Zum 140. Todestag von Karl Marx: Der gewerkschaftliche Kampf gegen die Teuerung und die Aktualität seiner Gewerkschaftstheorie

Angesichts der grassierenden Inflation arbeiteten wir bereits letzten Herbst die ungebrochene Aktualität Marxens, der sich schon früh und intensiv der Frage des gewerkschaftlichen Kampfes gegen die Inflation zuwandte, heraus. Anlässlich seines heutigen 140. Todestages seien beide Beiträge in Würdigung seines Werks und Wirkens daher nochmals in eins gefasst und leicht erweitert. Bereits in seinen 1865 in London gehaltenen Vorträgen „Lohn, Preis und Profit“ in Sondersitzungen der I. Internationale ein Jahr nach deren Gründung, widmete sich Marx eingehend der zentralen Frage des konsequenten gewerkschaftlichen Kampfes gegen die Inflation. Denn bereits seinerzeit gab es selbst in der Arbeiterbewegung verbreitete Strömungen, die die Ansicht einer prinzipiellen Erfolglosigkeit von Lohnkämpfen gegen die kapitalistische „Teuerung“ im Sinne einer angeblichen „Lohn-Preis-Spirale“ vertraten. Zugleich betrachtet Marx diesen unabdingbaren Kampf nicht ‚nur‘ unter dem Aspekt der Verteidigung der materiellen Interessen der Arbeitenden „gegen die Gewalttaten des Kapitals“ und „die Marktschwankungen“, sondern in eminenter Verzahnung in nochmals weit darüber hinausreichender Perspektive.

Marx und Klassiker der politischen Ökonomie contra Lassalle und Proudhon

Unter den eingangs genannten Vertretern befanden sich zum einen die Anhänger Ferdinand Lassalles, der mit seinem erdachten „ehernen Lohngesetz“, demzufolge sich das Lohnniveau aufgrund ökonomischer Gesetze immerfort auf das Existenzniveau einpendle, den gewerkschaftlichen Kampf gegen die „Teuerung“ und für kräftige Reallohnerhöhungen als prinzipiell zum Scheitern verurteilt ansah. Die Löhne, so der Wortführer der frühen deutschen Arbeiterbewegung und Zeitgenosse von Marx und Engels, ließen sich im Kapitalismus niemals über das bloße Existenzminimum hinausheben. Entsprechend sinnlos hielt er daher auch die Bildung von Gewerkschaften und dementsprechend geringschätzig fiel auch sein Urteil über die Bedeutung von Arbeitskämpfen und Streiks aus. „Koaliert euch nicht“, war dagegen das wüste Credo Lassalles an die Arbeitenden. Demgegenüber propagierte er als hauptsächlichen Weg zur Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft vielmehr die sogenannte „Staatshilfe“, die in erster Linie über das allgemeine und gleiche Wahlrecht und der Erringung einer parlamentarischen Mehrheit zu erwirken wäre.  

In dieselbe Kerbe schlug seinerzeit auch der französische Sozialist und Lichtgestalt des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon, dessen krude Theoretisierungen in gewissen gegenwärtigen Strömungen der Linken eine unvermutete, unterschwellige Renaissance erleben (was jedoch ein eigenes Thema wäre). „Jedes Steigen der Löhne kann keine andere Wirkung haben als ein Steigen der Preise des Getreides, des Weines etc.: die Wirkung einer Teuerung. Denn was ist der Lohn? Er ist der Kostenpreis des Getreides etc.; er ist der volle Preis jeder Sache … Es ist unmöglich, erkläre ich, dass Arbeitseinstellungen, die Lohnerhöhungen zur Folge haben [sprich: erfolgreiche Streiks, Anm.], nicht auf eine allgemeine Preissteigerung hinauslaufen: Das ist ebenso sicher, wie dass zweimal zwei vier ist.“ Marx, der schon an den Klassikern der politischen Ökonomie, namentlich David Ricardo rühmte, die Mär der sog. Lohn-Preis-Spiral als Unsinn abgetan zu haben, kommentierte für die in seinem Gefolge entstandene wissenschaftliche Theorietradition schon damals ebenso scharf wie ökonomisch fundiert: „Wir bestreiten alle diese Behauptungen, ausgenommen die, dass zwei mal zwei vier ist.“

„Es war das große Verdienst Ricardos“, lobte Marx, „dass er in seinem 1817 veröffentlichten Werk ‚On the Principles of Political Economy‘ den alten landläufigen und abgedroschenen Trugschluss, wonach der Arbeitslohn die Preise bestimmt, von Grund aus zunichte machte.“ Ein „Trugschluss“ freilich, wie die bereits von den Klassikern längst widerlegte, aber dennoch schier unzerstörbare Mär der „Lohn-Preis-Spirale“, die in unterschiedlichen Varianten gleichwohl nach wie vor ihr Unwesen treiben.

Marxens Vortrag, in welchem, wie er in einem Brief an Engels schrieb, in „verhältnismäßig populärer Form viel Neues aus meinem Buch vorweggenommen ist“ – gemeint war der zwei Jahre darauf, 1867, erschiene 1. Band des „Kapitals“ – erschien dann allerdings erst 1898 als englischsprachige Schrift „Value, Price and Profit“, bevor das veröffentlichte Referat auch in Deutsch unter dem Titel „Lohn, Preis und Profit“ Karriere in der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung machte.

Ökonomische Mär und hapernde Logik

Jenseits des ökonomischen Unsinns und der desaströsen politischen Implikationen hapert es bei Lassalles und Proudhon Ansicht auch etwas an der Logik. Wenn Unternehmen (zumal unter seinerzeitigen, noch vormonopolistischen Konkurrenzverhältnissen und der beginnenden Gegenmacht der Arbeitenden) über eine solch geradezu uneingeschränkte und jederzeitige Preissetzungsmacht ihre Abgabepreise verfügen, wie von Lassalle und Proudhon mehr oder minder impliziert, warum sollten sie (außer natürlich die zur Rechtfertigung unpopulärer stärkerer Preissteigerungen willkommene Gelegenheit von Lohnerhöhungen zur Rechtfertigung zu nutzen) dann überhaupt auf Lohnerhöhungen „warten“ um die Preise anzuheben – und diese nicht auch abseits dieses Anlasses fortwährend kräftig erhöhen? Nur um ihre Preiserhöhungen dem Publikum dann mit einem Lehrbuch-Theorem begründen zu können? Abstrus. Nun heben die Unternehmen die Preise in der Tat durch das gesamte Jahr über an, währen die Lohnerhöhungen jeweils erst und nur einmal jährlich zu den KV-Runden zur Verhandlung stehen. Aber das Resultat einer konkurrenz- und kräfteverhältnislosen Preissetzungsmacht wäre freilich eine allgegenwärtig permanente Hochinflation, die (auch aufgrund von hier zurückgestellt bleiben müssenden Sonderfaktoren) zumal noch in den letzten Dekaden, aber auch geschichtlich, gerade in dieser Form nicht der Fall war, ja die EZB in den letzten Jahren gegenteilig teils sogar mit deflationären Befürchtungen ringen ließ. Zudem wäre, Lassalle und Proudhon folgend, auch unverständlich, warum sich die Unternehmen den gewerkschaftlichen Lohnforderungen überhaupt so hartnäckig widersetzen, wenn sie diese ohnedies quasi mechanisch durch einen Preisaufschlag überwälzen können, ja in der Logik des Lohn-Preis-Spiralen-Unsinns sogar noch jedes Mal satt dazugewinnen würden, wie wir gleich sehen werden.

Denn auch bei der „Lohn-Preis-Spirale“ im eigentlichen Sinn holpert es mit der Logik gewaltig. Selbst der verbohrteste Unternehmer würde nicht bestreiten, dass – um in dessen Sprache zu bleiben – seine Lohnkosten natürlich nur einen bestimmten Anteil an den Gesamtkosten bilden oder ausmachen. Lohnerhöhungen dürften damit aber selbst in einer mechanisch vorgestellten, zwangsläufigen Überwälzung auf die Preise nur zu unterproportionalen Preisaufschlägen- bzw. Steigerungen führen. Angenommen der Preis einer Ware X belief sich bislang auf 100 Euro und der Anteil der Lohnkosten an ihrem Preis beträgt 20%. Dann beliefe sich eine 10%ige Lohnerhöhung auf 2 Euro. Selbst wenn diese 1:1 weitergegeben würde, stiege der Preis der Ware X nicht einfach um den Faktor der Lohnerhöhung auf 110 Euro, sondern würde zu einer Preiserhöhung auf 102 Euro oder etwas über 2% führen. Weshalb der Preis der Ware X überhaupt angeblich proportional zur Lohnerhöhung steigen sollte, bleibt ein Geheimnis der bürgerlichen ÖkonomenInnenzunft. Und das gilt fortgesetzt auch für die von den moderneren VertreterInnen der Lohn-Preis-Spirale bei einem allgemeinen Lohnanstieg mithereingenommenen entsprechenden Verteuerung der Vorprodukte und Arbeitsmittel. Ein nicht minderes Geheimnis der herrschenden Wirtschaftslehre ist übrigens auch, weshalb sich Unternehmer in ihren Preisgestaltungen an die Lehrbuchweisheit solcher zum ABC der Wirtschaftslehre erhobenen Standardformeln á la Paul A. Samuelson halten sollten? Ökonomie-Nobelpreis hin oder her.

Die historische Debatte des Generalrats der I. Internationale zur essentiellen Frage des Kampfes der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung gegen die Inflation

Ein Kontrahent in der mehrwöchigen Diskussion des Sommers 1865 war übrigens der Owenist John Weston, ein englischer Arbeiter und Mitbegründer der I. Internationale, der (wie viele andere) erst im Anschluss an seinen 12-stündigen Arbeitstag an den Debatten des Generalrats teilnehmen konnte. Weshalb Marxens Vorträge zu dieser essentiellen Frage unter Mitgliedern des Generalrats, Gewerkschaftsführern und Arbeitern auch erst um 21.00 Uhr begannen. Dies mindestens als Schlaglicht auf damaligen Bedingungen. Marx zollte John Weston denn auch zu Beginn seines ersten Vortrags seine aufrichtige Hochachtung, ohne in der Sache die nötige Vehemenz vermissen zu lassen.

Auch Weston vertrat nämlich, sich auf das „eherne Lohngesetz“ berufend, die Auffassung, dass Lohnerhöhungen nur ein erhöhtes Preisniveau, namentlich bei Lebensmitteln, nach sich ziehen würden. Sich also Preise und Löhne wie Löhne und Preise nur quasi naturgesetzlich in einem nie endenden Prozess gegenseitig nach oben schaukeln oder drücken würden, weshalb der gewerkschaftliche Kampf schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt sei, zumindest aber eine prinzipielle Erfolglosigkeit von Lohnkämpfen ausgemacht sei.

Marx argumentierte (im Unterschied zu obig angezogenen Ausführungen) noch viel grundsätzlicher auf eminent werttheoretischer Basis gegen diesen, sich bis heute unter der Formel einer „Lohn-Preis-Spirale“ gegen den entschiedenen Klassenkampf gegen Inflation haltenden Bestandteil der herrschenden Wirtschaftslehre – der bis in Gewerkschaftskreise wirkt, ja in sublimeren bzw. verfeinerten Varianten als der grobschlächtigen Samuelson’schen Standardformel selbst unter links-affinen ÖkonomInnen geteilt wird. Zu Recht notierten Ansgar Knolle-Grothusen et al. denn jüngst auch aus kritisch ökonomischer Sicht: „Die These von der Lohn-Preis-Spirale gehört zu den am wenigsten reflektierten Vorstellungen zeitgenössischer Ökonomen und Politiker, vertreten von den Wirtschaftswissenschaftlern der Europäischen Zentralbank bis hin zu denen der Regierungen, der Wirtschaftsforschungsinstitute und der Wirtschaftsmedien.“ Und darüber hinaus.

Gewerkschaftliche Perspektiven auf Marx

Ein konsequenter, einzig den Arbeits- und Lebensinteressen der Werktätigen verpflichteter Kampf gegen die Inflation, ist denn erfolgreich auch nur als zugleich ökonomischer wie ideologischer Klassenkampf führbar. Denn die Härte des Lohnstreits resultiert, wie Marx in „Lohn, Preis und Profit“ zeigt, aus dem Widerspruchsverhältnis der Lohnrate zur Profitrate, deren Rückgang das Kapital mit aller Macht zu verhindern trachtet. Das Lohnsteigerungen indes zwingend einen Anstieg der Preise nach sich ziehen müssten, zumal in einer produktivitätsbedingt wachsenden Wirtschaft, ist hingegen schlicht Humbug. Zum einen funktioniert der Kapitalismus, wie auch die Geschichte zeigt, durchaus mit unterschiedlichen Einkommensverteilungen (Profitquoten zu Lohnquoten). Zum anderen sind in einer produktivitätsbedingt wachsenden Wirtschaft, rein ökonomisch, kräftig steigende Löhne sogar „vereinbar mit konstanten oder steigenden Gewinnen“. Mehr noch, wie Klaus Müller gegen eine verkürzte Politische Ökonomie in mehreren Arbeiten weiter auswies: Selbst „ein steigender Wert der Ware Arbeitskraft [zum Unterschied steigender Reallöhne, in welchen sich die Menge kaufbarer Güter ausdrücken, Anm.] führt nicht zwangsläufig dazu, dass die Mehrwertrate sinkt“.

Ohne gewerkschaftlichen Kampf – den „unvermeidlichen Kleinkrieg“ „gegen die Gewalttaten des Kapitals“ und „die Marktschwankungen“ – so Marxens politisches Resümee seines Vortrags, würden die Arbeitenden indessen schnell „degradiert“ zu einer „Masse ruinierter armer Teufel“. Entsprechend ist der Lohnkampf für Marx auch vor allem eine Frage der gesellschaftlichen und Klassen-Kräfteverhältnisse, der Konfliktbereitschaft der Arbeitenden und Gewerkschaften und ihrer Kampfformen. „Sicher ist es der Wille des Kapitalisten“, so Marx weiter, Lohnsteigerungen durch Preisaufschläge weiter- oder überzuwälzen. Aber: „Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken.“ Und in diese fließen nicht zuletzt die „Kräfteverhältnisse der Kämpfenden“ ein. In alledem scheint auch bereits der immanente Zusammenhang zwischen dem – im damaligen Sprachgebrauch – unabdingbaren „Kleinkrieg“ und einer weitergehenden Perspektive auf. „Würden sie [die Arbeitenden, Anm.] in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen“.

Hic Rhodus, hic salta – wie Marx mit Äsops Worten die Gewerkschaften vor die Feuerprobe gestellt hätte

Unter gewerkschaftlicher Perspektive lag in den KV-Auseinandersetzungen dieser Herbst-Lohnrunde und liegt in der eben gestarteten Frühjahrslohnrunden somit geradezu eine Feuerprobe der Gewerkschaften.Zumal die Löhne und Gehälter heutzutage, anders als in der Hochinflationszeit der 1970er Jahre, der Teuerung schon des Längeren deutlich hinterherhinken. Die Ergebnisse der Lohnkämpfe waren und sind damit mehr denn je eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, der Konfliktbereitschaft in konsequenter Mobilisierung und Einbeziehung der Beschäftigten bzw. deren Selbstermächtigung, sowie der gewerkschaftlichen Kampfformen.

In einem Land in dem Arbeitskämpfe weitgehend „sozialpartnerschaftlich“ stillgelegt sind, Streiks als beinahe verpönt gelten oder mit Begriffen wie „Katastrophe“ und „Sensation“ assoziiert sind und statistisch gewöhnlich gleichsam in Sekunden pro Jahr gezählt werden, kann die Bedeutung von Arbeitskämpfen jedoch gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Zum einen, um überhaupt eine tatsächliche Abgeltung der Inflation zu erstreiten, Reallohnerhöhungen durchzusetzen und eine Sicherung der Kaufkraft zu erwirken. Zum anderen aber auch, damit sich die Arbeitenden in ihrer Selbsttätigkeit ihrer Kraft zu erreichbaren Erfolgen und über mögliche Verschiebungen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bewusst werden.

Der Anteil des Streiks an der Subjektwerdung der Arbeitenden

Der hier betonten Perspektive ist gleichzeitig ein deutlich unterschiedenes, revolutionäres Klassen- und Menschenbild eingeschrieben, das gegen die eingefahrene „Stellvertreterpolitik“ für die Arbeitenden unsere Selbstermächtigung stark macht. Zudem lässt sie den Werktätigen in ihrer Selbsttätigkeit und ihren Erfahrungen in Arbeits- und Klassenkämpfen eben die Einsicht in ihre gesellschaftliche und geschichtliche Kraft bewusst werden. Ein Bild, das dem Ideal der „sozialpartnerschaftlichen“ Gewerkschaftsspitzen nach „besonnenen ArbeitnehmerInnen“ – die nicht durch Kritik, kämpferischere Einstellungen oder gar eigenem Engagement lästig werden und vor dem Fernsehschirm oder über Soziale Medien noch zufrieden das hinnehmen, was als „das denkbar beste Ergebnis“ des „Ringens am grünen Tisch“ ausgegeben wird –, gleichsam geradezu diametral entgegengesetzt ist.

Und dies wiederum nicht zuletzt, weil Streikkämpfe für KommunistInnen mit Marx und Engelseine doppelte Bedeutung haben: einerseits des „unvermeidlichen Kleinkriegs“ zur Behauptung der Arbeits- und Lebensinteressen der Werktätigen im Kapitalismus und andererseits als eine Art „Kriegsschule“ zur Vorbereitung auf die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus.

Denn erst in ihrer Selbsttätigkeit und ihren Kämpfen konstituiert sich die Arbeiterklasse als soziales Subjekt und wird sich ihrer revolutionären Kraft bewusst. Bereits der junge Marx schrieb hierzu in der „Deutschen Ideologie“: „Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben; im übrigen stehen sie einander selbst in Konkurrenz wieder feindlich gegenüber.“ Und rückte gegen abstrakte Aufklärungen gerichtet schon in seinen „Feuerbach-Thesen“ das praktische Handeln ins Zentrum real-dialektischer Bewusstwerdungsprozesse. Klassenbewusstsein bildet sich für Marx denn auch vorrangig im realen kämpferischen Widerspruch der Arbeitenden, im Kontext praktischen Handelns und der darin eingeschriebenen, bewusstseinsseitigen Einsichts- und Entscheidungsprozesse heraus. Denn, für eine tragfähigen Klassenpolitik bedarf es beidem: der sozial-ökonomischen Klassenanalyse sowie der Analyse der Entwicklungsmöglichkeiten und -bedingungen der Konstituierung der Klassen „an sich“ zur Klasse „für sich“.

Vom Alltagsbewusstsein zum sozialen Subjekt

Konkreter: In seinem Bewusstsein reflektiert der Mensch die Welt und seine Stellung in ihr. Jeder einzelne Arbeiter und jede einzelne Arbeiterin hat sonach denn auch eine bestimmte Weltanschauung. In dieser fügen sich die unsystematisch aufgenommenen Elemente – überlieferte Einstellungen, erlerntes Wissen, veröffentlichte Meinungen, ideologischer Vergesellschaftung von Oben, verallgemeinerte Erfahrungen, gemeinsame Diskurse, usw. – zu einer jeweiligen persönlichen, oft verworrenen und widersprüchlichen Einheit zusammen. In diesen jeweiligen weltanschaulichen Rahmen und Alltagsdenken bewegen sich die Menschen gewöhnlich durchs gesellschaftliche Leben und meistern ihren Alltag.

In Arbeitskämpfen wird der dem Kapitalismus eingeschriebene Klassengegensatz jedoch zum handfesten Erfahrungs- und Bewusstseinsmoment. Tausende KollegInnen stehen vor der Entscheidung: Streik oder Nicht-Streik, erwägen die Erfolgsmöglichkeiten des Streiks und seine richtige Führung, gewinnen Einsichten in ihre kollektive Kraft als Klasse und gesellschaftliche Zusammenhänge, haben Urteile zu fällen die sie zum Handeln entsprechend der eigenen Interessen befähigen, gewinnen praktische und organisatorische Erfahrungen, machen neue Erfahrungen mit sich und anderen, bilden neue Fähigkeiten aus, erweitern ihr gesamtes Handlungsrepertoire, erleben die Kraft der Solidarität und entwickeln neues Selbstbewusstsein. Darin brechen zugleich die Inadäquatheiten ihres Alltagsdenkens und ihre in der Regel keineswegs stimmige Weltanschauungen auf und öffnen sich neuen Einsichten und Möglichkeitsbedingungen der massenhafteren Entwicklung von Klassenbewusstsein.

Tausende KollegInnen zogen so etwa im Herbst für ihre Interessen und Anliegen auf die Straße, viele nahmen dabei das erste Mal an einer Demonstration teil. Die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten trat etwa mit den teilweisen Warnstreiks der letzten Jahre und dem zurückliegenden Herbst überhaupt das erste Mal in ihrem Leben in Arbeitsniederlegungen und einen Streikkampf. Die erste Demonstration, der erste Arbeitskampf, zudem das erste Engagement in einem Streikkomitee, erste Auftritte als SprecherInnen der Anliegen und Forderungen der Belegschaft – das beinhaltet vielfach auch Einschnitte in der persönlichen Erkenntnis und Entwicklung mit weitreichenden Anstößen für Handlungspraxis, Verhalten und Lebensweise. Denn im „gemeinsamen Kampf“ stellen sie die Kooperation, die Klassensolidarität, (zumindest zeitweise) als Lebensprinzip über die Konkurrenz und überschreiten darin das bloße „an sich“ hin zum sozialen Subjekt samt je eigener Persönlichkeitsentfaltung. Oder, in den Worten Marxens und Engels‘: „Was … den … Turnouts (Streiks, Anm.) die eigentliche Wichtigkeit gibt, ist das, dass sie der erste Versuch der Arbeiter sind, die Konkurrenz aufzuheben. Sie setzen die Einsicht voraus, dass die Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich beruht, das heißt auf der Zersplitterung des Proletariats, aus der Entgegensetzung der einzelnen Arbeiter gegeneinander.“

Die Besonderheit von Streiks in frauendominierten Branchen

Dazu kommt: Das Gros der Frauen hat in ihrer tradiert-patriarchalen Doppelbelastung neben ihrer Erwerbsarbeit noch eine Reihe zusätzlicher Tätigkeiten und Belastungen zu schultern: umfangreiche Hausarbeit, familiäre Versorgung, Erziehung und Pflege von Kindern, Pflege von Alten, uvm. Da bleibt vielfach keine Zeit und keine Kraft für politische Tätigkeit und gesellschaftliches Engagement. Und oftmals führt jahrelange patriarchale Unterdrückung im Privaten auch zu extremen Hinnahmen und Aushaltepraxendes Drucks, der Arbeitshetze, systematischen Diskriminierung, Erniedrigungen, schwieriger Arbeitsverhältnisse und zahllosen Ungerechtigkeiten im Erwerbsleben.

Doch gerade der betrieblich-gewerkschaftliche Boden kann auch ins Gegenteil umgebogen werden. Denn Arbeitskampf im Betrieb ermöglicht es nicht zuletzt Frauen mit umfangreichen Sorgepflichten und mangelnderFreizeit aufgrund der Reproduktionsarbeit, trotzdem politisch aktiv zu werden: Denn gestreikt wird immer in der Arbeitszeit.

Und die kollektive Selbsttätigkeit in betrieblichen Auseinandersetzungen führt ihrerseits nicht selten zu einer Stärkung von Frauen, die das gewonnene Wissen um Durchsetzungsmacht, Handlungsfähigkeit und Selbstvertrauen auch im Privaten ein- und umsetzen können.

Streikformen und Beweglichkeit des Arbeitskampfs

Diesbezüglich ist es, zumal in Österreich, vielfach auch zweckmäßig, den Arbeitskampf mit entweder Warnstreiks zu beginnen oder aber auch mit Schwerpunktstreiks bzw. rollenden Arbeitsniederlegungen, in denen die Arbeit zwar jeweils nur in Teilbereichen eingestellt wird, aber als solche kombiniert und aufeinander abgestimmt entweder den Gesamtablauf empfindlich stören oder systematische Nadelstiche setzen. Dies, um neben einer forcierteren Druckausübung auf die Unternehmensvertreter, auch die Konfliktbereitschaft der Beschäftigten zu „testen“, zu entwickeln, und den Streikkampf weiter steigern und jederzeit zulegen zu können. Und die freilich vergleichsweise wenigen, aber umso bedeutenderen Erfahrungen zeigen: die Kampffront der Arbeitenden würde stehen. Die Beschäftigten wären bereit und willens, den Kampf konsequent aufzunehmen, auszudehnen und zum Erfolg zu führen. Gleichzeitig konnten sie den Medien die Wirkungen und Resonanz ihrer Aktionen entnehmen und in ihren gelungenen ersten Ausständen anfängliche Unsicherheiten auf vielfach noch unbekanntem Terrain überwinden und Selbstbewusstsein schöpfen sowie Einsicht in die eigene Klassenkraft gewinnen.

Streikbesonderheiten für Lehrlinge und junge Arbeitende

Das gilt nicht zuletzt auch für Lehrlinge und junge Arbeitende. Erstere stehen wie SchülerInnen zwar ebenfalls in Ausbildung, sind im Unterschied zu den weitläufigeren kollektiven Erfahrungs- und Kampfmöglichkeiten jener aber schon in betriebliche Arbeits- und Unterordnungsverhältnisse integriert. Im Unterschied etwa zu Schulstreiks oder Hörsaalbesetzungen an Universitäten hängen die Kampfmöglichkeiten und Politisierungspotenzen von Lehrlingen und jungen Arbeitenden im Betrieb daher auch viel stärkervon der Konfliktbereitschaft der Erwachsenen in den Betrieben (in denen sich ihre „ArbeitskollegInnen“ zugleich als „GewerkschaftskollegInnen“ resp. „GenossInnen“ erweisen) sowie der Kampfbereitschaft der Gewerkschaften ab. Um die es in Österreich allerdings bekanntlich ausnehmend schlecht bestellt ist.

Der radikal neue Gedanke der Arbeiterschaft als sozialem Subjekt und Marxens Hohelied auf den Arbeitskampf

In seinem radikal neuen Gedanken der Arbeiterschaft als historischem Subjekt und darin eingeschriebenem neuen Menschenbild, stimmt Marx zugleich geradezu ein Hohelied auf die Selbsttätigkeit und den aktiven Arbeitskampf der vorher isolierten und vielfach geduckten Arbeitenden an. Denn in ihren Kämpfen, zumal Streiks und ihrer aktiven Klassensolidarität werden die Arbeiterinnen und Arbeiter, als „Herz“ und soziales Subjekt der gesellschaftlichen Umgestaltung und menschlichen Emanzipation, „am liebenswürdigsten, am edelsten, am menschlichsten“.

Der gewerkschaftliche Kampf gegen die Teuerung in Perspektive auf Marx

Freilich bricht für viele nach beendetem Arbeitskampf der Alltag wieder an und stellt sich – eingedenk der erfahrenen Impulse für Handlungspraxis, Verhalten und Lebensweise – das Alltagsdenken wieder ein. Aber die gewonnenen Erfahrungen und Einsichten des zugespitzten Klassenkampfs gehen indes nicht verloren (so wenig wie die erfahrenen weiterreichenden Anstöße), sondern werden in der nächsten Auseinandersetzung reaktiviert, in denen die Arbeitenden aktiv auf sie zurückgreifen. Die massenhafte Herausbildung von Klassenbewusstsein verläuft sonach in einem dialektisch spiralförmigen Prozess, der – neben anderem – insbesondere die Selbsttätigkeit der Arbeitenden und der eigenen Erfahrungen beim eigenen Handeln erfordert.

Die verordnete Apathie und das Fehlen großer Klassenkonflikte seit Jahrzehnten verhindern zugleich ein breiteres Entstehen eines kämpferischen Widerstands und einer nötigen, starken Sozialbewegung. Nicht allein Arbeitskämpfe, sondern alle erdenklichen Formen der Selbsttätigkeit und Selbstermächtigung der Werktätigen werden verpönt. Der wachsende Unmut äußerst sich daher bislang noch stärker in der geballten Faust in der Tasche und diffusen Wahlproteststimmen als auf der Straße und in den Betrieben. Die drückende Teuerungswelle enthält in einer Verbindung des ökonomischen und politischen Kampfes mit einer tieferen Aufklärung über ihre Ursachen und Auswege allerdings nicht nur das Potential sich von den Zuschauertribünen zu erheben und selbst die Bühne zu bespielen, sondern öffnet auch vielen bislang Zurückhaltenden und Nachdenklichen neue Zugangsmöglichkeiten, ihre Wut in Widerstand zu verwandeln.

In Marxscher Perspektive geht es über die „Abwehr der Arbeit“ gegenüber der Profit-Logik und den Wolfsgesetzen des Kapitals sowie „Marktschwankungen“ in einem damit freilich zugleich darüber hinaus ebenso um eine politische Gestaltungsfunktion der Gewerkschaften sowie die revolutionäre Funktion der Aufhebung des kapitalistischen Lohnsystems als solchem. In historischer Perspektive macht Marx die voll entfaltete Funktions-Erfüllung der Gewerkschaften daher auch vom Kampf gegen das kapitalistische Lohnsystem und der „endgültigen Abschaffung des Lohnsystems“ abhängig. Und unter diesem umfassenden Blickwinkel haben für ihn, wie ausgeführt, die Selbsttätigkeit der Werktätigen, ihre Arbeits- und Gewerkschaftskämpfe auch die doppelte Bedeutung: einerseits des „unvermeidlichen Kleinkriegs“ zur Behauptung ihre Arbeits- und Lebensinteressen im Kapitalismus und andererseits als eine Art „Kriegsschule“ zur Vorbereitung auf die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Systems. Denn erst in ihrer Selbsttätigkeit und ihren Kämpfen konstituiert sich die Arbeiterklasse als soziales Subjekt der menschlichen Emanzipation und wird sich ihrer revolutionären Kraft bewusst.

In seiner diese Funktionen der Gewerkschaften in einer gleichsam klassischen Passage verdichtend, endet er in „Lohn, Preis, Profit“ sonach denn auch mit den berühmten Worten: „Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“

Unter heutigen österreichischen gewerkschaftspolitischen Bedingungen und der „sozialpartnerschaftlichen“ Integration der Gewerkschaftsspitzen ins System, ist man dahingehend jedoch fast geneigt mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair zu äußern: „Es fällt schwer, jemanden von etwas zu überzeugen, wenn sein Gehalt davon abhängt, es nicht zu verstehen.“

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