danach sollten dort allein 8,7 Millionen Tonnen Getreide für Deutschland requiriert werden. Die Sowjetunion hatte keine Getreideüberschüsse. Den Planern war klar, dass „hierbei zweifellos zig Millionen Menschen verhungern“ werden. Die sowjetische Getreideproduktion hatte sich in Folge des Krieges in 1942 ohnehin auf 11,7 Millionen Tonnen etwa halbiert. Trotzdem wurden den sowjetischen Menschen in diesem Jahr 4,3 Millionen Tonnen Getreide, 495.000 Tonnen Fleisch, 723.000 Tonnen Speiseöle und Fette und 1,9 Millionen Tonnen Kartoffeln geraubt. Der Hunger wurde ebenso wie das Morden der Einsatzgruppen zu einem primären zynischen Mittel zur Dezimierung der Bevölkerung. Nicht nur rund eine Million Bürger Leningrads, auch drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene ließ man bewusst verhungern. Insgesamt starben mehr als sieben Millionen Sowjetbürger durch den Hungerplan des deutschen Faschismus.
Mit „Barbarossa“ begannen auch die systematischen Vernichtungskampagnen der als Juden, Slawen, Zigeuner oder sonstwie als „Untermenschen“ diskriminierten Menschen, sogar von Kranken und Behinderten, aber auch die Ermordung von Partisanen, Kommunisten, von Rote-Armee-Kommissaren, von Angehörigen der Intelligenz und von sowjetischen Kriegsgefangenen. Es begann die Errichtung der sechs großen Vernichtungslager Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz-Birkenau. Das Morden der als „Einsatzgruppen“ verharmlosten Killerkommandos aus SS und SD hatte schon während des Überfalls auf Polen begonnen, wurde nun aber massiv ausgeweitet. Eine der bekanntesten Massenerschießungsstätten lag in der Schlucht Babij Jar bei Kiew. Hier wurden zwischen 1941 und 1943 etwa 100.000 bis 200.000 Menschen erschossen. Insgesamt ermordeten die Einsatzgruppen in der UdSSR etwa 1,5 Millionen Menschen.
Die Dezimierung der sowjetischen Bevölkerung um 30 Millionen wurde allerdings nicht erreicht. Die deutschen Planungsstäbe hatten nicht mit dem Widerstandswillen der sowjetischen Menschen gerechnet. Nach der Operation Bagration im Sommer 1944, bei der die Rote Armee die gesamte Wehrmachts-Heeresgruppe Mitte zerschlug und rund 600 Kilometer bis Ostpreußen und Mittelpolen vorstieß, hörte das große Morden auf russischem Boden auf. „Barbarossa“ stand wieder an der deutschen Grenze.
Wer Menschen im großen Stil umbringen will, braucht dazu eine legitimierende Theorie, die ihn und seine Anhänger davon zu überzeugen vermag, dass das, was sie tun, richtig und notwendig ist. Die lebensphilosophischen und rassebiologischen „Begründungen“ für den Vernichtungskrieg im Osten sind ebenso wenig vom deutschen Faschismus erfunden worden wie die dazu notwendigen Truppenformationen. Den Hitlerfaschisten gebührt das „Verdienst“, die seit Jahrzehnten kursierenden rassistischen und geostrategischen Wahnvorstellungen aufgegriffen, zu einer „Staatsidee“ zusammengebastelt und sie im Verlauf des Krieges hin zu einem Vernichtungswillen radikalisiert zu haben. Mit der Herausbildung des Imperialismus entwickelten seine Theoretiker den alten, häufig religiös geprägten Suprematiegedanken, der geholfen hatte, Millionen Indigene in Amerika umzubringen und Millionen Afrikaner zu versklaven, zu einem biologisch definierten, „wissenschaftlich“ begründeten Rassismus weiter. Grob verkürzend: Arthur de Gobineau hatte 1855 mit seinem „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ gewissermaßen das Tor dazu aufgestoßen. Mit einem auf die menschliche Gesellschaft übertragenen Sozialdarwinismus wurde aus der Ungleichheit ein Überlebenskampf der Menschenrassen. Nietzsche hatte in seiner „Genealogie der Moral“ dem „Raubtier“, der „prachtvolle(n) nach Beute und Sieg lüstern schweifende(n) blonde(n) Bestie“ seine ganze Sympathie zugeschrieben. Nietzsche und seine Adepten waren im Kaiserreich und in der Weimarer Republik in rechten Kreisen entsprechend populär. Der verlorene Erste Weltkrieg hatte zu einer Radikalisierung dieser Ansichten geführt. Eine Radikalisierung, die zum Mordprogramm wurde, als nach 1941 auch dieser Krieg verloren zu gehen drohte.
Die „vornehme Rasse“ (Nietzsche) der Arier hatte in dieser „Logik“ nicht nur das Recht, sondern es war ihre historische Aufgabe, sich von der Bedrohung und Durchmischung niederer, parasitärer Rassen zu reinigen und zu befreien. In diesem Sinne war die „Endlösung der Judenfrage“ und die Eliminierung des slawisch-jüdischen Bolschewismus ein Akt der Notwehr und der Befreiung. Die Täter, die SS- oder SD-Einsatzgruppen waren, wie Himmler bei seinen Posener Reden mehrfach betonte, Helden, welche das deutsche Volk vor der Dekadenz, dem Verfall und letztlich der Versklavung bewahrten. „Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“ Die millionenfachen Morde – „ein Ruhmesblatt unserer Geschichte“. In der Tat: Die Aufkündigung aller zivilisatorischen Standards, „die Umwertung aller Werte“.
Klaus Wagener, aus UZ vom 18. Juni 2021
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