„Der vermessene Mensch“ – der anlaufende Kinofilm zum deutschen Kolonialverbrechen des ersten Genozids des 20. Jhd.

„Weil deutsche Kolonialverbrechen in Afrika ein halbes Jahrhundert früher endeten als die Englands und Frankreichs“ (da das Deutsche Reich als Kriegsverlierer durch den Versailler Vertrag seine kolonialen Besitzungen nach dem Ersten Weltkrieg verlor), „blieben die etwa eine Million Toten, die deutscher Kolonialismus in Afrika verursacht hatte“ – so Sabine Kebir – und die kolonialen Verbrechen Deutschlands bis hin zum ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, dem Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia, stärker im Schatten. Unter dem Titel „Der vermessene Mensch“ ist dieser Tage der erste deutschsprachige Kinofilm, der sich mit diesem grauenhaften Verbrechen des deutschen Kolonialismus auseinandersetzt, in den Kinos angelaufen.

Die ‚modernisierte‘ Rassenirrlehre des 19. Jhd. und „Der falsch vermessene Mensch“ (St. J. Gould)

Der Titel spielt dabei auf den im Zeitalter der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert modernisierten Rassismus an, der der Rassendoktrin einen „wissenschaftlichen“ Anstrich geben sollte. Der bekannte amerikanische Paläontologe Stephen Jay Gould tat sich 1977 die Arbeit an, die Zahlen dieser Irrlehre und „zoologischen Anschauungsweise“ (wie K. Marx bereits früh verächtlich äußerte) eines der führenden amerikanischen Rassisten, Samuel George Morton, nachzuanalysieren. Und konstatierte dazu in seinem Buch „Der falsch vermessene Mensch“ u.a. knapp: „Um es kurz und grob zu sagen: Mortons Zusammenfassungen sind [über die generelle Rassenirrlehre hinaus] ein Mischmasch aus Pfusch und Mogelei, eindeutig vom Interesse an der Bestätigung vorgefasster Überzeugungen motiviert.“ Gleichviel grassierten diese pseudowissenschaftlichen Schädelmessereien und Rassenkunden sowie rassistisches Denken und rassistische Unterwerfungs- und Aggressionsideologien quer durch die Kolonialmächte und imperialistischen Mächte.

Wie offen interessengeleitet dabei vorgegangen wurde, macht vielleicht ein Schlaglicht auf eine Episode des französischen „Meisters der Schädelmessungen“, Paul Broca, nochmals besonders deutlich. In seinem krampfhaften Eifer, immer neue Zahlen und vermeintliche innere Marker (zunächst Knochen, im späteren 20. Jhd. dann Gene) über den Hautfarbenrassismus hinaus für seine „Rassenhierarchie“ zu liefern, maß er 1882 das Verhältnis der Oberarm- und Unterarmknochen. Als sich das gewünschte Ergebnis nicht einstellte, ließ er das ursprünglich behauptete „Kriterium“ einfach wieder fallen: „… scheint es mir schwierig, weiterhin zu sagen, dass die Verlängerung des Unterarms ein Merkmal der Entartung oder Minderwertigkeit ist, da der Europäer in dieser Hinsicht eine Position zwischen den Negern einerseits und den Hottentotten, Australiern und Eskimos andererseits einnimmt.“ Voilà, und damit war seine Rassendoktrin und die Welt des Kolonialismus und Imperialismus wieder ins Lot gerückt.

Der Film und Hintergrund seines akademischen deutschen Protagonisten

In „Der vermessene Mensch“ figuriert als Protagonist jener rassistischen Pseudoforschung die imaginierte Figur des Ethnologie-Doktoranden Alexander Hoffmann, der zur Jahrhundertwende in Berlin bei einem auf Kraniometrie (Schädelvermessung) spezialisierten Professor studiert und schließlich als Forscher und wissenschaftlicher Begleiter der Kaiserlichen deutschen Kolonialtruppen nach Namibia geht, die ab 1904 den Genozid an den Herero und Nama begehen. Die Figur des Forschers Hoffmann ist durchaus mit Bedacht gewählt, erlaubt sich nicht nur vielfältige Blickpunkte, sondern verkörpert auch eine unmittelbar zeitgenössische Bisanz. Denn noch heute sollen gut 7.000 solcher Schädel sowie unzählige weitere menschliche Gebeine und Überreste der Opfer des Völkermords in deutschen Museen und Sammlungen, Pathologien und Universitätsinstituten liegen. Die Insassen und insbesondere Insassinnen der deutschen Konzentrationslager in „Deutsch-Südwestafrika“, mussten dazu mit kochendem Wasser und Glasscherben Haut und Fleisch von den Schädeln der Ermordeten (vielfach ihren Familienmitgliedern und Ehemännern) kratzen, um diese zu „wissenschaftlichen“ Untersuchungen und Experimenten zum „Beweis“ der „rassischen Minderwertigkeit“ von Schwarzen für den Versand nach Deutschland vorzubereiten. Denn in deutschen Hörsälen herrschte nicht minder als in jenen der alten Kolonialmächte der rassenideologische Geist der Hierarchisierung, Desozialisierung und Entmenschlichung.

Der zunächst vorherrschenden und von seinem deutschen Apostel und Übersetzer Ludwig Schemann verbreiteten Rassendoktrin Arthur de Gobineaus wurde gegen Jahrhundertende zunehmend von Houston Stewart Chamberlains rassentheoretischem Machwerk der Rang abgelaufen und die Rassenideologien von zahllosen „Vertretern der naturwissenschaftlichen Methode“ begierig flankiert. Dem korrelierend spricht auch der deutsche Generalstabschef, Generaloberst Graf Schlieffen, mit Blick auf den Aufstand der Herero und Nama gegen die kolonial-rassistische Unterdrückung der deutschen Kolonialherren 1904 vom „entbrannten Rassenkampf“, der „nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen“ ist. Regisseur Lars Kraume hat sich in seiner gewählten – in den Filmkritiken konträr bewerteten – Perspektive des Films aus unerbittlicher Täterperspektive entschieden, auch um dieses grauenhafte Abschaben und Auskochen der Schädel von Menschen filmisch keinen Bogen zu machen. Alexander Hoffmann erlangt schließlich, im Film nochmals durch den Kontrast seines strahlend weißen Medizinhörsaal zur Dunkelheit, den engen Räumen und dem Gestank der Konzentrationslager untermalt, seine gewünschte Professur.

Immanente „Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation“ (K. Marx)

Für Karl Marx hingegen, der schon in jungen Jahren die „Barbarei“ des Kolonialsystems anprangerte und in der Sklaverei den (frühen) „Angelpunkt der bürgerlichen Industrie“ sowie des „Welthandels“ erblickte und „die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute“ „Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation“ bezeichnete, folgt diesen „auf dem Fuß … der Handelskrieg der europäischen Nation, mit dem Erdrund als Schauplatz.“ Auf nicht zuletzt diese, unter objektiv fortgeschrittenerer Situation später von Lenin vertiefte Einsichten, geht denn auch deren radikal neuer Gedanke (mit) zurück: Der Lage der Unterdrückten wird nicht von oben und außen abgeholfen werden, sondern sie selbst sind das Subjekt der Umgestaltung. Und dieser Gedanke der revolutionären Subjektivität gilt nicht minder auch für die unterdrückten Völker. Im Folgebeitrag zum Film gilt es dann den jahrzehntelang verdrängten Genozid und die ganze Monströsität der deutschen Kolonialverbrechen und -massaker in den Blick zu nehmen. Denn, um es mit Gerd Schumann zu sagen, „die koloniale Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen“.

Foto: gemeinfrei

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