Hereo & Nama: Erster Genozid des 20. Jahrhunderts, verbrecherische deutsche Kolonialvergangenheit und unerträgliche Selbstgerechtigkeit des Westens

„Weil deutsche Kolonialverbrechen in Afrika ein halbes Jahrhundert früher endeten als die Englands und Frankreichs“, da das Deutsche Reich als Kriegsverlierer durch den Versailler Vertrag seine kolonialen Besitzungen nach dem Ersten Weltkrieg verlor, „blieben die etwa eine Million Toten, die deutscher Kolonialismus in Afrika verursacht hatte“ – so Sabine Kebir unlängst – und die kolonialen Verbrechen Deutschlands bis hin zum ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, dem Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia, stärker im Schatten. Und so ist es für das politische Ampel-Kriegskabinett in Berlin freilich entsprechend leichter, gegen andere Staaten historische Tragödien zu angeblichen Völkermorden zu erklären – wie letzte Woche mit dem „Holodomor“-Beschluss des Bundestags – als die Verbrechen der eigenen Geschichte angemessen anzuerkennen. Ungeachtet der Farce des Bundestags-Beschlusses gilt der gezielte koloniale Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama 1904 im damaligen Deutsch-Südwestafrika der Geschichtswissenschaft jedenfalls übereinstimmend als erster Genozid des 20. Jahrhunderts. Dass die zweitägige heutige und morgige Namibia-Reise des oliv-grünen deutschen Kriegswirtschaftsministers Robert Habeck indes etwas am ebenso umstrittenen wie erbärmlichen „Versöhnungsabkommen“ von 2021, das die darin noch nicht einmal eingebundenen Herero und Nama als reinen „PR-Coup Deutschlands“ charakterisieren, auch nur einen Millimeter gegen die fälschlich wie eine Monstranz vor sich hergetragenen Selbstgerechtigkeit verschieben könnte – glaubt niemand. 

1904: Der Beginn des Kolonialmassakers gegen den Aufstand der Herero und Nama

Die von kolonial-rassistischer Unterdrückung, Landraub, Deportationen und Gewalt gepeinigten und verzweifelten Herero, denen sich die Nama anschlossen, wagten 1904 den Aufstand gegen die deutschen Kolonialherren. Die daraufhin um über zehntausend Mann verstärkte „Schutztruppe“ (welch unsäglicher Euphemismus), eine zu jener Zeit dazu bereits moderne Armee, unter dem Kommando Generalleutnants Lothar von Trotha, reagierte mit brutaler Gewalt: Der kaiserliche Oberbefehlshaber, der den Befehl zu vollständigen Vernichtung der Empörung – ja, der Herero „als solche“ – ausgab, ließ fast das gesamte Volk der Herero in die Wüste jagen und die wenigen Überlebenden in Konzentrationslager und Reservate zur Zwangsarbeit internieren.

Oberbefehlshaber Lothar von Trotha: „Ich glaube, dass die Nation [der Herero] als solche vernichtet werden muss“

Trotha – der im Namen des Kaisers bereits 1896 die Wahehe-Erhebung, ein Aufstand in Ostafrika, blutig unterdrückte und 1900/01 an der Niederschlagung des Boxeraufstands in China beteiligt war – war keine zufällige Wahl. Demgemäß erklärte er auch von sich in kolonialer Herren(menschen)manier: „Ich kenne genug Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, dass sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut … Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen …“ Weil sich „der Neger keinem Vertrag, sondern nur der rohen Gewalt beugt, … müssen [die Herero] jetzt im Sandfeld untergehen.“

Die Politik von Major Theodor Leutwein, des nun enthobenen Gouverneurs in Deutsch-Südwestafrika 1895 – 1904, galt den herrschenden Kreisen der kaiserlichen Reichsregierung und der Generalität als zu zaghaft. Ihnen galt es nicht „nur“ den Aufstand entschlossen niederzuwerfen, sondern den Krieg bis zur vollständigen Vernichtung des Gegners zu treiben. Dem entsprechend erklärte Trotha in einem Brief an Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen vom 4. Oktober 1904 denn auch: „Gouverneur Leutwein und einige ‚alte Afrikaner‘ … wollten schon lange verhandeln und bezeichnen die Nation der Herero als notwendiges Arbeitsmaterial für die zukünftige Verwendung des Landes. Ich bin gänzlich anderer Ansicht. Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss …“ Ein Satz, den er in seinem Schreiben gleich dreimal wiederholte.

Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts

Demgemäß ließ er zunächst die Dörfer der Herero sowie umherziehende Viehzüchtergruppen angreifen und trieb sie mit der überlegenen Feuerkraft der Deutschen bewusst in Richtung Wüste, ließ das Gebiet der Omaheke-Salzwüste abriegeln und vergiftete die vorhandenen Wasserstellen bzw. unterband anderweitig die Wasserversorgung. Die Kapitulationsangebote der Herero wurden vom neu entsandten Gouverneur Deutsch-Südwestafrikas und Oberbefehlshaber der Truppen Wilhelm II. brüsk abgelehnt. Tausende Herero starben an den von den Deutschen vergifteten Wasserlöchern unter den Augen der sie umzingelnden kaiserlichen Truppen. Abertausende weitere verdursteten mitsamt ihren Familien und Rinderherden in der Ödnis der Kalahari.

„Die Überlebenden mussten ebenso wie gefangene Nama in – bereits damals so benannten – Konzentrationslagern Zwangsarbeit leisten; ein großer Teil von ihnen starb an Hunger und Krankheiten“, wie Anke Schwarzer deren weiteres ‚Schicksal‘ skizziert. „Im verbleibenden Jahrzehnt deutscher Kolonialherrschaft wurden jene, die mit dem Leben davon kamen, enteignet, in Reservate gesperrt, vergewaltigt und zur Arbeit gezwungen. Deutsche Unternehmen und Farmen konnten die versklavten Menschen für ihre Arbeitseinsätze in Minen, auf Weiden und an Eisenbahnlinien ‚bestellen‘.“ Weit über 70.000 Herero (von 80.00 bis 100.000), sprich: bis zu 80% der damals zweitgrößten Stammesgruppe des Landes, fielen dem Kolonialmassaker zum Opfer, dazu etwa 10.000 Nama, mehr als die Hälfte.

Kolonialer Rassismus und Genese(n) am deutschen resp. westlichen Wesen

Vereinzelten moralischen Skrupeln begegnete man im Sinne der kolonialen Topoi. Stellvertretend für jene rassistisch-kolonialistische Denkeinstellung und das westliche Herren-Denken, sei etwa der in Deutsch-Südwestafrika tätige Wirtschaftssachverständige Paul Rohrbach herangezogen, der moralischen Zweifeln an der kolonialen Unterwerfung und ihren viehischen Praktiken entgegnete: Fortschritt entwickle sich, indem man die „afrikanischen Rassen“ der „weißen Rasse“ dienstbar mache, und zwar durch „den Erwerb der größtmöglichen arbeitenden Tüchtigkeit“. Diesem Rassismus korrespondierend lässt sich etwa auch eine Eingabe deutscher Siedler zu „unseren Eingeborenen“ heranziehen, dass „es nicht gut möglich (ist), dieselben als Menschen im europäischen Sinne anzusehen“.

Und genau diese Ansicht teilten auch der deutsche Kolonialismus in Afrika und der kaiserlichen Generalleutnant Trotha und spann sich bis in das Kolonialmassaker fort: „Dieser Aufstand ist und bleibt der Anfang eines Rassenkampfes.“

Löbliche Ausnahmen: Zeitgenössischen deutsche Kritiker im heutigen Namibia

Einer der minderheitlichen Kritiker, wie der Missionar Elger, formulierte zur Lage und den Verhältnissen in einem Brief an die Rheinische Missionsgesellschaft: „Die eigentliche Ursache der Erbitterung der Hereros gegen die Deutschen ist ohne Frage die, dass der Durchschnitt der Deutschen hier den Eingeborenen ansieht und behandelt als ein Wesen, welches mit dem Pavian (Lieblingsname für Eingeborene) so ziemlich auf einer Stufe steht. … Daher gilt dem Weißen sein Pferd und sein Ochse mehr als der Eingeborene.“

Derselbe Elger schilderte nach Ausbruch des Aufstands der Herero gegen ihre Peiniger dann die Reaktion der Siedler in düsteren Worten: „Die Deutschen sind erfüllt von einem furchtbaren Hass und schrecklichen Rachedurst, ja ich möchte sagen: Blutdurst gegen die Hereros. Man hört in dieser Beziehung nichts als: ‚aufräumen, aufhängen, niederknallen bis auf den letzten Mann, kein Pardon‘ etc. Mir graut, wenn ich an die nächsten Monate denke.“ Womit er (leider) Recht behalten sollte.

Der Vernichtungsbefehl

Entsprechend dann auch der „Erlass“ den Generalleutnant Lothar von Trotha am 2. Oktober 1904 herausgab: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und keiner Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero. / Der Große General des mächtigen Kaisers v. Trotha“

Und an seine Soldaten gewandt ließ er mitteilen: „Ich nehme mit Bestimmtheit an, dass dieser Erlass dazu führen wird, keine männlichen Gefangenen mehr zu machen.“ Die Truppen steigerten damit einhergehend ihren Offensivkrieg zum offenen Genozid. Ein Augenzeuge berichtete dazu: „Nach der Schlacht wurden alle Männer, Frauen und Kinder ohne Gnade getötet, die, ob verwundet oder nicht, den Deutschen in die Hände fielen. Dann verfolgten die Deutschen die übrigen, und alle Nachzügler am Wegesrand und im Sandfeld wurden niedergeschossen oder mit dem Bajonett niedergemacht. Die große Masse der Herero-Männer war unbewaffnet und konnte sich nicht wehren. Sie versuchten nur, mit ihrem Vieh davonzukommen.“

Die unverblümt emphatische Lobpreisung des Genozids durch den deutschen Generalstab

Der deutsche Generalstab pries Trothas militärische Taktik und Völkermord geradezu unverblümt: „Diese kühne Unternehmung zeigt die rücksichtslose Energie der deutschen Führung bei der Verfolgung des geschlagenen Feindes in glänzendem Lichte. Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke[-Wüste] sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Hererovolkes.“

„Nationale (deutsche) Würde“ und „wirtschaftliche Interessen“

Entsprechend hielten denn auch nach dem Völkermord zahlreiche Beteiligte und Profiteure die Gräueltaten hoch. Georg Maercker, Major der Schutztruppe von Deutsch-Südwestafrika, etwa resümierte 1907 vor der Deutschen Kolonialgesellschaft: „Vor dem Krieg waren wir lediglich die Geduldeten im Lande. Mit unsäglichem Hochmut und starkem Dünkel sahen die Eingeborenen auf uns herab. Dem musste ein Ende gemacht werden, denn das vertrug sich weder mit unserer nationalen Würde noch mit unseren wirtschaftlichen Interessen.“

Gegenstimmen der revolutionären Arbeiterbewegung: Karl Liebknecht und August Bebel

Ganz anders dagegen die prägenden Köpfe der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung wie Karl Liebknecht und August Bebel. Liebknecht geißelte die Verbrechen des deutschen Kaiserreichs im damaligen Deutsch-Südwestafrika und anderen Kolonien in seiner Anfang 1907 erschienen Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ auf das Entschiedenste, beschrieb treffend den Vernichtungskrieg der deutschen Kolonialtruppen und charakterisierte als Antiimperialist deren Massaker „zum Profit der kapitalistischen Kolonialinteressen“. Auch August Bebel wiederum äußerte im Spätsommer 1911 nicht minder unmissverständlich über den Herero-Aufstand: „Dass das unterdrückte, ausgebeutete, geknechtete Volk zur Empörung griff, war sein gutes Recht. Es war ihr Heimatland, ihr Vaterland, das die Hereros gegen fremde Eroberer zu verteidigen suchten.“

Mühselige Aufarbeitung der deutschen Kolonialgräuel und des Genozids

Über Jahrzehnte ignoriert, allenfalls als „trauriges Ereignis“ oder „dunkles Kapitel“ in der deutschen Geschichte abgetan, begann die schleppende Aufarbeitung der Kolonialgräuel und des Genozids an den Herrero und Nama in Westdeutschland erst nach über 100 Jahren. Dabei, so abschließend nochmals Anke Schwarzer, „waren die Ereignisse im Deutschen Reich keineswegs geheim gehalten worden. Mit bemerkenswerter Unverblümtheit wurde der Krieg gegen die Herero der damaligen Öffentlichkeit präsentiert. Postkarten, die Gefangene in Ketter, Lager- und Hinrichtungsszenen zeigten, wurden hergestellt. Auch gibt es Bilder von Hererofrauen, die mit Glasscherben die Schädel ihrer toten Verwandten säubern mussten, damit diese in das Pathologische Institut Berlin geschickt werden konnten.“

Das nur ein Jahr später stattgefundene deutsche Kolonialmassaker im Süden Tansanias wiederum, ist dem öffentlichen Bewusstsein selbst heute noch weitgehend unbekannt. „1905 schlugen die deutschen Truppen“, so Jörg Kronauer das damalige Wüten in Erinnerung rufend, „einen breit getragenen Aufstand im Maji-Maji-Krieg nieder. Ihre ‚Strategie der verbrannten Erde‘ hat in Ostafrika sogar noch mehr Menschen das Leben gekostet als der Genozid in Deutsch-Südwest. Genannt wird heute die Zahl 180.000, der tansanische Historiker Gilbert Gwassa geht sogar von 250.000 bis 300.000 Todesopfern aus. Das wäre ein Drittel der Gesamtbevölkerung im damaligen Kriegsgebiet.“

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