Erst im Vorjahr hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Pomp und Gloria Aserbaidschan bereist, um mit seinem autokratischen Präsidenten Ilham Alijew eine „Energiepartnerschaft“ abzuschließen. Der hatte zwar kurz vor ihrer Rede den Kaukasus-Konflikt neu entfacht und Armenien überfallen, was Brüssels Schwärmereien für den „verlässlichen, vertrauenswürdigen Partner“ freilich keinen Abbruch tat.
„Die EU hat sich entschieden“, so von der Leyen letzten Sommer, sich von Russland als Energiepartner ab- und „verlässlicheren, vertrauenswürdigeren Partnern zuzuwenden“. „Ich freue mich“, strahlte die Kommissionspräsidentin neben Präsident Ilham Alijew an ihrer Seite, „Aserbaidschan zu ihnen zählen zu können“. Dass Baku davor im Kaukasus-Konflikt 2016 und 2020 nach Ansicht vieler Militärbeobachter den „ersten echten Drohnenkrieg“ geführt hat, galt Brüssels „wertebasierter Außenpolitik“ bestenfalls als unerheblicher Schönheitsfehler.
Genauso, wie die monatelange Hungerblockade gegen Bergkarabach vor Start des gegenwärtigen Angriffs, bezüglich derer der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, Alijew und dessen Regierung diesen August des Völkermords beschuldigte. Mindestens, so Ocampo in seinem Bericht, gilt die „begründete Annahme“ der Absicht Alijews auf eine „völkermörderische“ Politik und empfahl der Ex-Chefankläger, den Präsidenten vor dem IStGH auf Grundlage der „Völkermordkonvention“ anzuklagen.
Dass die Kriegsgänge wiederum nicht zuletzt mit türkischen Drohnen (insbesondere den berüchtigten TB-2-Drohnen) und Unterstützung türkischer Offiziere auf Seiten Aserbaidschans geführt wurden, gab der Militäroffensive Bakus vielmehr noch die unausgesprochenen Weihen der NATO.
Bereits 2016 hat das AKP-Regime Ankaras in diesen Zusammenhang den für knapp eine Woche wieder kriegerisch aufgeflammten Konflikt um die armenische Enklave Bergkarabach nach Kräften angeheizt. „Bis zum jüngsten Tag“ werde die Türkei, versicherten Erdoğan damals, „Schulter an Schulter mit Aserbaidschan“ stehen.
2020 kam es mit dem groß angelegten aserbaidschanischen Angriff mit türkischer Unterstützung – und in der Öffentlichkeit verschämt flach gehaltener Beihilfe der Ukraine – im Kaukasus-Konflikt um Arzach/Bergkarabach dann zur schlimmsten Kriegs-Eskalation seit dem Zerfall der Sowjetunion. Neben dem bluttriefenden Einsatz dschihadistischen Mörderbanden, die von Ankara extra aus den von der Türkei besetzten Teilen Nordost-Syriens und Libyens eingeflogenen wurden, war das türkische Militär auch direkt an den Kampfhandlungen beteiligt. Nicht zuletzt mit besagten Drohnenangriffen auf armenische Kräfte und ZivilistInnen. Flankiert wurde das Luftbombardement mit dem Abwurf von Phosphorbomben, mit denen die Wälder in Brand gesetzt wurden. Tausende Menschen sind den Gefechten und Gemetzel in Bergkarabach und dessen Hauptstadt Stepanakert seinerzeit zum Opfer gefallen.
Entsprechend der panturkischen Doktrin, nach der die Türkei und Aserbaidschan „eine Nation, zwei Staaten“ seien, erklärte der seinerzeitige türkische Außenminister Mevlüt Çavusoğlu in Baku unmissverständlich, dass die Türkei „bis zuletzt an der Seite Aserbaidschans stehen und wenn nötig, auch als ein Staat handeln” werde. Erdoğan feierte die Besetzungen und Vertreibungen im Anschluss denn auch als „den größten Sieg der türkischen Außenpolitik im Jahr 2020“.
Damit verquickte sich der Kaukasus-Konflikt nicht nur mit dem panturkisch, neo-osmanischen Projekt Erdoğans und dessen „türkischer Seidenstraße“, sondern zudem abermals mit dem Schicksal der ArmenierInnen. In den Städten Frankreichs machte begleitend ein von Ankara aufgepeitschter Mob aserbaidschanischer und türkischer Jugendlicher Jagd auf Menschen armenischen Hintergrunds. Auch in Wien gab es Aufrufe junger euphorisierter AKP&MHP-Anhänger und dschihadistischer Sympathisanten neben Kurden, der Frauenbewegung und Linken nun auch die hier lebenden ArmenierInnen zu attackieren.
Mit dem seit 2022 entbrannten Weltordnungskrieg, erhielt das autokratisch regierte Kriegsregime Aserbaidschan dann überhaupt den geostrategischen Persilschein Brüssels und des „Wertewestens“. Entsprechend lau denn auch die westlichen Reaktionen auf den aktuellen völkerrechtswidrigen Angriff.
„Die Aussichten für die 120.000 Einwohner in Bergkarabach sehen nach der militärischen Eroberung durch Aserbaidschan schlecht aus“, so die Journalistin Ina Sembdner zu Recht. „Viele befürchten, aus ihrer Heimat vertrieben oder – wenn sie bleiben – zum Ziel von Gewalt durch aserbaidschanische Truppen zu werden.“ Neben der demographischen droht zudem eine insgesamt breitflächige, einschneidende Neuordnung der Region, wie der politische Analyst Arman Abowjan gegenüber dem „Neuen Deutschland“ vermutet: „Die Türkei will eine große gemeinsame Grenze mit Aserbaidschan auf dem Landweg und eine gemeinsame Grenze über das Kaspische Meer nach Zentralasien. Dort sind mit Ausnahme von Tadschikistan alle Länder turksprachig und bereits jetzt unter türkischem Einfluss.“ Die Türkei hat ihre militärische Einflusszone seit 2014 um Libyen, Syrien und Zypern erweitert. „Nun müssen wir diesen aggressiven Kurs der Türkei in unserer Region beobachten …“
Um etwaige ernsthaftere internationale Folgen seitens des „Wertewestens“ brauchen sich dabei weder der – ob seiner geostrategischen Bedeutung sowie der aserbaidschanischen Öl- und Gasvorkommen heiß umworbene – autokratische Alijew-Familienclan in Baku, noch der „neue Sultan von Ankara“ Gedanken machen. Die Achse Baku-Ankara verfügt über tiefreichende Wurzeln in der Achse des „Kollektiven Westens“ mit Aserbaidschan. Denn Baku ist für „die Europäische Union ein Partner von wachsender Bedeutung“. Da darf man sich auch schon mal im Beisein eines sozialdemokratischen deutschen Bundeskanzlers stolz brüsten, dass Aserbaidschan seine „Würde und territoriale Integrität auf dem Schlachtfeld wiederhergestellt“ habe.
Dementsprechend ruft denn auch die Armenische Jugend Österreichs für diesen Sonntag, 24.9., – Treffpunkt: 13.30 Uhr am Armenierplatz 1030 Wien – zu einem Protestmarsch in der Wiener Innenstadt auf!