Vor nicht langem faselten die westlichen Medien landauf landab, Xi Jinping werde pünktlich zum 20. Parteitag der KPCh im Oktober 2022 militärisch die Wiedervereinigung Chinas mit Taiwan in Angriff nehmen – womit der „Neue Kalte Krieg“ der USA gegen China in einen neuen, großen heißen Krieg ausarten werde, in dem sich die Großmächte als Kriegsparteien gegenüberstünden. Das Publikum sollte sich schon einmal nonchalant auf den bevorstehenden Dritten Weltkrieg einstellen. Die USA, fest entschlossen Chinas wirtschaftlichen und globalen (Wieder-)Aufstieg mit allen Mitteln und aller Macht stoppen zu wollen, zündelte denn auch nach Kräften immer konfrontativer gegen den „systemischen Rivalen“ – wie die Volksrepublik seit dem vorjährigen NATO-Gipfel in Madrid charakterisiert wird. Nachdem sich der herbeischwadronierte Anlassfall für den westlichen Marschbefehl in Schall und Rauch aufgelöst hat, lassen hochrangige US-Generäle wie Michael Minihan nunmehr vernehmen, dass sie 2025 (nach den taiwanesischen und den US-Präsidentschaftswahlen 2024) mit dem großen Knall rechnen. Oder – so Ministeriumspapiere Deutschlands – 2027, zum 100. Gründungsjahr der Volksbefreiungsarmee. Spätestens aber 2034/35, wenn Chinas Modernisierungsplan in ein voll entwickeltes und wohlhabendes Land abgeschlossen sein soll. Jedenfalls noch in dieser Dekade.
Ultimative Feinderklärung
Sevim Dagdelen hat recht, wenn sie in ihrem aktuellen Gastbeitrag in der jungeWelt unter dem Titel „Ultimative Feinderklärung“ schreibt: „Weder das Bekenntnis zur Intensivierung des Stellvertreterkrieges der NATO gegen Russland, noch die Blockade diplomatischer Initiativen der Ukraine und das überbordende Hofieren des türkischen Staatspräsidenten waren das Bemerkenswerteste des Gipfels in Litauen, sondern die Kampfansage der Militärallianz an China. Was mit dem NATO-Gipfel im vergangenen Jahr durch die Markierung Chinas als »systemischer Rivale« begonnen hatte, wurde in Vilnius drastisch zugespitzt, ganz als wäre ein kommender Krieg gegen Beijing die neue Agenda.“ Und zumindest US-Militärs machen auch gar keinen Hehl daraus, dass sie sich längst aktiv auf einen Krieg gegen die Volksrepublik vorbereiten, sondern geben darüber bemerkenswert freimütig regelmäßig Auskunft.
US-Globalstrategie und die Taiwan-Frage
Die USA zeigen sich dabei fest entschlossen, den Konflikt vor allem über den Hebel Taiwan mit immer neuen Provokationen zu schüren, systematisch und gezielt die „Roten Linien“ Pekings auszutesten und die Volksrepublik in eine militärische Konfrontation zu verwickeln. Entsprechend wird in den geopolitischen Think-Tanks der USA die Taiwan-Frage denn auch bereits des längerem als der große Hebel gegen China diskutiert. Graham Allison, Politologe an der Harvard-Universität, hat Washington in seinem auch international vieldiskutierten Buch „Zum Krieg bestimmt“ („Destined for War“), unter anderem empfohlen, sich bis hin zu geheimen Militärkommandos an die Seite der (minoritären) Abspaltungskräfte in Taiwan zu stellen, den Konflikt zu eskalieren und Pekings politische Macht bzw. politischen Einfluss langfristig zu „unterminieren“. Bei einem Eingreifen Pekings gegen die US-Globalstrategie, hätte Washington wiederum die moralische Betroffenheit gegen die immer stärker an die Wand gemalte „gelbe Gefahr“ und eine neue Welle der Kritik an Peking auf seiner Seite. Und Allison ist noch nicht einmal ein „Falke“ unter den Politologen des US-Establishments, vielmehr noch jemand dem vor der Gefahr eines neuen großen heißen Krieges schaudert. Zumal im Wissen, dass eine Eskalation des Konflikts zwischen Peking und Taipeh in Wirklichkeit zudem alles andere als unvermeidlich ist.
Die „Lügenallianz“ und ihre Kritiker
Belanglos für die Globalstrategie der Führungsmacht des „Wertewestens“ und der „regelbasierten Weltordnung“ ist dabei, dass Taiwan völkerrechtlich zur Volksrepublik gehört, Peking daher nach UN-Resolution 2758 auch etwa in der UNO den Alleinvertretungsanspruch innehat und übrigens auch die Guomindang (wenngleich unter spiegelverkehrten Vorzeichen) an einem einheitlichen Bestand Chinas festhält. Erst vor diesem Hintergrund werden aber die warnenden und kritischen Stimmen aus dem Washingtoner Establishment am US-amerikanischen Konfrontationskurs, wie jene des US-Diplomaten Chas Freeman (1972 Übersetzer in den ersten offiziellen US-chinesischen Verhandlungen zwischen US-Präsident Nixon und Chinas Premier Zhou Enlai) verständlich, wenn dieser sichtlich verärgert schreibt: „Wir haben einen Handelskrieg gestartet, der sehr schnell auf alle anderen Beziehungen mit China metastasiert ist. Und jetzt stehen wir vor einem Krieg um Taiwan. Bislang haben wir noch niemals einen Krieg gegen eine Nuklearmacht um ihre [!] territoriale Integrität und Souveränität geführt.“
Und er resümiert die Entwicklung bis zum dann stetigen Hinaufdrehens der Eskalationsschraube seit Obamas „Pivot to Asia“ und Trumps, von Biden nochmals drastisch verschärfter, Konfrontationspolitik: „Wir haben einige gemeinsame Vereinbarungen mit den Chinesen, die wir beim Nixon-Tripp 1972 und danach mit der Normalisierung der Beziehungen unter Jimmy Carter und dem früheren Vizepremier Deng Xiaoping getroffen haben. Aber die USA haben diese gemeinsamen Verabredungen Schritt um Schritt verletzt. Wir hatten vereinbart, die Menge und die Qualität der Waffenlieferungen an Taiwan zu deckeln und schrittweise zu reduzieren; wir haben die Restriktion komplett ignoriert. … Wir hatten vereinbar, dass es keine offiziellen Beziehungen gibt; aber wir haben gerade Staatssekretäre nach Taipeh geschickt. Wir haben vereinbart, alle militärischen Einrichtungen zu schließen und alle Soldaten abzuziehen; aber insgeheim verstärken wir unsere Truppen in Taiwan. Als Antwort [!] haben die Chinesen formidable Kapazitäten aufgebaut …“
Aufmarsch gegen China – selbst bis alles in Trümmern liegt
Eine Gesamtausleuchtung des „Aufmarsches gegen China“ (Jörg Kronauer), samt forcierter Aufrüstung der Asien-Pazifik-Region gegen Peking und militärischen Einkreisung der Volksrepublik, neuer Allianzen und Militärpakte wie AUKUS und QUAD (als Pendant der NATO-Osterweiterung in Europa), zusätzlicher Militärstützpunkte (etwa auf den Philippinen oder auch auf Guam), der noch stärkeren aggressiv globalstrategischen Einbeziehung Australiens und pazifischer Inseln (wie Palau als wichtigen „Trittsteinen“ über die Weiten des Ozans), bis hin zu seit dem Zweiten Weltkrieg erstmals integrierten Kampfverbänden mit einheitlichen Kommandostrukturen wie insbesondere mit Japan u.v.m., muss hier zurückgestellt bleiben. Sevim Dagdelen hat es auch dahingehend anschaulich auf den Punkt gebracht: „Japans Premierminister Fumio Kishida durfte stolz auf dem Gipfel verkünden, dass sein Land und die NATO ein Abkommen für ein neues Partnerschaftsprogramm unterzeichnet haben. Das Expansionskonzept der US-geführten NATO in Richtung Asien und Indopazifik zur Herausforderung Chinas wurde durch die Einladung Japans, Südkoreas, Australiens und Neuseelands zum Gipfel unterstrichen.“ Das schonungslose Resümee und die warnende Position Chase Freemans, vermag allerdings einen in die ehemalige Architektonik involvierter Spitzendiplomaten zu Wort kommen zu lassen. Man hätte an seiner statt natürlich auch den damaligen Außenminister und Doyen der neuen China-Politik Henry Kissinger mit seiner nachdrücklichen Warnung an die sinophoben Kriegs-Falken heranziehen können.
Denn, dass die USA ziemlich allen Pentagon-internen War Games-Simulationen zufolge diesen Krieg verlieren würden und im Fall der Fälle einer atomaren Eskalation von Taiwan gegebenenfalls nur ein Trümmerhaufen oder eine rauchende Ruine übrigbliebe, ist für Washington insofern zweitrangig, als es für „God’s Own Country“, koste es was es wolle, einzig darum geht Chinas wirtschaftlichen, technologischen und politischen Aufstieg mit aller Macht zu stoppen, zumindest zu bremsen.
Daher prallt auch Kissingers Warnung an die herrschenden US-Kreise an diesen so souverän ab: „Amerika ist im Pazifik heute der Volksrepublik China unterlegen. Die schwimmende Flugzeugträger-Macht wäre in einem Konflikt in wenigen Stunden durch moderne, … chinesische [Hyperschall-]Waffen ausgeschaltet.“ Na und? Der wirtschaftliche, gesellschaftliche und globale Preis einer militärisch aufgezwungenen Auseinandersetzung um Taiwan wäre für die Volksrepublik verheerend. Ihr bislang ohne „einen Schießkrieg“ (wie der prominente Politologe aus dem US-Establishment, John Mearsheimer, befürchtet) nicht eindämmbarer (Wieder-)Aufstieg, um Generationen zurückgeworfen, vielleicht gestoppt.
Als Unbekannte bleibt freilich, in welch einem Szenario ein solcher Krieg zwischen den beiden Nuklearmächten um die „territoriale Integrität und Souveränität“ einer Seite (nämlich der Chinas; Chas Freeman) letztlich kulminiert. Im Gegensatz zu den heutigen Schreibtisch-Feldwebelinnen fast aller Couleurs verschlägt es denn auch etwa Helmut W. Ganser – ehemaliger Brigadegeneral der Bundeswehr und stellvertretender Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium sowie militärpolitischer Berater des deutschen Ständigen Vertreters bei der Nato in Brüssel – (neben vielen Ex-Militärs sowie Think-Tanks) über die „unfassbare Nonchalance“ mit der heute im „Wertewesten“ allenthalben über Konflikte zwischen Atommächten, gar einem Dritten Weltkrieg, am Reißbrett und in aktiver Vorbereitung, gehandelt wird, vielfach schlicht nur mehr den Atem.
Zumindest zur Abrundung des prospektiven US- und nunmehr auch quasi offiziellen NATO-Infernos vermerkt sei noch: Aber auch die Mehrheitsmeinung und allgemeine Stimmung der Taiwanes:innen, die, trotz DPP (Demokratische Fortschrittspartei) und den chinesischen Militärmanövern als Antwort auf zunehmende Provokationen des Westens, eindeutig dem Status Quo der völkerrechtlichen Stellung gegenüber einem Abspaltungs-Projekt den Vorzug geben, interessiert in Washington und seine Vasallen nicht.
China – aggressive Supermacht?
Was nun, und damit soll es hier auch schon fast sein bewenden haben, die angebliche zunehmende Aggressivität Chinas betrifft, sei zunächst der renommierte US-Ökonom Jeffery Sachs herangezogen, der nicht nur über die mannigfachen faktenbefreiten Behauptungen über Chinas angeblich aggressives Auftreten, sondern zudem die Leerstelle in der Financial Times monierte, dies „ohne die leisesten Hinweise auf die aggressiven und expliziten Versuche der USA, China nach dem alten Lehrbuch der US-Außenpolitik einzudämmen. Die USA haben … hunderte Militärbasen im Ausland, brechen einen internationalen Vertrag nach dem anderen, starten zunehmend schrille, einseitige Handels- und Technologiekriege gegen China, machen äußerst umstrittene Vorwürfe gegen China wegen der Covid-19-Pandemie ohne die behaupteten enormen Beweise. Sie fordern ihre Bündnispartner explizit auf, sich gegen China zu verbünden. Das gegenwärtige Drehbuch der US-Außenpolitik ist geprägt von dem Interesse der USA, ihre Vorherrschaft überall aufrechtzuerhalten.“ Mit Wolfgang Müller, intimer Kenner Chinas und ehemaligem IG-Metall Funktionär, lässt sich darüber hinaus zudem in grundsätzlicher Absicht festhalten: „China will sein System nicht exportieren [wie vielfach unterstellt, Anm.], sondern Geschäfte machen. Die Außenpolitik basiert auf der konsequenten Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Gelegentlicher Revolutionsexport wie zu Maos Zeiten ist längst passé. Militärische Interventionen und ‚Regime Change‘ nach dem Muster der US-Außenpolitik gehören nicht zum Werkzeugkasten der von der Regierung verfolgten internationalen Politik.“ Dem gilt es aus unverstelltem Blick in der Substanz nichts hinzuzufügen.
Die Auseinandersetzung mit China ist nicht nur in einem erstaunlichen Maß faktenarm, auf einem beschämend niedrigen Niveau, sondern bis in die westlichen Machtzentren hinein auch offen rassistisch
Beat Schneider, Schweizer Kulturwissenschaftler, hebt – und damit abschließend – seinerseits wiederum grundsätzlicher Art zu Recht heraus: „Das westliche Wissen über China hat einen beschämend niedrigen Stand, selbst an elementarsten Kenntnissen. Das trifft auch auf die Intelligenz … zu. Die Auseinandersetzung mit China ist in einem erstaunlichen Maß faktenarm und äußerst selektiv.“ Erst vor diesem Hintergrund, der klischeebehafteten Stereotype und der unerträglich eurozentristisch und selbstgerechten Denkeinstellung im Westen wird überhaupt erklärlich, warum selbst der offenste Rassismus und abendländische Kulturkampf Washingtons und in ihrem Schlepptau der NATO gegen China, keine schreiende Empörung hervorruft, etwa wenn die vormalige Planungsdirektorin im US-Außenministerium, Kiron Skinner, den Kampf gegen Peking als eine antagonistische Auseinandersetzung „mit einer ganz anderen Zivilisation und einer ganz anderen Ideologie“ beschreibt, denn „das hat die USA bislang nicht erlebt … [es ist] das erste Mal, dass wir eine konkurrierende Großmacht haben, die nicht kaukasisch ist.“ Natürlich, in einem vom „Wertewesten“ derart begriffenen Zivilisations- und Rassenkrieg kann es nur Sieg oder Niederlage gegen den „antagonistischen Rivalen“ geben.