Generalplan: „Endlösung der Judenfrage“

Die Wannsee-Konferenz am 20. Jänner 1942

Heute vor 80 Jahren fand die Wannseekonferenz des deutschen Nazi-Faschismus zur „Endlösung der Judenfrage“ statt. An vorderster Front der Aufarbeitung stand unter den marxistischen Geschichtswissenschaftlern und Faschismusforschern Zeit seines Lebens insbesondere der bekannte, vor sechs Jahren verstorbene, Historiker Kurt Pätzold, der sich 1973 auch mit einer Arbeit zu „Antisemitismus und Judenverfolgung“ habilitierte und später unter anderem zusammen mit Erika Schwarz 1992 das Buch „Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der ‚Endlösung‘“ vorlegte. Nachstehend anlässlich des 80. Jahrestags der Koordinierung sowie des Generalplans zur „Ausmordung und Vernichtung der europäischen Juden“ und deren noch „schnellere“ und „effektivere“ Umsetzung und in Angriff genommene Vollendung (mit einigen zusätzlich erläuternden Anmerkungen versehene) Auszüge aus Pätzolds Buch „Wahn und Kalkül. Der Antisemitismus mit dem Hakenkreuz“ (2012) zur Wannseekonferenz, zu der er bis an sein Lebensende publizierte:

Am 20. Januar 1942 fand am Rande Berlins, in der Straße Am großen Wannsee, eine Beratung von hochgestellten SS-Führern und Staatssekretären mehrerer Ministerien der Naziregierung statt [Anm.: einberufen von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts – RSHA].

Dass wir von dieser Veranstaltung überhaupt etwas wissen, verdanken wir einem Zufall. Keiner der den Krieg überlebenden Teilnehmer, es waren von 15 immerhin 11 oder 12 [Anm.: der Verbleib von Heinrich Müller, „Gestapo-Müller“, einem der Stellvertreter Heydrichs blieb unaufgeklärt, er gilt als verschollen], hat das Bedürfnis verspürt, sich über das Treffen zu äußern, solange ihnen nicht das Dokument mit dem Beweis ihrer Anwesenheit vorgelegt werden konnte. [Anm.: Dass es eine solche Konferenz gegeben hatte, war bereits zur Zeit des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg (1945/46) bekannt. Doch erst allmählich ergab sich durch Untersuchungen, die Sichtung von Dokumenten und eingehende Beschäftigung mit den papiernen Hinterlassenschaften des Naziregimes ein Detailbild und glückte in Akten des Außenministeriums der Fund des Schlüsseldokuments der Wannseekonferenz, dessen Niederschrift den Teilnehmern als verbindliche Information zugestellt wurde.].

Das war verständlich, denn an diesem Tag hatte die Vernichtung der europäischen Juden den Gegenstand der Beratung gebildet, wobei von einer angenommenen Zahl von 11 Millionen Menschen – die Juden in den noch nicht eroberten Gebieten, in Feind- und in den neutralen Staaten des Kontinents eingeschlossen – ausgegangen wurde.

Wenn der Begriff der Einzigartigkeit auf ein Ereignis aus den Jahren der Nazidiktatur uneingeschränkt zutrifft, dann eben auf dieses. Das drückte sich später darin aus, dass es kaum mit irgendeinem anderen verglichen wurde. Dabei fehlte es für die Kriegsjahre nicht an dokumentierten Äußerungen, in denen von ungeheuren Verbrechen die Rede war, denkt man allein an die Erklärung Hermann Görings, es würde im eroberten Gebiet der UdSSR „zig“ Millionen Menschen Hungers sterben, weil ihnen die Nahrungsmittel entzogen werden würden, um die Deutschen, Soldaten wie Zivilisten, zu verpflegen und damit die Arbeitssklaven bei Kräften bleiben und ausgebeutet werden können.

Die Konferenz am Wannsee beriet, dass und wie eine ganze Menschengruppe vom Greis bis zum eben geborenen Kind ausgerottet werden sollte, die einen mit der Methode „Vernichtung durch Arbeit“, die anderen, indem man sie kurzerhand umbrachte.

Dieses Verbrechen war schon in Gang gesetzt, als sich die NS-Funktionäre trafen. Es hatte auf dem Territorium der Sowjetunion im Sommer 1941 begonnen und wurde seit dem 9. Dezember des gleichen Jahres in einer Vernichtungsstätte nahe dem polnischen Chelmno verübt, einem Dorf, das die Deutschen Kulmhof nannten und ihrem Reichsgebiet, dem so genannten Warthegau, zugeschlagen hatten. [Anm.: Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion, so Kurz Pätzold in einem anderen Beitrag zur Geschichte des Holocaust durch die „Rassisten-Antisemiten“ des NS-Faschismus, eröffneten die deutschen Faschisten „ein neues, das letzte Kapitel ihrer Judenverfolgung, sie vollzogen den Übergang von der Politik der Vertreibung zur Praxis der Vernichtung“.]

Was den Juden geschehen sollte, war mithin entschieden. Wie sich das Morden mit höchster Erfolgsquote, in aufeinander abgestimmten Schritten und ohne bürokratische Hindernisse, unter Vermeidung aller Schädigung eigener Interessen fortsetzen ließ, darum ging es an diesem Tage.

[Die] Teilnehmer … wünschten [später] den Eindruck zu erwecken, es sage die Niederschrift mehr aus, als ihnen am Orte selbst erklärt worden war. Dem widersprach nicht nur Eichmann durch seine spätere Aussage … [Zudem:] Welchen Sinn sollte die in der Aussprache von Görings Staatssekretär Erich Neumann vorgetragene Bemerkung haben, es müsse auf die Bedürfnisse der Rüstungswirtschaft Rücksicht genommen werden, wenn nicht alle verstanden hatten, dass die Mehrheit der Juden nach der „Endlösung“ für keinerlei Machtzwecke, für keinen Arbeitseinsatz mehr zur Verfügung stehen, weil umgebracht sein würden?

Was Eichmann [SS-Obersturmbannführer und Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und „Protokollführer“ der Wannseekonferenz] niederschrieb und Heydrich guthieß, ist keine stenographische Aufzeichnung. Der Leiter des Judenreferats hat über den Verlauf des Beisammenseins „mit Frühstück“ eine Niederschrift aufgrund eigener Aufzeichnungen angefertigt. Ihr bei weitem längster Teil umfasst die Wiedergabe der einleitenden Rede seines Chefs. Daran schließen sich knappe Angaben über Bemerkungen der Sitzungsteilnehmer. Heydrichs Worte, mit denen er das mörderische Geschehen und seine Ausweitung umschrieb, waren wohlgesetzt: „Endlösung der europäischen Judenfrage“, „Kampf gegen diesen Gegner“, „den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern“, „Evakuierung der Juden nach dem Osten“, „die kommende Endlösung der Judenfrage“, „die Behandlung des Problems“ usw. usf. „Der allfällig … verbleibende Rest … wird … entsprechend behandelt werden müssen“ [Anm.: wofür uns als unauslöschliches Mahnmal des Holocaust dann Auschwitz steht.]

Die anschließende Aussprache war kurz. Sie betraf die Sterilisierung der in so genannten Mischehen lebenden Juden und „Mischlinge“, die Rücksichtnahme auf mit kriegswichtiger Arbeit beschäftigte Juden, „solange noch kein Ersatz zur Verfügung steht“, die Reihenfolge der Deportationen zu den Mördern und die Ausrottung von Juden nahe ihrer Lebensgebiete, also rasch und ohne jeden Transportaufwand. Heydrich verabschiedete die Geladenen mit der Bitte, „ihm bei der Durchführung der Lösungsarbeiten entsprechende Unterstützung zu gewähren.“ Das tat sie dann auch. Der Geschichtswissenschaft ist kein Beleg bekannt geworden, dass einer der Mitwirkenden auch nur hemmend oder verzögernd tätig geworden wäre. Die Gruppe der Staats- und Unterstaatssekretäre aus dem Innen-, Justiz-, Außen-, Ostministerium, der Reichskanzlei … funktionierte ebenso wie die nicht Herbei-, aber auf andere Weise Einbezogenen aus dem Verkehrs- und dem Finanzministerium. Sie stellten die Spitzengruppe der Schreibtischmörder.

(Aus: Kurt Pätzold, Wahn und Kalkül. Der Antisemitismus mit dem Hakenkreuz)

Kurt Pätzold fasste an anderer Stelle („Die Wannseekonferenz – zu ihrem Platz in der Geschichte der Judenverfolgung“), auch nochmals die Aussagen von Adolf Eichmann, dem man 1960 in Argentinien habhaft werden konnte, aus dessen Prozesses in Israel 1961 über den Ablauf der Wannseekonferenz wie folgt zusammen:

„Behält man sein Verteidigungsinteresse im Angesicht des Galgens im Gedächtnis, so lässt sich aus Eichmanns Aussagen doch über den Hergang der Zusammenkunft etwa folgendes Bild gewinnen: Zunächst hörten die Geladenen den Vortrag Heydrichs, für den ihm Eichmann das Material herbeigeschafft und geordnet hatte. Der RSHA-Chef sprach wie auch bei anderen ähnlichen Gelegenheiten frei, hielt sich aber an die Papiere Eichmanns mit Sicherheit dort, wo er Zahlenangaben referierte. Wenn die Anordnung des Protokolls auch die zeitliche Reihenfolge wiedergibt, dann ließ Heydrich nach seinen Ausführungen, die den Vernichtungsplan umrissen, zunächst eine Aussprache darüber zu, wie gewährleistet werden könne, dass wirklich alle im faschistischen Machtbereich befindlichen Juden ergriffen und deportiert würden, damit niemand dem Tode entginge. Dann entwickelte er seine Auffassungen über die Behandlung der ‚Mischlinge’ und der in ‚Mischehen‘ lebenden Juden, worüber innerhalb der faschistischen Führungsspitze und Bürokratie unterschiedliche Ansichten herrschten und abweichende Pläne existierten. Danach wurde dieser Fragenkomplex diskutiert. Schließlich kehrte die Diskussion wieder zum ersten Teil, dem Massenmord, zurück.

Diese abschließende Debatte erfolgte, immer nach Eichmanns Berichten, in aufgelockerter Stimmung, zu der beigetragen haben mochte, dass Ordonnanzen Heydrichs Gästen auch Cognac anboten. In Eichmanns Gedächtnis blieb, dass sich die Anwesenden mit deutlichen Temperamentsunterschieden an der Diskussion darüber beteiligten, wie man die Juden umbringen und mit welchen Gruppen von ihnen man beginnen sollte.“

(Aus Kurt Pätzold, Die Wannseekonferenz – zu ihrem Platz in der Geschichte der Judenverfolgung)

Bild: A.Savin, WikiCommons, (CC BY-SA 3.0) – Bearbeitung KOMintern

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