95 Jahre Schattendorf: Der Auftakt zum 15. Juli 1927

Die ArbeiterInnenbewegung Österreichs galt seit 1923 beinahe als Freiwild. Die Jahre waren so nicht zuletzt von ständigen Überfällen faschistischer Wehrverbände auf friedliche Veranstaltungen der ArbeiterInnenschaft gekennzeichnet. Es gab immer wieder Tote und Verwundete. Die Sozialdemokratie hielt die Gewerkschaften derweil von energischeren Kampfaktionen zurück sowie den Schutzbund „Gewehr bei Fuß“. Und die faschistischen Gewalttäter wurden unter dem Jubel der bürgerlichen Presse vielfach freigesprochen oder bloß mit Geldstrafen belegt.

Am 30. Jänner 1927 gab es in der burgenländischen Ortschaft Schattendorf wieder einen dieser feigen Überfälle. Es war kurz nach 16.00 Uhr als Teilnehmer eines friedlichen Aufmarsches und einer Kundgebung des Schutzbunds (gegen eine ruchbar gewordene  Versammlung der faschistischen Frontkämpfer im Ort) aus einem Gasthaus (Gasthof Tscharmann) des 2.000-Seelen-Dorfs heraus beschossen wurden. Der sechsjährige Josef Grössing und der sozialdemokratische Kriegsinvalide Matthias Csmarits aus Klingenbach wurden in diesem Doppelmord erschossen. Der aus Neugier an der Straße stehende Bub wurde von 16 Schrotkugeln, abgefeuert von drei Mitgliedern des faschistischen paramilitärischen Frontkämpferverbands in Herz und Lunge getroffen. Dem Gewerkschafter und Kundgebungsteilnehmer Csmarits hatten die Mörder mit 20 Schrotkugeln die rechte Kopfhälfte weggeschossen.

Während die bürgerliche und konservative Presse sich bemühte, die heimtückischen Morde zu rechtfertigen, warnte Friedrich Hexmann auf einer Kundgebung der KPÖ: „Das Aufblitzen der Mordwaffe hat auch die reaktionären Pläne grell beleuchtet, die die Seipel-Regierung im Schilde führt.“ Und die „Rote Fahne“ forderte: „Weg mit der Frontkämpferregierung!“ und „sofortige Entwaffnung und Auflösung aller faschistischen Organisationen“.

„Die beiden Mordopfer wurden am 2. Februar 1927 in Schattendorf beigesetzt und tausende Menschen begleiteten sie auf ihrem letzten Weg. Um 11 Uhr vormittags heulten die Fabriksirenen. Es war das Zeichen für den von den freien Gewerkschaften ausgerufenen viertelstündigen Generalstreik. Auch Eisenbahnzüge hielten auf offener Strecke“, so Marliese Mendel jüngst die (dem dann allerdings ständigen Zurückweichen ausgesetzte) Stärke der Gewerkschaften unterstreichend. In der Tat, am Tag des Begräbnisses ruhte zum Zeichen der Trauer und des Protests, aber auch der Kampfbereitschaft, in den österreichischen Betrieben quer durchs Land für eine Viertelstunde die Arbeit.

Am 2. des Folgemonats (2. März 1927), unternahm das Heeresministerium dann zusätzlich eine militärische Aktion zur Entwaffnung der Arbeiterklasse. Während die Sozialdemokratie und sozialdemokratische Gewerkschaftsführung versuchten diesen Stoß der Regierung Ignaz Seipel, dem „Prälat ohne Milde“, herunterzuspielen, warnte die KPÖ angesichts der immer weiteren Zuspitzung der politischen Lage vor der Gefahr eines sich anbahnenden Staatsstreichs: „Der Faschismus ist am Sprunge!“ und betonte: „Aber die österreichische Arbeiterschaft ist noch stark genug, um mit den Faschisten aufzuräumen“. In einem „Offenen Brief“ unterbreitete die KPÖ der SDAP daraufhin ein Aktionseinheitsangebot (inkl. einem Wahlvotum bei den bevorstehenden Nationalratswahlen) mit der Forderung nach energischen Maßnahmen gegen die faschistischen Banden, Wehrverbände und ihren Komplizen in Staat  und Staatsapparat.

Vom 5. bis 14. Juli mussten sich die Schattendorf-Mörder, verteidigt vom nationalsozialistisch gesinnten Anwalt und Funktionär Dr. Walter Riehl, dann vor Gericht verantworten. Die Anklage lautete aber nicht auf Mord, sondern lediglich auf „Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit, Verbrechen der schweren körperlichen Beschädigung und Vorgehen gegen die körperliche Sicherheit.“ Am Ende des fast zweiwöchigen Prozesses wurden sie am 14. Juli in Wien von einem Geschworenengericht in einem Schandurteil überhaupt freigesprochen.

Die christlichsoziale „Reichspost“ titelte zum Schandurteil tags drauf: „Ein klares Urteil“, und machte gar die Arbeiterschaft bzw. sozialdemokratische Parteiführung als die „wahren Schuldigen“ aus: „Zwei Gruppen von Angeklagten standen in dem Schattendorfer Prozess vor den Richtern. Die eine Gruppe, das waren die drei Frontkämpfer . . . Die andere, viel größere Gruppe, bestand aus bekannten und unbekannten Personen, aus kleinen Raufbolden und einflussreichen Parteimännern, gegen die keine Anklage erhoben war, die aber alle zusammen für die traurigen Ereignisse vom 30. Jänner verantwortlich sind . . . So sehr es das Rechtsempfinden befriedigt, dass die Geschworenen die moralische Schuldfrage klar beantwortet haben, so bitter ist die Erkenntnis, dass die wahren Schuldigen strafgesetzlich nicht zu fassen sind. Es bleibt nur der Wunsch, dass die sozialdemokratische Arbeiterschaft aus dem Schattendorfer Prozess erkennt, wie frevelhaft sie von ihren Führern belogen und mit Lügen verhetzt wird“.

Die Arbeiter der Wiener E-Werke, denen das Urteil noch in den Abendstunden des 15. Juli bekannt wurde, wollten daraufhin durch eine Stromabschaltung am nächsten Morgen das Zeichen zum Generalstreik in ganz Wien zu geben. Zwar konnten sie von sozialdemokratischen Vertrauensmännern noch zum Abwarten bewogen werde. Als am nächsten Tag jedoch die „Arbeiter-Zeitung“ mit einem Leitartikel zum Skandalurteil erschien, brach umgehend eine spontane, machtvolle Protestwelle der Wiener ArbeiterInnenschaft los. Ohne weiter vergeblich auf einen Beschluss des sozialdemokratischen Parteivorstands oder Gewerkschaftsführung zu warten, legten die Beschäftigten die Arbeit nieder, verließen die Betriebe und zogen auf die Ringstraße, um gegen das Schandurteil zu protestieren (während sich die sozialdemokratische Parteiführung um Kalmierung und Geheimverhandlungen mit der Regierung Seipel bemühte).

Die Demonstration war erregt, aber ausnahmslos unbewaffnet, da die Führung der Sozialdemokratie es kategorisch abgelehnt hatte, die spontane Aktion zu unterstützen und Waffen zur eventuellen Verteidigung aus den Arsenalen des Schutzbundes zu Verfügung zu stellen. Die kurz vor 10.00 Uhr einsetzenden Provokationen der Polizei brachten die Stimmung weiter zum Kochen. Der christlichsoziale Wiener Polizeipräsident Johann Schober gab schließlich den Befehl auf die an die 200.000 unbewaffneten DemonstrantInnen das Feuer zu eröffnen.

85 DemonstrantInnen wurden dabei erschossen – noch uneingerechnet der später ihren Verletzungen Erlegenen. Über 1.000 Verwundete säumten die Straßen. „Als das Gemetzel begann, verlangten tausende Schutzbündler nach Waffen, um der Abschlachtung ihrer GenossInnen durch wildgewordene Polizisten Einhalt gebieten zu können. Die Antwort der [sozialdemokratischen] Parteiführung war die Kasernierung aller Mitglieder des Schutzbundes“, so der Historiker Winfried Garscha, zu diesem in der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung vielfach unterschlagenen Aspekt. „Der Schutzbund blieb während des Polizeimassakers kaserniert, was großen Unmut hervorrief.“ Dies nicht zuletzt noch vor dem Hintergrund, dass die Polizei ab Mittag des 15. Julis ihrerseits mit Gewehren aus Militärbeständen ausgerüstet wurde.

Auch in den Bundesländern, allen voran in der Steiermark (mit dem Zentrum Bruck an der Mur), in Ober- und Niederösterreich und in Tirol kam es zu bedeutenden Aktionen der ArbeiterInnenschaft. Dass gegen diese zusätzlich zur Polizei zugleich faschistische Heimwehr-Verbände herangezogen wurden, war ein zum Polizeimassaker in Wien hinzukommendes akutes Warnsignal und ab Juli 1927 über der Republik hängendes Menetekel des Vormarsches des Austrofaschismus.

Tags drauf beantwortete die überwältigende Mehrheit der Arbeitenden das Geschehen mit Streik. Die Gewerkschaften sanktionierten diesen. Der Generalstreik in Wien wurde so gut wie lückenlos befolgt und durchgeführt. Lediglich die Brotfabriken, die Krankenhäuser und die Wasser- und Elektrizitätswerke hielten einen (Not-)Betrieb aufrecht. Eine nicht mindere Kraft der Arbeitenden bewies der gleichzeitige Verkehrsstreik im übrigen Österreich, der zunächst bis 18. Juli ausgedehnt wurde. Im Anschluss wurden beide abgebrochen – was in Rahmen der Kapitulationspolitik der Sozialdemokratie nur konsequent war. „Der [sozialdemokratische] Parteivorstand“, so nochmals Winfried Garscha, „verband den Streik nicht mit einer politischen Forderung, sondern führte ihn nur durch, um bei den eigenen Mitgliedern ‚Dampf‘ abzulassen.“

Dabei gab es angesichts des Polizeimassakers, der Einbeziehung der Heimwehren gegen die ArbeiterInnenproteste sowie der selbst noch vor dem Hintergrund des Gemetzels schon wenige Tage später im Parlament geäußerten, bekannten Worte des Prälaten und Bundeskanzlers Seipel an die ArbeiterInnen „keine Milde“ zu erwarten, nicht den geringsten Anlass das Menetekel misszuverstehen und sich mit Säbelrasseln zu begnügen.

Und die nächsten Schläge gegen die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung auf dem Weg zur späteren Ausschaltung des Parlaments durch Engelbert Dollfuß  und Errichtung der austrofaschistischen Diktatur wurden auch schon vorbereitet.

Bild: Wienbibliothek, CC BY-NC-ND 4.0

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