Kein Zurück zur neoliberalen Spar- und Austeritätspolitik des „EU-Stabilitätspakts“

Die schuldenfinanzierten Hilfs- und Rettungspakete, die Österreich durch die Krise getragen haben, werfen immer mehr die Frage auf: Wer soll das bezahlen? Denn so prinzipiell richtig es war, angesichts der tiefsten kapitalistischen Krise seit 1929ff zu klotzen und nicht zu kleckern, wirft die Geldschwemme, mit der die Corona- und Wirtschafts-Krise zugeworfen wurde, in ihrem Gefolge natürlich auch diese Fragestellung in aller Brisanz mit auf.

Galt vor dem Ausbruch der Krise noch die viel strapazierte Sparsamkeit des hochgehaltenen „Hausverstands“ bzw. in der deutschsprachigen Diskussion auch der „Schwäbischen Hausfrau“ als finanzpolitisches Credo und wirtschaftspolitisches Staatsgrundgesetz, galt mit deren Anbruch das genaue Gegenteil. In Anlehnung an das Motto des EZB-Chefs Mario Draghi „Whatever it takes“ zur Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff, protzte die Regierung bereits im Frühjahr des letzten Jahres damit, der Krise unter Einsatz aller Ressourcen zu begegnen: „Koste es, was es wolle“. Und in der Tat übertrifft die Dimensionen der Hilfs- und Rettungspakete die Größenordnungen der zurückliegenden Finanzkrise – als der Casino-Kapitalismus kurz vor der Kernschmelze stand – bei weitem. Nicht zuletzt auch in Österreich.

Ja, mit Corona-Unternehmenssubventionen von fast 5% des BIP steht Österreich sogar an der Spitze der EU, was die staatlichen Hilfsgelder an das Kapital und die Stützung des Wirtschaftsprozesses betrifft. Im relativen Vergleich mit Deutschland beliefen sich diese Subventionen sogar auf das sage und schreibe dreifache.

Die Aussetzung des EU-Fiskalpakts 2020

Die Potenz auf den Finanzmärkten und Größe der Rettungsmaßnahmen ist in der Krise geradezu zu einer nationalen bzw. ebenso regional-kontinentalen Prestigeangelegenheit geworden. Dass dahinter, neben der Unumgänglichkeit entschiedener Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, überwiegend handfeste Wirtschafts- und nationale wie globale Konkurrenzinteressen steckten, dürfte für GewerkschafterInnen keine allzu große Überraschung bergen.

Entsprechend wurden denn auch im März 2020 ohne viel Federlesen europaweit die unsinnigen „Maastricht-Kriterien“ sowie zudem das im Land vormals in die Verfassung geschraubte neoliberale Zwangskorsett der „Schuldenbremse“ kurzerhand außer Kraft gesetzt. Zu Recht – zumal die derzeitigen Niedrig- und Negativzinsen für Österreich praktisch eine Verschuldung zum Nulltarif erlauben. Stärker noch, wie Vizekanzler Werner Kogler vor Monaten mit brustgeschwelltem Ton die Bonität Österreichs hervorstrich: „Wir nehmen das Geld zu Konditionen auf, bei denen wir aufgrund des realen Zinssatzes de facto Geld dafür bekommen, das wir investieren können.“

Der Kapitalismus kennt viele Varianten – zur Relativität der Staatsschuldenquote

Gleichzeitig häuft sich mit dem weiteren Auftürmen der Staatsschulden jedoch die Brisanz, wer diese am Ende zu berappen haben wird oder wie mit diesen verfahren wird. Denn die Expansion der Verschuldung entschärft gleichsam unmittelbar zwar den damit im Raum stehenden Verteilungskonflikt, aber lediglich, um diesen dann in den auf die Pandemie und Krise folgenden Jahren à la longue umso schärfer zu stellen. Und diese Abtragung der Staatsverschuldung wird nach Weltbank-Chefökonomin Carmen Reinhart ‚schmerzhaft‘.

Dabei zeigen Staaten wie etwa Japan (um von der Sonderstellung der ebenfalls rekordverschuldeten USA im globalen Finanzsystem abzusehen) mit einer Staatsverschuldung von über 230% die Relativität der EU-Stabilitätskriterien. Der Verweis auf den Schuldenberg Japans ist natürlich kein durchschlagendes Argument, aber der Blick über die Maastricht-Kriterien der Euro-Zone hinaus zeigt zumindest: die Weltwirtschaft kennt viele Varianten.

Zumal es für die Maastricht-Kriterien (Staatsschulden von höchstens 60% und eine Neuverschuldung von höchsten 3%) bekanntlich nach ziemlich allgemeiner Auffassung auch keine tragfähige ökonomische Begründung gibt. Die Festlegungen Anfang der 1990er Jahre entsprachen vielmehr schlicht dem damaligen Schuldenstand Deutschlands und Frankreichs, der beiden bedeutendsten Hauptmächte der EU (wobei Frankreich aufgrund der immer stärkeren wirtschaftlichen Ungleichgewichte seit Längerem eine regelrechte De-Industrialisierung durchmacht), die dann Anfang der 2000er Jahre auch als erste öffentlich gegen sie verstießen. Dass die bisher mit dem Odem eines unumstößlichen Dogmas versehene höchst zulässige Staatsverschuldung von 60% auf keiner tieferen Begründung fußt, zeigt selbst die Initiative maßgeblicher ÖkonomInnen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) selbst auf, die vorschlagen, die Schuldengrenze auf 100% des BIP anzuheben.

Vor diesem Hintergrund relativieren sich freilich auch die österreichische Staatsverschuldung von 86,2% des BIP, zumal diese aufgrund des erwarteten Wirtschaftswachstums, damit einhergehender steigender Steuereinnahmen, sowie der niedrigen, vielfach sogar negativen Zinsen auf heimische Staatsanleihen nach WIFO-Prognosen bis Mitte der 2020er Jahre wieder auf etwa 75% sinken wird. Sonach gibt es auch keinen drängenden Handlungsbedarf.

Die EZB könnte die Staatschulden einfach einmotten

Das Einfachste in diesem Zusammenhang wäre ohnehin, die Europäische Zentralbank (EZB) würde die staatlichen Schuldscheine und Anleihen, wie von einigen ÖkonomInnen vorgeschlagen, einfach europaweit im erforderlichen Ausmaß aufkaufen und stilllegen. Sprich: nach Erwerb in 100-, 200- oder 500-jährige Anleihen umwandeln und damit de facto zum Verschwinden bringen. (Und dies nach den jeweils staatlichen Erfordernissen, nicht nach Euro-Kern- und Gewinnerländer privilegierend-nationalistischer Maßgabe der Kapitalanteile der nationalen Zentral- bzw. Notenbanken an der EZB.) Eine derartige Maßnahme wäre auch gar nicht so neu, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Ähnlich agierte vor Dekaden bereits Großbritannien bezüglich seiner Kriegsanleihen, ohne dass heute noch ein Hahn danach kräht. Allerdings ist ein solcher Pfad der EZB selbst unter breiterer Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse kaum in Aussicht.

Der EU-Pakt und der soziale Verteilungskonflikt

Solange der wirtschafts- und finanzpolitische Maastricht- und Fiskalpakt-Knebel krisenbedingt suspendiert bleibt, ist der eingeschriebene Verteilungskonflikt hinsichtlich der Rettungspakete allerdings noch nicht (zumindest nicht in seiner ganzen Brisanz und Tragweite) schlagend und lässt sich sozusagen vorläufig (noch) überbrücken. Aber eben nur vorübergehend. Und gegenwärtig ist der EU-Stabilitätspakt auch nur bis Ende 2022 ausgesetzt. Wenn also Vizekanzler Werner Kogler vollmundig posaunte: „Es gibt auf Regierungsebene keine Diskussion über ein Sparpaket – und wir werden das auch unterbinden“, so hat dies ungefähr denselben Wert wie sein Sager: „Die Neoliberalen haben jetzt Sendepause“. Denn freilich, solange die Geldschleusen für die Krisenbekämpfung noch offen gehalten bleiben und oben angezogene Faktoren wirken, kann die Regierung das Ganze noch hintanhalten. Aber sobald die pandemische und wirtschaftliche Talsohle durchschritten ist, werden auch „Maastricht“ und der „Fiskalpakt“ wieder in Kraft gesetzt werden. Dann ist aber nicht nur Ende mit bisherigem Deficit Spending, sondern gelten auch wieder die EU-Fiskalregeln. Diese bestimmen allerdings, dass bei einer Verschuldung von mehr als 60% (Maastricht-Regeln) eine „Schuldenbremse“ zu greifen beginnt, die regelt, dass pro Jahr mindestens ein Zwanzigstel des Werts über 60% abgebaut werden muss (sowie dessen sogenannte „Two-Pack“-Überwachung durch die EU). Daran vermögen im EU-Kontext noch nicht einmal deren „Notfallsklauseln“ weiterzuhelfen. Und die österreichische, Ende 2011 vom Nationalrat in breiter Eintracht bereits im Vorfeld zusätzlich beschlossene nationale „Schuldenbremse“ für die Republik, Bundesländer und Gemeinden, ist – nebenher bemerkt – in bestimmten Hinsichten ohnedies sogar noch rigider verfasst, als der kurz darauf im Frühjahr 2012 auf den Weg gebrachte „europäische Fiskalpakt“.

Spätestens mit dem Wieder-in-Geltung-Treten des „Fiskalpakts“ stehen wir somit vor einem brachialeren offenen Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit. Ob in aller Schärfe bereits in absehbarer Zeit oder nach zwei, drei weiteren „Gnadenjahren“: dann geht es um’s Eingemachte. Zumal Finanzminister Blümel gerade angekündigt hat, nach wieder angesprungener Konjunktur wieder einen Kurs Richtung Nulldefizit einzuschlagen und sich die Regierung in ihrem Koalitionsabkommen einem weiteren Lieblingsprojekt des Neoliberalismus und der Begüterten verpflichtet hat: einer milliardenschweren Senkung der Abgabenquote in wortidenter Kopie aus dem türkis-blauen Regierungsvorhaben „in Richtung 40%“.

Für eine Aufhebung der Maastricht-Kriterien und in die Verfassung geschraubte Schuldenbremse

Vor diesem Hintergrund wäre es allerhöchste Zeit, die Aussetzung der Maastricht-Kriterien und der in die heimische Verfassung geschraubte Schuldenbremse zu nutzen, beide überhaupt aufzuheben. Denn weder stehen die vom „EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt“ ausgehenden strukturellen Zwänge für Stabilität, noch gar für Wachstum und führen Europa darüber hinaus immer weiter in die Zerreißprobe – wovor namhafte kritische und linke Ökonomen 1992 in einer öffentlichen Erklärung auch bereits gewarnt haben. Weiters kommt hinzu, dass sich die österreichische Regierung nicht nur mit aller Kraft dagegen stemmt, die Profite zur Krisenfinanzierung (mit) heranzuziehen. Im Gegenteil, mit der KöSt-Senkung für Kapitalgesellschaften und große GmbHs wurde den Industriekonzernen, großen Handelsbetrieben sowie Banken und Versicherungen demgegenüber gerade erst ein neues Steuerzuckerl in den Rachen geschoben.

Für eine tiefgreifende soziale, ökonomische, ökologische und demokratische Wende

Auch der angesichts der Klimakrise unumgängliche tiefgreifende sozial-ökologische Umbau unserer gesamten Wirtschaftsweise, einschließlich der fundamentalen Umstellung der energetischen Grundlagen, einer grundlegenden Mobilitätswende und einer öko-sozialen Neugestaltung der gesamten gesellschaftlichen Infra- bis Wohnstruktur, wird Mittel in ganz neuer Größenordnung verlangen und setzt die dringende Überwindung der quasi in Verfassungsrang gehobenen neoliberalen Verhältnissen auf die Tagesordnung. Die bisherigen Klimaschutz-Zusagen belaufen sich auf ein jährliches (!) Investitionsvolumen von mehr als 1.000 Milliarden Euro. Das wird mit einer Rückkehr zu einer Austeritätspolitik á la bisherigem „EU-Stabilitätspakt“ (einmal abgesehen von den sozialen Verwerfungen einer solchen Kürzungspolitik und dem Tabula rasa in den Süd- und Ostländern der EU) aber schlicht nicht zu heben sein.

Entsprechend glauben auch immer weniger ÖkonomInnen, dass die EU diesen klimagerechten Umbau finanziell stemmen und zugleich Schulden abbauen kann, wie gerade auch in Medien breiter berichtet. „Die Forderung nach laxeren Schuldenregeln wird lauter“, titelte denn auch etwa der „Standard“ jüngst. Die Haushaltskriterien zu erfüllen, würde Jahrzehnte der Sparpolitik bedeuten. „Verlorene Jahrzehnte“, wie Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), im „Standard“ weiter betont. Schon im Sommer meldeten sich mehr als 100 WirtschaftswissenschafterInnen dazu in einem offenen Brief an die „Financal Times“ zu Wort. Es brauche „einen neuen Ansatz in der Finanzpolitik, beginnend mit der Erkenntnis, dass zu geringe Staatsausgaben irreversible soziale, wirtschaftliche und ökologische Schäden verursachen können“. Das Mantra der Fiskaldisziplin, so die ÖkonomInnen, müsse anderen Prioritäten weichen, etwa „der Schaffung gut bezahlter ›grüner‹ Jobs, der Befreiung von Millionen Menschen aus der Armut und der Umsetzung ›grüner‹ Infrastrukturprojekte“.

Auch die EU-Kommission ist in eine Reformdebatte eingestiegen. Immer mehr EU-Institutionen und -Länder sehen die bisherigen Haushaltsregeln als realitätsfern. Während sich Tendenzen, die Knebelbestimmungen des „EU-Pakts“ in der einen oder anderen Form aufzuweichen, ja, aufzuheben und in ihrer bisherigen Gestalt der Haushaltsregeln zu entsorgen, auch unter politischen Eliten EU-Europas zunehmend Bahn bricht, mimt Österreich im Orchester der EU-Länder stramm den neoliberalen Musterschüler.

Ursprungsbild: Nicolas Raymond / (CC BY 2.0) / Bearbeitung: KOMintern

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