„Die Pflege von historischen Traditionen ist nie Selbstzweck. Vielmehr zeugt sie von der Stellung einer politischen Gruppierung zur Geschichte insgesamt und zu einzelnen geschichtlichen Ereignissen und ist somit ein bedeutender Bestandteil der politisch-ideologischen Auseinandersetzung. Dies gilt auch voll und ganz für den Streit um das historische Erbe der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848“ – schrieb der marxistische Historiker Manfred Mugrauer in seiner hier zum 175. Jahrestag des 13. März 1848 stark gekürzt wiedergegebenen Abhandlung „1848 – 1998: 150jähriger Streit um das historische Erbe“ vor 25 Jahren. Denn so historisch unbestritten einerseits der bürgerliche Charakter der 1848er Revolution ist, ist in ihr andererseits die Arbeiterschaft bereits als selbständige Kraft aufgetreten (wenn auch in Wien noch nicht in jener ganzen Bedeutung wie in Frankreich) – der Marx und Engels mit dem „Kommunistischen Manifest“ ihr programmatisches Fundament zu geben unternahmen.
Modernisierung und soziale Frage
Es waren im wesentlichen zwei Aspekte, die 1848 zur Revolution führten: einerseits war im Zuge der Industriellen Revolution eine gewaltige Modernisierung der Gesellschaftsstruktur erfolgt, durch die Einführung der Maschinerie und Dampfkraft war es zur Umwälzung der alten Verhältnisse und Lebensbedingungen ganzer Gesellschaftsklassen gekommen. Die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise wurde jedoch durch die ungebrochene politische Herrschaft der Feudalaristokratie gehemmt, was den Widerspruch zwischen dem verknöcherten spätfeudalen Regierungssystem und den neuen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen verschärfte.
Doch noch bevor dieser gelöst war, rief die industrielle Revolution einen neuen Widerspruch hervor, nämlich zwischen Bourgeoisie und dem entstehenden Proletariat, zwischen Kapital und Arbeit, oft auch umschrieben als „soziale Frage“. Auf den Massen lastete damit andererseits doppelter Druck: der Druck der absterbenden feudalen Herrschaftsverhältnisse und jener der Ausbeutung durch den frühen Industriekapitalismus.
Bollwerk der Feudalreaktion
Mit seinem Bündnis von „hoher Aristokratie und hoher Finanz“, dem allmächtigen und überall gegenwärtigen Apparat von feudaler und halbfeudaler Bürokratie, Polizei und Zensur galt Österreich als Hauptbollwerk der Feudalreaktion in Europa. Ein Ausspruch von Kaiser Franz I., dessen Revolutionsfurcht und Furcht vor dem Anwachsen der ArbeiterInnenklasse oft in Industriefeindlichkeit und in Niederlassungsverbote von Fabriken in der Hauptstadt und ihrer Umgebung umschlug, gibt Zeugnis von jenem Klima der geistigen Finsternis und Verdummung, das in diesem vor allem mit dem Namen Metternich verbundenen Unterdrückungssystem der Habsburgermonarchie herrschte: „Wer mir dient“, sagte der Kaiser vor Universitätsprofessoren, „muß lehren, was ich befehle, wer mir mit neuen Ideen kommt, der kann gehen, oder ich werde ihn entfernen. Ich brauche gehorsame, nicht gelehrte Untertanen“. Dafür zu sorgen wußte vor allem der wichtigste Staatsmann neben Metternich, der Leiter der Polizei- und Zensurstelle Sedlnitzky, der meinte: „Ein Volk befindet sich vom Augenblick an, wo es anfängt, Bildung in sich aufzunehmen, im ersten Stadium der Revolution“. Im Winter 1847/48 führten Mißernten, Hunger, Wucher und Preissteigerungen zu einer fortschreitenden Verelendung der Industriearbeiter und städtischen Gewerbetreibenden und damit zu einer Zuspitzung der revolutionären Krise. Im März 1848 zündete schließlich auch in Wien der Funkenflug der Pariser Februarrevolution.
Die Studentendemonstration zum Landhaus der niederösterreichischen Stände vom 13. März 1848 markiert den Beginn der Revolution in Wien. Bürger und Studenten forderten in der Innenstadt politische Reformen und die Abdankung Metternichs, in den Vorstädten begannen die ArbeiterInnen mit dem Sturm auf die Fabriken, um ihren noch primitiven Protest gegen die Folgen der Industrialisierung und gegen die kapitalistische Ausbeutung kundzutun. Die Wucht des Erhebung war derart gewaltig, daß das alte verfaulte Regime über Nacht kapitulierte. Metternichs mußte zurücktreten, die Zensur wurde aufgehoben, weiters wurde Pressefreiheit und die Ausarbeitung einer Konstitution zugestanden.
Zwiespältiger Ausgangspunkt
Die Revolution begann damit als gemeinsame Aktion aller modernen Klassen gegen Feudalismus und Absolutismus. Doch erst das spontane Eingreifen des Proletariats sicherte den Sieg, womit ein Grundproblem der Ereignisse 1848 markiert ist: die Rolle des Proletariats in der bürgerlich-demokratischen Revolution, in politischer, organisatorischer und ideologischer Hinsicht. Metternichs Rücktritt erfolgte zwar unter dem Eindruck der in den Vorstädten aufsteigenden Feuersäulen der brennenden Fabriken. Doch es waren die Fabriken des siegreichen Bürgertums, die brannten. Die demokratische Revolution war bereits zerfurcht von den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft, weshalb das gerade erst nach politischen Rechten und Freiheit greifende Bürgertum angesichts der sich kraftvoll entwickelnden ArbeiterInnenschaft schon um sein Eigentum zu zittern hatte. Karl Marx brachte dies folgendermaßen auf den Punkt: „Die deutsche Bourgeoisie befindet sich also schon im Gegensatz zum Proletariat, ehe sie noch als Klasse sich politisch konstituiert hat. Der Kampf zwischen den „Untertanen“ ist ausgebrochen, ehe noch Fürsten und Adel zum Land ausgejagt sind“. Von dieser Zwiespältigkeit ging die Revolution aus.
Die ArbeiterInnenklasse war damit in die weltgeschichtliche Arena eingetreten und mit ihrem selbständigen Eingreifen in die bürgerliche Revolution zum geschichtlich wirksamen Faktor geworden. Je mehr jedoch die ArbeiterInnen ihre eigenen sozialen Forderungen anmeldeten, desto rascher verlor die Revolution für die erschreckte und verunsicherte Bourgeoisie ihre Anziehungskraft. Mit den liberalen Errungenschaften der Märztage vollauf zufrieden, begann sie auf die Seite der Krone hinüberzuschwenken. Die fortschrittlichen Kräfte wollten dabei jedoch nicht stehenbleiben, sondern drängten weiter, um den vollen Sieg der bürgerlichen Demokratie durchzusetzen. Friedrich Engels schrieb: „Aber es ist das Schicksal aller Revolutionen, daß dies Bündnis verschiedener Klassen, das bis zu einem gewissen Grade immer die notwendige Voraussetzung jeder Revolution ist, nicht von langer Dauer sein kann. Kaum ist der Sieg über den gemeinsamen Feind errungen, da beginnen die Sieger sich in verschiedene Lager zu scheiden und die Waffen gegeneinander zu kehren“. Deshalb zerbrach das für die erste Etappe charakteristische Bündnis zwischen bourgeois- bzw. adlig-liberalem Hegemon und den Massen: die Bourgeoisie kapitulierte vor der elenden Vergangenheit, weil sie die Zukunft fürchtete.
Von der Maierhebung zur Praterschlacht
Die Barrikadentage des Mai brachten noch einmal eine Vertiefung des revolutionären Prozesses und eine Ausweitung der demokratischen Errungenschaften. Die Maierhebungen waren notwendig geworden, da die versprochene und im April oktroyierte Konstitution („Pillersdorffsche Verfassung“) höchstens eine Verhöhnung der Demokratie darstellte. Als Ergebnis der „Sturmpetition“ mit klaren demokratischen Forderungen der Wiener Studenten, die den Aufstand der ArbeiterInnen und Studenten auslöste, mußte das reaktionäre und arbeiterfeindliche Zensuswahlrecht und der kaiserlicher Erlaß über die Auflösung des Zentralkomitees der im Zuge der Märzrevolution gegründeten bürgerlichen Nationalgarde zurückgenommen werden. Der Kaiser und sein Hofstaat flohen nach Innsbruck, über Wien schwebte das Gespenst der „roten Republik“.
Hierauf begannen die Versuche der konterrevolutionäre Kräfte, in die Offensive überzugehen, um die demokratischen Errungenschaften der Märzstürme zu beseitigen. Als in diesen Tag die Macht buchstäblich auf der Straße lag, bildeten sich Ansätze einer Doppelherrschaft in Form des „Sicherheitsausschusses“ als Führungsorgan der gemäßigten demokratischen Kräfte jenseits der konstitutionellen Regierung heraus. Doch die kleinbürgerliche Demokratie vermochte diese republikanische Chance nicht zu nutzen, sie war in dieser revolutionären Situation dem Kampf um die Macht, den die Bourgeoisie nach ihrem Kompromiß mit Adel und Krone nicht mehr zu führen bereit war, nicht gewachsen und verharrte in aussichtsloser und verhängnisvoller Defensive. Die von der reaktionären Hofkamarilla am 16. Mai inszenierte Flucht des Kaisers mit dem Hof nach Innsbruck bewirkte im Gegenzug die Formierung eines reaktionären Zentrums zur Koordinierung der konterrevolutionären Aktionen in der Habsburgermonarchie. Im Massaker der bourgeoisen Nationalgarde am 23.08. unter demonstrierenden ArbeiterInnen, die durch ministeriellen Erlaß um Lohn und Arbeitsplatz geprellt worden waren, kam auch in Wien, ähnlich der Pariser Junischlacht, der entscheidende innere Konflikt der Revolution, der „Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat blutig zum Ausbruch“. Damit war die Bourgeoisie offen ins Lager der Konterrevolution übergegangen. Die Akademische Legion, die bewaffnete Einheit der Studenten, stand bereits mit distanzierter Neutralität abseits.
Aufrecht stehend, und nicht kniend
Die Phase des Wiener Volksaufstandes im Oktober markiert den Höhepunkt der Revolution, der den demokratischen Kräften auch Machtpositionen einbrachte. Ursache dafür war die die Verhinderung des Abmarsches von Truppen gegen die ungarische Revolution und die entschlossene Abwehr der militärischen Übermacht der organisierten Konterrevolution unter Windischgrätz und Jellacic, die seit Monaten gegen das demokratische Wien vorrückte. Am 6. Oktober wurde Kriegsminister Latour von einer rasenden Volksmenge gelyncht, in der Nacht bestürmten die waffenlosen Arbeiter das kaiserliche Zeughaus in der Renngasse, das am Morgen des 7. Oktober übergeben werden mußte. Der aussichtslose Kampf der Verteidiger, bestehend aus ArbeiterInnen, Teilen der kleinbürgerlichen Nationalgarde und der Akademischen Legion, endete schließlich mit der Besetzung und Einnahme der Stadt, 2.000 Zivilopfern, weißem Terror, Verfolgung und standrechtlicher Erschießung zahlreicher Demokraten. „Ich bedaure nur, daß dieses Schandnest mit seinen ebenso niederträchtigen wie stupiden Bewohnern nicht in Flammen aufgegangen ist“, sagte der neue Staatskanzler Fürst Schwarzenberg. Die bürgerlich-demokratische Revolution in Österreich erlag damit bereits im November 1848 der „monarchistischen, bürokratischen, halbfeudalen und militärischen Reaktion“. Überall in Europa endeten die Revolutionen mit einer Niederlage, nirgendwo können sich demokratische Kräfte durchsetzen und ihre Ziele verwirklichen. Es begann die Zeit der Stabilisierung der habsburgischen Konterrevolution und der Wiederherstellung des Absolutismus.
Unerwünschte Massenaktivität
150 Jahre danach tobt unter den politischen Strömungen der Streit darüber, wer denn der legitime Erbe der Revolution von 1848 sei.
Der auch heute noch zur Lektüre empfohlene, von Manfred Mugrauer eingehend gezeichnete, Streit um das Erbe der 1848er Revolution von 1998, muss im hiesigen Zweck zurückgestellt bleiben – sei aber nichts desto weniger auch zur detaillierten Nachlese empfohlen.
(…) Im Mittelpunkt dieser historiographischen Kontroverse als Bestandteil der politischen Auseinandersetzung um das Revolutionsjahr 1848 – so Mugrauer weiter – stehen letztlich alle Grundprobleme einer bürgerlich-demokratischen Revolution. Bestimmend für die Auseinandersetzung ist im Kern ein übergreifendes Grundproblem historischer Revolutionsbetrachtung: nämlich die Frage nach Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit, nach Standort und Funktion der 48er Revolution im welthistorischen wie nationalgeschichtlichen Entwicklungsprozeß. Während die marxistische Geschichtsschreibung die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49 als ein Ereignis wertet, das nicht nur zeitlich, sondern auch seinem historischen Rang nach im Zentrum des 19. Jahrhunderts steht, hatte die bürgerliche Geschichtsschreibung in der Vergangenheit oftmals Schwierigkeiten mit dem Thema 1848.
Höchst unterschiedlicher Einschätzung erfreut sich die Bewertung des Wirkens der revolutionären Massen in den Stürmen von 1848. Unbestritten ist zwar der bürgerlich-demokratische Grundcharakter der gesamteuropäischen Revolution von 1848/49 (um die objektive Grundrichtung der sozialen Umwälzung und die revolutionär-qualitative Ablösung der feudalen durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zu charakterisieren), festzuhalten bleibt bei der Ortung der in ihr wirkenden Klassenkräfte dennoch, daß die breiten Volksmassen – die ArbeiterInnen, Handwerker, Bauern und kleinen Händler, sowie die Angehörigen der Intelligenz mit demokratischer Einstellung – als die eigentlichen Träger und Triebkräfte bereits mit eigenen Forderungen und Vorstellungen in den revolutionären Prozeß eingriffen und ihn voranzutreiben versuchten. Es waren die revolutionären Aktionen der Massen, die die Revolution erst auslösten, den Bann der Reaktion brachen und Machtveränderungen erzwangen. Von ihnen gingen die Initiativen zur Weiterführung der Revolution aus, sie leisteten den einzigen Widerstand gegen die vorrückende Konterrevolution. (…) Nicht minder verfälschend gestalten sich die Vereinnahmungsversuche national-freiheitlicher Kreise: per Verabsolutierung der nationalen Frage – sowie ebenso: große Verwirrung über deren Dialektik und Fortgang (Ausführlicher und im Einzelnen hierzu die zweite Hälfte des Aufsatzes im Original.)
Heute schon fast der Vergessenheit anheimgefallen findet sich in Wien neben dem Denkmal für die Opfer der Märzrevolution 1848 am Zentralfriedhof (11. Bezirk) zudem auch der Achtundvierzigerplatz (im 14. Bezirk) zu Erinnerung an die Märzgefallenen, um den herum auch eine Reihe von Straßen nach Opfern der 1848er Revolution benannt sind.
Bild: Arbeiteraufstand im Wiener Prater, GNM-MA, Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0), cropped