Die Geschichte der Türkei und deren despotisches, kemalistisches, staatliches ‚Homogenisierungsprojekt‘, später nahtlos unter einer erneuerten militanten „türkisch-islamischen Synthese“ fortgesetzt, ist zugleich die Geschichte von Massakern, Pogromen und der Hexenjagd gegen das Alevitentum. Dies gilt es gerade auch zu den bevorstehenden, absehbar ebenso so geschichtlich verzerrten wie pompösen Feierlichkeiten zum 100. Gründungstag der Republik im Herbst in Erinnerung zu halten.
Die alevitische Religion hat sich – wie auf diesen Seiten freilich schon des Öfteren ausgeführt, aber dennoch zur Erinnerung –, zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert im Zuge der zentralasiatischen Völkerwanderungen vom Iran aus bis nach Anatolien als eine eigenständige Glaubensrichtung verbreitet. Im Laufe des 13. Jahrhunderts begann sich das Alevitentum zu organisieren und zu institutionalisieren.
Die alevitischen Dichter und Gelehrten stellten dabei bereits vor Jahrhunderten den Menschen in den Mittelpunkt und traten für ein friedvolles Zusammenleben aller Völker ein. Aufgrund dessen erklärten die Machthaber zu allen Zeiten den Alevismus zu einer feindlichen Glaubensrichtung wie zu bekämpfenden ideengeschichtlichen Tradition, und ihre Vertreter zu Menschen, die den Tod verdienen. Von Mehmed Ebussuud wiederum gab es im 16. Jh. denn auch die berühmt-berüchtigte Fatwa, die Aleviten seien die minderwertigsten Menschen, die es überhaupt gibt.
Dementsprechend sahen sich die AlevitInnen zeit ihrer Geschichte blutigen Massakern ausgesetzt.
Nicht zuletzt dem vom türkischen Fernsehen stundenlang live übertragenen Sivas-Massaker von 1993, dem Dutzende AlevitInnen zum Opfer fielen. Eine Kette an Gemetzel und Pogromen, die sich in der jüngeren türkischen Geschichte vom Dersim-Massaker 1937/38 mit seinen über 70.000 Hingemordeten und anschließender Deportation von weit über 100.000 DersimerInnen in andere Landesteile, über die Massaker von Maraş 1978 – auch Kahramanmaraş-Massakergenannt –, Çorum 1980 bis zu Gazi 1995 ziehen.
Das Sivas-Massaker 1993
Am 2. Juli 1993 versammelten sich zahlreiche Intellektuelle, SchriftstellerInnen, Kulturschaffende und JournalistInnen, vorwiegend alevitischen Glaubens – am Geburtsort des Ende des 16. Jahrhunderts hingerichteten alevitischen Gelehrten und Dichters Pir Sultan Abdal – in Sivas.
Die Veranstaltung wurde daraufhin – auf dem gleichzeitigen Hintergrund einer neu entfachten militant nationalistischen Welle am Bosporus – von einem aufgeheizten und islamistisch-faschistisch aufgepeitschten Lynchmob Tausender angegriffen und auf das Madımak-Hotel, in dem diese stattfand, ein Brandanschlag verübt. Gleichzeitig hinderte der Mob die Veranstaltungs-TeilnehmerInnen an der Flucht aus dem Feuer. 33 TeilnehmerInnen des alevitischen Festivals und 2 Hotelangesellte verbrannten in den Flammen. Das jüngste Opfer, Koray Kaya, war erst 12 Jahre alt.
Das Massaker als Live-Event im TV und staatliche Konterguerilla
Die damalige Regierung Çiller hat das Massaker 8 Stunden lang live über die Fernsehsender ausstrahlen lassen. Obwohl die Sicherheitskräfte die Möglichkeit in der Hand gehabt hätten, einzuschreiten und das geplante Massaker zu verhindern, haben sie das Pogrom untätig zugelassen. Ja, zahlreiche Angehörige der staatlichen Konterguerilla haben sich vielmehr noch unter den Pogrommob gemischt, um diesen zu Übergriffen auf die traditionell als links geltende religiöse Minderheit der Aleviten anzustacheln und voranzupeitschen. Demensprechend ließen die anwesende Polizei und Feuerwehr die Marodeure auch gewähren und griffen erst ein, als der Spuck sein Ziel erreicht hatte.
Eine Kriegserklärung an alle Andersdenkenden
Das Sivas-Massaker an den AlevitInnen war darüber hinaus zugleich eine viehische Drohung an alle Andersdenkenden, kämpferisch-progressive Bewegungen und Linke, sowie den kurdischen Freiheitskampf. Entsprechend hob auch der der Ko-Vorsitzende des alevitischen Verbandes DAD in Ankara, Mustafa Karabudak, vor wenigen Jahren hervor: „Damals, als das Massaker stattfand, gab es eine Koalitionsregierung, die sich politisch festgefahren hatte. Es gab wichtige Entwicklungen im kurdischen Freiheitskampf. Es fanden Arbeitskämpfe statt und auch die Studierenden waren auf der Straße. Es ging dem Staat bei dem Massaker darum, die Massen zum Schweigen zu bringen.“
Mörder auf freiem Fuß – Drahtzieher begnadigt
Die Mörder von Sivas hingegen laufen überwiegen immer noch auf freiem Fuß und völlig unbehelligt herum. Mehr noch: Ahmet Turan Kılıç, einer der Drahtzieher und Täter des Sivas-Massakers sowie einer der wenigen Beteiligten die zur Rechenschaft gezogenen wurden, wurde Anfang Februar vorvorletzten Jahres von Erdoğan überhaupt begnadigt.
Ahmet Turan Kılıç, maßgeblicher Hintermann des Massakers, der den 2. Juli 1993 wie ein tödlicher Odem (mit-)orchestrierte, wurde später wegen Massenmordes zunächst zum Tode verurteilt und seine Strafe nach der Abschaffung der Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt.
Während gegen die linke, kurdische, gewerkschaftliche und demokratische, sowie nicht zuletzt auch alevitische Opposition ungebrochen eine regelrechte Hexenjagd durchs Land am Bosporus rollt und Ankara zum institutionellen Frontalangriff auf HDP, sprich: deren Verbot, geblasen hat (die sich explizit als zugleich auch linkes Sprachrohr und politische Vertretung der Rechte und Interessen der unterdrückten religiösen Gruppen, insbesondere AlevitInnen versteht), hat der „Palast in Ankara“ den Sivas-Schlächter demgegenüber vor 3 Jahren demonstrativ und medienwirksam auf freien Fuß gesetzt. Eine offene Verhöhnung der alevitischen Opfer und zugleich politisches Kalkül um seinen trotz neuerlicher Präsidentschaft bröselnden reaktionären Herrschaftsblock zu kitten.
Der Ruf nach Aufarbeitung, Gerechtigkeit und einem „Museum der Schande“
In Sivas sowie zahlreichen Städten der Türkei und Europas gedenken hingegen Abertausende jährlich des Massakers. Zumal das Pogrom auch 30 Jahre danach keinerlei gesellschaftliche Aufarbeitung erfahren hat. Und auch in Österreich finden quer durchs Land alljährlich Gedenkveranstaltungen an dieses viehische Verbrechen statt. In diesem Zusammenhang forderten Tausende AlevitInnen in Sivas zuletzt auch lautstark an der Stelle des Hotels ein „Museum der Schande“ zu errichten.
„30 Jahre sind vergangen“, so die Frei-Aleviten Österreichs zum heurigen Jahrestag, „in denen die Mörder und Verantwortlichen für das Massaker immer noch ohne Konsequenzen in der Türkei, aber auch in Deutschland ein ruhiges Leben führen können.“
Alevitentum weiter im Visier des „Palastes“
Dass die Machthaber in Ankara auch offen den Gedanken eines weiteren Massakers an den widerspenstigen AlevitInnen wälzen, haben die jüngeren Enthüllungen des – sich den Machthabern in Ankara zuletzt überworfen habenden – turanistischen Faschisten und berüchtigten Mafiapaten Sedat Peker über einen geplanten Anschlag auf ein alevitisches Gemeindehaus (Cemevi) aufgezeigt. Eine durchaus in der Luft liegende Machenschaft der weiterhin an der Macht befindlichen, faschistischen AKP/MHP-Regierungskoalition, die auch Turgut Öker, Ehrenvorsitzender der Alevitischen Föderation Europa, für nicht von der Hand zu weisen hält: „Niemand sollte von einem Bluff ausgehen“.
Schmähliche CHP-Koalitionen
Und: „Auch 30 Jahre später noch koaliert die oppositionelle CHP mit dem damals verantwortlichen Bürgermeister von Sivas, Temel Karamollaoğlu, der 1993 vor dem Madimak-Hotel eine islamistische Hetzrede hielt und das Massaker bis heute noch nicht als solches anerkennt.“
Und dennoch ungebrochen
Gleichwohl gaben und geben die AlevitInnen ihren Glauben und Widerstand gegen Unrecht und mannigfache Formen der Unterdrückung historisch und aktuell nie auf. Entsprechend ist denn auch der Name ihres historischen Oberhaupts, Haci Bektaş, zugleich untrennbar mit den Aufständen in Anatolien gegen das Osmanische Reich im 16. und 17. Jahrhundert verknüpft, wurde der sozialkritische alevitische Dichter Pir Sultan von den Herrschenden zum Tod verurteilt und waren die Alevitinnen und Aleviten in jüngerer Zeit von der Gezi-/Taksim-Protestbewegung über die Sozialproteste bis in die linksdemokratische HDP bzw. YSP prominent aktiv.
Und während Erdoğan unter den Vorzeichen der pompösen Inszenierungen des 100. Gründungstags der Republik seinen Machterhalt zelebrieren wird, bewahren die AlevitInnen parallel das Gedenken an den 30. Jahrestag des Sivas-Massakers, fordern Gerechtigkeit für die 35 Toten und halten das sozialkritische Vermächtnis ihrer Geschichte wie ihres Widerstands gegen Unterdrückung und Unrecht sowie ihr Ideal eines friedvollen Miteinanders der Völker, Religionen und gesellschaftlichen Vielfältigkeit resp. Diversitäten aufrecht.