Nord-Stream-2: „Friendly Fire“ in der Ostsee – Und jetzt?

„Jeder vorsätzliche Angriff auf die kritische Infrastruktur der Bündnispartner würde mit einer gemeinsamen und entschlossenen Reaktion beantwortet“, drohte die NATO nachdem in den frühen Morgenstunden des 26. Septembers 2022 die Pipeline Nord-Stream-2 – eines der teuersten Energie-Infrastrukturprojekte aller Zeiten – gesprengt wurde. Und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell sekundierte: „Jede absichtliche Störung von aktiver europäischer Energieinfrastruktur ist inakzeptabel und wird zu der stärksten möglichen Reaktion führen“, ja, „mit einer robusten und gemeinsamen Reaktion“ beantwortet. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen legte nochmals nach und kündigte eine „härtest mögliche Antwort“ an.  

Schnell war man auch mit der Schuldzuweisung zur Hand: Natürlich, der Iwan war‘s. Kiew nannte die Sprengung denn auch sogleich eine russische „Aggression gegenüber der EU“. Und westliche Politiker erkannten hinter dem „Staatsterrorismus Russlands“ gegen die kritische Infrastruktur unisono und unzweifelhaft dessen „hybriden Krieg“. Was das Ganze noch heikler macht: in Nord-Stream-2 steck(t)en gewaltige deutschen Investitionen, der Angriff wiederum erfolgte nur haarscharf knapp außerhalb dänischer Hoheitsgewässer. Der Anschlag grenzt damit durchaus an einen Angriff auf zwei NATO-Staaten. Einzig: Moskau wird mittlerweile auch von den Schreibtisch- und Redaktions-FeldwebelInnen nicht mehr als Verdächtiger genannt und kommt in sämtlichen neueren Berichten auch nicht mehr vor. Die Spuren verweisen derweil vielmehr auf Washington oder Kiew selbst bzw. auch nach Warschau. Und jetzt?

Unter Freunden, …“ (Angela Merkel)

„Nein, über Langeweile muss sich derzeit nicht beklagen, wer verfolgt, was der Öffentlichkeit in den transatlantischen Leitmedien zum Thema Nord-Stream-Anschläge geboten wird“ – so Jörg Kronauer, in dessen den aktuellen Stand zur Attacke ebenso resümierender wie aufschlussreicher Kolumne „Fein raus ist niemand“ der aktuell erschienen Ausgabe „unsere-zeit“, die wir vorliegend mit wiedergeben.

Das in der Einleitung angezogene „haarscharf außerhalb des dänischen Hoheitsgewässers“, verdeutlicht die Penibilität der Operation. Wäre nur eine der vier gewaltigen Sprengungen ein minimales Stück näher erfolgt, hätte das quasi den NATO-Bündnisfall zur Folge gehabt bzw. aufs Tableau gesetzt. Der Sachverhalt der gezielten Attacke bzw. des „vorsätzlichen Sabotageakts“ (Olaf Scholz) auf die gegen den Widerstand von vier US-Präsidenten durchgesetzte Ostseeinfrastruktur Deutschlands bleibt allerdings virulent.

Dass Moskau hinter dem Anschlag auf seine sowohl strategisch bedeutsame wie Milliarden teure Infrastruktur stecken könnte, war freilich von Anfang an völlig unlogisch. Der ehemalige deutsche Staatsminister im Bundeskanzleramt, Julian Nida-Rümelin, bezeichnete es denn auch schon im Dezember letzten Jahres als westlich-bellizistischen „Verschwörungsmythos, Russland habe seine eigenen Pipelines zerstört“ und nannte die gestrickten Narrative schlicht „absurd“. Nichts desto trotz schlachtete man dieses Narrativ nach Kräften aus. In der ersten Jahreshälfte 2023 kam dann jedoch zunächst durch die Recherchen von Seymour Hersh neuer Schwungin die Angelegenheit, während Deutschland, Dänemark und Schweden ihre Ermittlungsergebnisse als Staatsgeheimnisse bislang strikt unter Verschluss halten, was neuesten Berichten zufolge zudem nochmals ein ebenso bezeichnendes wie brisantes Licht auf das „regelbasierte“ Berlin wirft, da dieses von der CIA schon im Juni – also Monate zuvor – über ukrainische Anschlagspläne informiert wurde.

Zwar deutet heute alles auf einen Angriff „unter Freunden“ hin, wie Angela Merkel einst gesagt hätte, aber das im Zusammenhang der US-Abhöraffäre seinerzeit angeschlossene „geht gar nicht“ ist heute um der transatlantischen Geschlossenheit gegen Russland willen eingemottet. Denn, wie hat olivgrüne deutsche Außenministerin Annalena Baerbock im Jänner vor dem Europarat nochmals das im tobenden Ost-West-Stellvertreterkrieg in der Ukraine Allein- resp. Allesentscheidende mit Nachdruck eingehämmert: „Wir führen (kämpfen) einen Krieg gegen Russland (nicht gegeneinander).“

Dafür wurde vom neuen grünen Aushängeschild freilich auch, nachdem man sie einige Tage bildgewaltig taxfrei „dem Kreml“ ans Zeug flickte, die ökologische Katastrophe des durch den Sprengstoffanschlag verursachten gravierenden Methanaustritts in die Atmosphäre wieder in die Schublade verräumt. Ein besonderer Clou war zudem natürlich, das „Friendly Fire“ gleich auch noch zur Erweiterung des Auftrags der NATO heranzuziehen, die fortan auch mit dem Schutz EU-europäischen Infrastruktur wie Pipelines, Unterwasserkabelverbindungen etc. vor Angriffen betraut ist.  

Fein raus ist niemand

„Zur Erinnerung“, so nun allerdings zunächst mit Jörg Kronauer fortfahrend: „Im Februar hatte der prominente US-Journalist Seymour Hersh umfangreiche Recherchen präsentiert, in denen er zu dem Schluss kam, die Anschläge seien im Auftrag des Weißen Hauses verübt worden, und zwar von US-Spezialkräften mit Unterstützung der CIA und von Soldaten des norwegischen Militärs. Hershs Veröffentlichung war für Washington ein Desaster: Trifft ihr Inhalt zu, dann haben die USA, um eine erneute deutsch-russische Erdgaskooperation auf absehbare Zeit zu unterbinden, ihrem rivalisierenden Verbündeten Deutschland gerade mal so eine seiner wichtigsten Erdgas-Pipelines weggebombt. Klar, dass Washington alles dementierte und eine heftige Medienkampagne gegen Hersh lostrat, die auch in den deutschen Leitmedien ihren Widerhall fand.

Dort kam im März eine alternative Theorie auf, der auch der Generalbundesanwalt nachgeht. Demnach soll eine sechsköpfige Personengruppe eine Jacht mit dem Namen „Andromeda“ gemietet, den Sprengstoff in Rostock an Bord genommen und die Bomben dann an den Nord-Stream-Pipelines angebracht haben. Der politische Vorteil der Theorie: Die USA waren fein raus. Der gedankliche Nachteil: Die Täter waren zwar offensichtlich Vollprofis – Pipelines in 80 Meter Tiefe zu sprengen ist keine Kleinigkeit –, sollten aber reichlich Sprengstoff- und andere Spuren auf dem Schiff hinterlassen haben. Unklar blieb auch, wie sie 500 Kilogramm Sprengstoff mit einer einfachen Jacht transportiert und sie dann ohne technische Hilfsmittel zum Meeresgrund gebracht haben sollten. Anfang April publizierte die „Washington Post“ einen Beitrag, der die Schwächen der „Andromeda“-Theorie aufs Korn nahm und direkt fragte, ob sie nicht halt nur ein Ablenkungsmanöver sei.

Ende Mai entwickelten die „Süddeutsche“ und der „Spiegel“ die „Andromeda“-Theorie weiter. Diesmal ging es um Spuren, die zu einer ukrainisch geführten Briefkastenfirma in Warschau sowie zu mindestens einem ukrainischen Soldaten führten. Hatten ukrainische Spezialkräfte die Anschläge ausgeführt? Genau dies mutmaßte Anfang Juni nun doch auch die „Washington Post“. Sie berichtete über ein auf der Plattform Discord geleaktes angebliches Geheimpapier; ob es echt ist, muss dahingestellt bleiben. Es besagt jedenfalls, Washington sei bereits im Juni 2022 von einem europäischen Geheimdienst informiert worden, dass sechs ukrainische Elitesoldaten die Nord-Stream-Pipelines sprengen wollten. Die Gruppe sei Armeechef Waleri Saluschni direkt unterstellt gewesen; Wladimir Selenski habe man nicht über den Plan informiert, um ihn nicht zu kompromittieren – ein nicht unübliches Vorgehen. Die USA wiederum hätten nicht zuletzt Deutschland in Kenntnis gesetzt, aber nichts getan.

Sah es nun so aus, als ob ukrainische Elitesoldaten die Anschläge auf dem Kerbholz hatten, so brachte nur wenige Tage später das „Wall Street Journal“ einen nächsten Dreh. Jetzt hieß es, die deutschen Ermittler folgten aufgrund auffällig zahlreicher Bezüge zu Polen mittlerweile auch einer polnischen Spur. Und es gab eine technische Verbesserung: Der verwendete Sprengstoff HMX, heißt es inzwischen, sei so effizient, dass man von ihm keine halbe Tonne benötige, um Pipelines zu sprengen; es genüge viel weniger. Ob dies allerdings reicht, eine seismische Station in einiger Entfernung vom Tatort ein kleines Erdbeben registrieren zu lassen? Wer weiß.

Bei allen Widersprüchen: Was, wenn Hersh doch Unrecht hatte und die „Andromeda“-Theorie stimmt? Nun, nach aktuellem Stand wäre Washington nicht mehr fein raus. Denn von Plänen für einen Anschlag zu erfahren, ihn aber nicht zu verhindern, obwohl man nach Lage der Dinge dazu in der Lage wäre – das heißt doch nur, dass man andere die eigenen schmutzigen Wünsche verwirklichen lässt. Ein Desaster wäre es allerdings auch für die Bundesregierung, die dann tatenlos zugesehen hätte, wie Ukrainer Deutschlands kritische Infrastruktur in die Luft oder, genauer, ins Wasser jagen. Sprengt wer auch immer im eigenen Bündnis, dann kommt eben niemand ohne blaue Flecken davon.“ Soweit Jörg Kronauer.

Cui bono?

Was indessen freilich – neben den umfangreichen Recherchen sowie erforderlichen militärischen Fähigkeiten für eine solche Operation – nach wie vor dafür spricht, auch Hersh’s Theorie mitnichten schon abzuschreiben, ist die alte „Cui bono“-Frage: Wem nützt es? Schon vor knapp 6 Jahren (im August 2017) schrieb beispielsweise Sahra Wagenknecht zum immer rabiateren US-Kampf gegen das Nord-Stream-Projekt: „Die neuen Sanktionen der USA gegen Russland zielen vor allem auf europäische und deutsche Unternehmen. Gerade die Gaspipeline und die Leitung Nord Stream 2 will man damit treffen. Statt mit russischem Gas soll Europa künftig vorrangig mit teurem und dem ökologisch katastrophalen Fracking-Gas aus den USA versorgt werden. Die US-Sanktionen sind daher nichts weiter als die Anbahnung eines Riesengeschäfts für die US-Fracking-Konzerne.“ Und Washington macht mit dem PEES-Act 2019 sowie dem PEESCA Sanktionsgesetz 2021 und dem darauf aufruhenden Sanktionskampf gegen am Fertigbau der Pipeline beteiligten Firmen und Personen auch ernst. US-Senator Ted Cruz versandte parallel Drohschreiben. Deutschlands damaliger Außenminister Heiko Maas beschwerte sich seinerzeit im Namen Berlins noch an die US-Adresse gerichtet: „Kein Staat hat das Recht, Europas Energiepolitik mit Drohungen zu diktieren.“ 24 der 27 EU-Staaten legten 2020 sogar noch förmlich Protest gegen die „wirtschaftliche Kriegserklärung“, wie sich das außenpolitische grüne Urgestein Jürgen Trittin äußerte, ein. Maas‘ Nachfolgerin Annalena Baerbock hingegen erstattete bereits im Zuge der Sanktionspakete mit Abnicken durch Olaf Scholz erfreut Vollzugsmeldung. ‚Europäische Energiesicherheit gekappt! Transatlantischer Vasallen-Stoßtrupp meldet gehorsamst Vollzug!‘

Aber politische Entschlüsse weisen vielfach auch ihre eigene Halbwertszeit auf. Entsprechend unmissverständlich und mit unverblümter Drohung äußerte sich US-Präsident Joe Biden denn auch schon im Vorfeld des 24.2.: „Wenn Russland einmarschiert, d.h. Panzer und Truppen die ukrainische Grenze passieren, dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden es zu einem Ende bringen.“ Und nur wenige Tage nach deren Sprengung plauderte US-Außenminister Anthony Blinken freimütig, ja fast schon euphorisch aus: „Wir sind jetzt der führende Lieferant von Flüssigerdgas für Europa (…) Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beseitigen (…) Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance [für die USA, Anm.] für die kommenden Jahre.“ Entsprechend nüchtern fällt auch das Resümee des renommierten US-Ökonomen Thomas Palley – ehemaliger Chefökonom der United States China Economic and Security Review Commission –, für den die USA die „geopolitischen Nutznießer“ des Ukraine-Kriegs sind, dazu aus: „Europa hat enorme wirtschaftliche Kosten in Form von Störungen und Unterbrechungen der Energieversorgung, Inflation und Verlust des riesigen russischen Exportmarktes für Luxus- und Investitionsgüter. Im Gegensatz dazu haben die USA neue Energiemärkte in Europa erschlossen, Europa in eine noch stärkere Unterwerfung unter das US-Militär verwickelt und permanent verschärfte Spannungen mit Russland geschaffen, die den USA geopolitisch zugutekommen.“ Wie beinahe schon gewohnt, sehen die Spitzen-Ökonomen des US- Establishments die Dinge viel klarer (und auch mit unvergleichlich kritischerem Kopf) als die maßgeblichen politischen Führungsfiguren EU-Europas, medialen KriegstrommlerInnen und transatlantischen VasallInnen.

Und jetzt?

Wie dem auch immer. Was Jörg Kronauer zur Zeit der Abfassung seiner Kolumne zur militärischen Operation gegen Europas Infrastruktur aus den sich aktuell bisweilen im Tagestakt ändernden Details noch nicht wissen konnte, haben US-Geheimdienste neuesten Berichten zufolge jedenfalls die Ukraine davor „gewarnt“ – eigentlich jedoch bloß eine ebenso verhaltene wie folgenlose Missbilligung des Sprengstoffanschlags wissen lassen – (eigenmächtig?) Anschläge auf die Nord-Stream-Pipeline zu verüben. Immerhin: Schwedens Chef-Ermittler hat zwischenzeitlich angekündigt im Herbst einen Ermittlungsabschlussbericht vorzulegen. Man darf gespannt sein. Zum einen – neben den Ermittlungsergebnissen –, wie der „vorsätzliche Angriff auf die kritische Infrastruktur“ und die angekündigte“ härtest mögliche Antwort“ gegen den Angreifer (ob nun dieser oder jener „Freund“) dann zum Kavaliersdelikt weichgezeichnet und ad acta gelegt werden. Zum anderen zur Frage: Wer jetzt eigentlich für die Entschädigung der zusammen mit dem Anschlag versenkten 729 Millionen Euro der sich zudem zu 31,5% im Besitz der Republik befindlichen OMV, die diese in das Bauprojekt gesteckt hat, herhält? Oder genießen Washington, Kiew, ggf. Warschau und Konsorten auch seitens Österreich bereits in jeder Hinsicht staatsoffizielle Narrenfreiheit – samt politischer Folgenlosigkeit?

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