Westsahara: Neokoloniale Wende der EU & NATO

Während für die Fußballwelt und die Medien der Einzug Marokkos ins Achtelfinale der WM im Fokus der Berichterstattung stehen, findet in Berlin im Schatten der Fußballweltmeisterschaft gerade die 46. Europäische Konferenz zur Unterstützung und Solidarität mit dem sahaurischen Volk (Eucoco) statt. Und dies vor dem Hintergrund der neokolonialen Wende der EU zugunsten einer strategischen Allianz Marokko.

Nach der ehemaligen Kolonialmacht Spanien im Frühjahr hat im Sommer auch Deutschland das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris in der Westsahara am Altar des Ost-West-Weltordnungskriegs geopfert. Bezüglich der von Marokko als Besitzstand gehaltenen letzten Kolonie Afrikas gäbe es nur mehr „in Nuancen Unterschiede“, so Deutschlands Obermissionarin Annalena Baerbock in der Hauptstadt des für „grünen“ Wasserstoff prominenten Königreichs, im August ein weiteres Kapitel ihrer „wertebasierten Außenpolitik“ und des Selbstbestimmungsrecht nach Strickmuster des „Kollektiven Westens“ aufschlagend. Zieht man ihre Aussage mit ein, sich auf diesem Weg „nie wieder abhängig (zu) machen von Ländern, die unsere Werte nicht teilen“, wär‘ man fast geneigt zu sagen: ‚Nur wer Kolonie kann, kann Außenpolitik‘.

Bereits im unsäglichen Zynismus rund um das Massaker in Melilla Ende Juni spiegelte sich wie durch ein Brennglas die im Frühjahr aufgeschlagene „neue Phase“ in den Beziehungen Spaniens (resp. der EU) zu Marokko wider. Ihr erstes Opfer wurde denn auch – unter weitgehendem medialen Desinteresse – die ‚Frente Polisario‘ in der Westsahara. Denn in eins damit wurde das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris, in der letzten Kolonie Afrikas, in diesem Zuge nun auch von dessen ehemaliger Kolonialmacht Spanien quasi offiziell ad acta gelegt und die Westsahara dem marokkanischen Expansionismus übergegeben. Dass wiederum Algerien auf diesen Schacher, der an tiefste Kolonialzeiten erinnert, Sanktionen gegen Madrid verhängte und die Gaspreise für Spanien erhöhte, findet sich in unseren Medien nur insoweit, als es die europäische Gasversorgung berührt. Ansonsten putzt man die dreckige von Brüssel und den Hauptstädten der „EU Wertegemeinschaft“ (mit)getragene „neue Marokko-Politik“ vorrangig schön auf.

Linke Kräfte Spaniens geißeln daher auch den Umstand, dass Madrid im Chor der NATO im Namen des (oder zumindest unter dem Label des) Selbstbestimmungsrechts der Ukraine einerseits Waffen an Kiew liefert, das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris bzw. der Westsahara allerdings gerade dem Schwenk zu Marokko geopfert hat. Dabei ist deren Selbstbestimmungsrecht auf der internationalen Bühne spätestens seit der UN-Generalversammlung 1965 virulent, die Spanien seinerzeit aufforderte, die Westsahara in die Unabhängigkeit zu entlassen. Die Westsahara, bis 1975 Kolonie des faschistischen Spaniens und danach weitgehend von Marokko besetzt, verfügt über ungeheure Vorräte, wenn nicht gar die weltweit größten Vorkommen, an qualitativ hochwertigem und im Tagebau abbaubaren Phosphat.

Dass das Massaker von Mellila die wenige Tage darauf in Madrid unter dem Titel der „Verteidigung der Souveränität“ (der Mitgliedsstaaten) tagende NATO nicht weiter anfocht, braucht wohl keine näheren Ausführungen. Viel zynischer noch, die „Verteidigung der Souveränität“ beinhaltete dabei vielmehr erstmals explizit auch die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko, die bisher zwar schon der EU angehörten, nicht aber als NATO-Territorium galten. Denn, so das dann verabschiedete NATO-Strategiepapier: „Wir stehen vor sehr großen Bedrohungen unserer Südflanke, die unsere Souveränität gefährden, in Form der politischen, nicht zu akzeptierenden Nutzung von Energie und der irregulären Migration.“ Dass das westliche Militärbündnis Flüchtlingsbewegungen und Schutzsuchende allem voran als „Sicherheitsproblem“, ja „Souveränitätsbedrohung“ wahrnimmt, ist geradezu kennzeichnend für die „westliche Wertegemeinschaft“ und beileibe kein Unikum von politischen rechts-außen Kräften, wie es sich manche schönzimmern wollen. Man blicke lediglich auf die diesbezüglich immer grellere Allparteienkoalition in Österreich. Und wer erinnert sich nicht mit Schaudern an Kamala Harris noch nicht lange zurückliegenden Appell an die Schutzsuchenden an der US-Südgrenze: „Kommt nicht, wir schieben euch ab!“

Begleitend machte sich US-Außenminister Antony Blinken bereits zuvor für eine Stärkung der strategischen Allianz der NATO mit Marokko stark und signalisierte unzweideutig, dass auch die Biden-Administration die von Trump im Dezember 2020 für Washington auf den Weg gebrachten Anerkennung der „marokkanischen Hoheitsrechte“ über die besetzten Gebiete beibehalten wird. Dass dies sowohl den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats wie dem Völkerrecht eklatant widerspricht, hat Donald Trump natürlich ebenso wenig tangiert wie es das heutige Washington irgendwie weiter berührt. Seither sind denn auch eine Reihe weiterer NATO- und EU-Staaten Trump gefolgt und rückt einer nach dem anderen von der UN-Position und dem Friedensabkommen von 1991 ab, das (als Grundlage des Waffenstillstandsabkommens) ein – seither von Marokko freilich systematisch hintertriebenes – Referendum über die Unabhängigkeit vorsah. Im Windschatten der eskalierenden Ukraine-Krise erklärte dann auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine stärkere politische, wirtschaftliche, technologische Präsenz im nordafrikanischen Königreich zur „strategischen Option“ und zu einer „absoluten Priorität“.

Nach einer Phase außenpolitischer Querelen (bis hin zum Abzug des Botschafters durch Rabat) und Misstöne haben nach der spanischen Preisgabe der Westsahara jüngst denn auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und ihr marokkanischer Amtskollege Nasser Bourita in Rabat im deutsch-marokkanischen Verhältnis ein „neues Kapitel“ aufgeschlagen (ja, geradezu lyrisch: „ein neues Kapitel unseres gemeinsamen Buches“). Bezüglich der letzten Kolonie Afrikas gäbe es nun nur mehr „in Nuancen Unterschiede“ und auch gegenüber dem südlich des Königreichs gelegenen widerborstigen Mali bestehen starke Interessenskongruenzen. Entsprechend, so schon Frank-Walter Steinmeier in seinem Brief an König Mohammed VI., erklärt Deutschland zwischenzeitlich den 2007 vorgelegten marokkanischen „Autonomieplan“, in dem Marokko ausdrücklich an seiner Hoheit und Souveränität über die Westsahara festhält, „als ernsthafte und glaubwürdige Bemühung und als gute Grundlage für eine Beilegung dieses regionalen Konflikts“. Allerdings war ihm da die „wertebasierte, feministische“ Außenpolitik Annalena Baerbocks schon zum Jahreswechsel 2021/22 und noch ein gut Stück vor Ausbruch des Kriegsgeschehens in der Ukraine bereits zuvorgekommen gewesen, die den marokkanischen „Autonomieplan“ schon vor Jahreswende als „wichtigen Beitrag“ bezeichnete, „um in der Westsaharafrage voranzukommen“. Darüber ob „Marokko den unter seiner Kontrolle stehenden Teil der Westsahara annektiert und besetzt hat“, hüllte sich die neue deutsche Außenministerin auf Anfrage lieber in Schweigen. Denn dass der Schwenk ganz offen den UN-Resolutionen zur Entkolonisierung der Westsahara widerspricht, will man dann doch lieber nicht allzu offen eingestehen und aussprechen. Das Selbstbestimmungsrecht der Sahauris und die Abstimmung der westsaharischen Bevölkerung über ihre Zukunft ist für Berlin, wie gesagt gerade Tagungsort der Eucoco, damit (mindestens faktisch) obsolet.

Zudem hat man sich geeinigt, die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen mit Rabat auszubauen. Vor allem aber bietet der Wüstenstaat an der Mittelmeerküste mit seinen hohen Windstärken und zahlreichen Sonnenstunden geradezu ideale Voraussetzungen für Europas partielle Energiewende hin zu Erneuerbaren und milliardenschwere Investitionsmöglichkeiten für Pläne zur Herstellung von grünem Wasserstoff. „Das Interesse an Projekten für erneuerbare Energien und an Plänen zur Herstellung von grünem Wasserstoff von Deutschland in Marokko“, so die deutsche Regierung auf eine Bundestagsanfrage von Sevim Dağdelen auch recht offen, „war aufgrund der großen Potentiale für erneuerbare Energien, der fortschrittlichen Energiepolitik und der Nähe zu Europa stets sehr groß und rückt angesichts aktueller Entwicklungen [sprich: des Wirtschaftskriegs gegen Russland] wieder in den Fokus.“

Und ist es auch um den Preis, die letzte Kolonie Afrikas für die neue strategische Allianz mit Marokko auf dem Rücken der Sahauris de facto anzuerkennen und den seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten währenden Befreiungskampfes der Sahauris auf dem Altar der neuen Weltordnungsschlacht des „Wertewestens“ zu opfern.

P.S.: Ach so, um auch den Bogen zur Einleitung nochmals zurück zu spannen, Marokko trifft im Achtelfinale der WM übrigens auf Spanien – für Madrids sozialdemokratischen Regierungschef Pedro Sánchez und König Mohammed VI. seit dem Frühjahr politisch mithin sozusagen ein Freundschaftsspiel. Frank-Walter Steinmeier und Annalena Baerbock ist ein solches nach dem Ausscheiden der deutschen Elf in der Vorrunde allerdings verwehrt. Das ist dann aber auch schon der einzige Wermutstropfen des sozialdemokratisch-grünen Kolonialismus.

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