Die größte Streikwelle seit einer Generation fegt durch Großbritannien. Sie hat nicht alle Ziele erreicht, doch das Erwachen der Gewerkschaften gibt Hoffnung für die kommenden Jahre. Update: Letzte Woche legten denn auch die Eisenbahner:innen sowie Assistenz- und Fachärzte abermals die Arbeit nieder.
Von Dieter Reinisch (Gastbeitrag aus dem aktuellen KOMpass 24/2023)
Diesen Herbst werden wir die letzten Ausläufer einer langen Streikwelle in Großbritannien beobachten können. Kürzlich haben die Eisenbahner der RMT-Transportarbeiter:innen- und ASLEF-Lokführer:innengewerkschaften weitere Streiktage im September angekündigt. Auch die Ärzt:innen wollen wie schon ein halbes dutzend Mal seit Jahresbeginn ihre Arbeit für mehrere Tage niederlegen.
Seit 1989 wurde nicht mehr so gestreikt wie heute. Damals war noch die neoliberale Margaret Thatcher als Regierungschefin an der Macht. Sie hatte 1984/85 die Gewerkschaftsbewegung gebrochen: Am 3. März 1985 gab sich die Bergarbeiter:innengewerkschaft NUM nach einem Jahr Kampf geschlagen – es war der Todesstoß für die britische Arbeiter:innenbewegung.
Um die Jahrtausendwende wurde der Sozialist Mark Serwotka gegen den Widerstand des Vorstands zum Generalsekretär der Gewerkschaft des öffentlichen Diensts (PCS) gewählt: „Mir wurde damals gesagt, dass Gewerkschaften nach Thatcher nie wieder Arbeitskämpfe gewinnen werden können“, erinnert er sich im Gespräch mit mir. Er weigerte sich jedoch das zu akzeptieren und begann den Wiederaufbau der Gewerkschaften.
Dies dauerte 2 Jahrzehnte: Die langsame Rückkehr der gewerkschaftlichen Arbeitskämpfe in Großbritannien fiel mit dem Beginn der Pandemie zusammen. Denn damals wurden die Kürzungen im Gesundheitssystem NHS, schlechte Infrastruktur und die negativen Folgen des Brexits spürbar. Zugleich hatten sich Millionen Menschen durch die Wahl des linken Sozialdemokraten Jeremy Corbyn an die Labour-Parteispitze politisiert. Neue, junge Aktivist:innen wurden in den Gewerkschaften aktiv.
2022 löste sich die Ruhe endgültig auf: Im zweiten Halbjahr von Juni bis Dezember wurden 2,5 Millionen Streiktage gezählt. Im Dezember waren es 822.000 Streiktage – die meisten in einem Monat seit 2011.
Die Daten zeigen: Derzeit erlebt Großbritannien die intensivste Streikwelle seit 1989, dem letzten Amtsjahr Thatchers, als 4,1 Millionen Arbeitstage durch Arbeitskämpfe verloren gingen. Die aktuellen Daten von 17. August ergeben für die ersten 6 Monaten des Jahres 1,7 Millionen Streiktage. Von Juni 2022 bis Juni 2023 wurde mehr als 1989 gestreikt!
In nahezu allen Branchen wurde gekämpft: Post, Schulen und Universitäten, Handel, öffentlicher Verkehr, Beamte und öffentlicher Dienst, Gesundheitswesen und Lebensmittelindustrie. Alle Kämpfe hatten gemeinsame Ziele: Lohnerhöhungen über der Inflationsrate, die teilweise bei 14% lag, Kündigungsschutz und bessere Arbeitsbedingungen.
Die meisten Arbeitskämpfe gingen in den vergangenen Wochen und Monaten zu Ende. Manche erreichten Gehaltserhöhungen von 20%, wie die Angestellten von Rolls Royce, aber die meisten Kämpfe endeten ohne Reallohnerhöhungen: Ende Juli akzeptierten die Lehrer:innen ein Angebot unter der Inflationsrate.
Schuld daran: Regierung und Gewerkschaftsbund TUC. Die Regierung von Rishi Sunak weigerte sich zu verhandeln und reagierte stattdessen mit Einschränkung der Arbeiter:innenrechte ein Antistreikgesetz. Der TUC weigerte sich, den Forderungen der Einzelgewerkschaften nachzugeben, Arbeitskämpfe zu koordinieren und einen landesweiten Streik gegen das Antistreikgesetz zu organisieren.
Dennoch resümiert PCS-Chef Serwotka positiv: „Millionen Arbeiter:innen haben erstmals in ihrem Leben gestreikt.“ Zunächst weigerte sich die Regierung mehr als 3% Gehaltsplus zu akzeptieren. Geworden sind es dann 8, 9 oder 10%. Es ist zwar nicht genug, aber: „Die Kolleg:innen haben gelernt: Sie bekommen nur mehr, wenn sie mehr kämpfen“, so Serwotka: „Es wird weitergehen.“ Das Fundament für eine neue, kämpferische Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien wurde gelegt.
Dieter Reinisch ist Marxist, Historiker und Journalist. Er schreibt regelmäßig für die junge Welt und andere Medien über Österreich, Irland und Großbritannien.
Buchtipp:
Dieter Reinisch, On Strike: Die Wiederkehr der Klassenkämpfe in Großbritannien, Neue Kleine Bibliothek 330, 160 Seiten, € 16,90, Köln: PapyRossa, ISBN 978-3-89438-813-3, Erscheint im Herbst/Winter 2023: www.papyrossa.de.
Foto: RMT