In Teil I zeichneten wir zunächst den Weg zur Floridsdorfer Betriebsrät:innenkonferenz und der sich immer offener Bahn brechenden Abwehrbereitschaft der Arbeiterschaft und (illegale) Gewerkschafts- und Arbeiter:innenbewegung einer Okkupation Österreichs durch Nazi-Deutschland nach – welche in Floridsdorf und dessen Folgetage ihren Höhepunkt erklomm. Diesen wenden wir uns daher nun in Teil II näher zu.
„Der Hauptfeind ist Hitler“ – Die Arbeiterschaft wollte Österreich gegen die Nazi-Barbarei verteidigen
Friedrich Hillegeist hielt in Floridsdorf das Hauptreferat, in welchem er über die Verhandlungen berichtete und das zu erörternde Spektrum der Stellungnahmen seitens der Gewerkschafts- und Arbeiter:innenbewegung bzw. deren politische Positionierung skizzierte. Vor dem Hintergrund des bevorstehenden Entscheidungskampfes gegen die Okkupation des Landes durch den deutschen und noch einmal unvergleichlich brutaleren Nazi-Faschismus umriss er dieses Spektrum auf der Floridsdorfer Betriebsrät:innenkonferenz wie folgt:
„a) Die Arbeiterschaft erklärt vorbehaltlos und ohne Bedingungen, die Regierung in ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus zu unterstützen. Dadurch würde keinerlei Zeit mit weiteren Verhandlungen verlorengehen.
b) Die Arbeiterschaft bleibt als unbeteiligter Zuschauer abseits der Auseinandersetzung. Schließlich handle es sich um die Auseinandersetzungen zwei mehr oder minder faschistischen Regimen, wenn auch Dr. Schuschnigg unter dem Druck der Verhältnisse Lockerungen durchgeführt habe.
c) Die Arbeiterschaft unterstützt den Kampf Österreichs mit allen Kräften, kämpft jedoch gleichzeitig um die eigene Freiheit und verlangt von der Regierung die Zusicherung gewisser Mindestrechte.“
Den Originaltext des Referats gibt es leider nicht mehr. Aber Hillegeist hat dessen Inhalt später festgehalten und veröffentlicht, der in dieser Fassung auch von einer Reihe von Teilnehmer:innen der Floridsdorfer Betriebsrät:innen-Konferenz inhaltlich nochmals bezeugt wurde.
Nach mehrstündigen, intensiven Diskussionen stimmte eine überwiegende Mehrheit für die nachstehende Resolution und Schuschnigg überreichten Bedingungen und wählten einstimmig eine Vertretung aus gewerkschaftlichen und politischen Vertrauensleuten:
„Der Hauptfeind ist Hitler. Daher ist die Verteidigung der Unabhängigkeit Österreichs gegen Hitler zur zentralen Aufgabe geworden. … Aber um gegen Hitler zu kämpfen, um Österreichs Unabhängigkeit gegen den braunen Aggressor verteidigen zu können, dazu brauchen Österreichs Arbeiter die ihnen im Februar 1934 geraubten demokratischen Rechte.“
Die vier daraus resultierenden zu erfüllenden Mindestforderungenwaren konkret:
1. Bekenntnisfreiheit für die sozialistischen und kommunistischen Strömungen der Arbeiter:innenbewegung und Freigewerkschaften
2. Freie Wahlen in der offiziellen Einheitsgewerkschaft
3. Zulassung einer freien Gewerkschaftspresse mit Rede- und Diskussionsfreiheit auch für Sozialisten und Kommunisten
4. Aufhebung aller durch das „vaterländische Regime“ nach 1934 verfügten Notverordnungen, durch die die wirtschaftlich und soziale Lage der Arbeiter und Angestellten verschlechtert worden ist
„Es handelte sich“, wie der sozialistisch orientierte SP-Gewerkschafter und Publizist Josef Hindels einst festhielt, „um gemäßigte Forderungen. Aber diese Mäßigung war nicht der Ausdruck einer opportunistischen Geisteshaltung, sondern entsprach der Erkenntnis von der tödlichen Bedrohung Österreichs, die es notwendig machte, die Abrechnung mit dem Austrofaschismus zumindest zurückzustellen, alle Kraft gegen die nazifaschistische Hauptgefahr zu konzentrieren.“ Eine erfolgreiche, kämpferische Abwehr der nationalen Vergewaltigung durch den nochmals ungleich brutaleren deutschen Faschismus, hätte freilich die Freiheitskräfte zugleich in einem Ausmaß gestärkt, dass nach Abwehr des Nazi-Faschismus auch die Beseitigung des autochthonen heimischen Austrofaschismus auf die Agenda gesetzt sein würde. (Eine Nachzeichnung der gleichviel eklatanten strategischen und auch taktischen Differenzen innerhalb der illegalen Arbeiter:innenbewegung und Untergrundgewerkschaften, so gewichtig sie eigentlich wäre, muss im vorliegenden Kontext aus Platzgründen allerdings zurückgestellt bleiben.)
Den Delegierten fiel nun die Aufgabe zu, eiligst einen möglichst großen Kreis von Kolleg:innen über die Entscheidungen der Konferenz zu informieren und für den 10. und 11. März auf breiter Front Gewerkschafts- und Betriebsversammlungen einzuberufen.
Schuschniggs Zögern, seine Flucht nach vorne und die konsequente Haltung der Gewerkschafts- und Arbeiter:innenbewegung
Schuschnigg seinerseits hat nie auf diese Forderungen geantwortet. Er zögerte seine Antwort hinaus – bis es zu spät war. Am 9. März versuchte Schuschnigg unter dem Eindruck des breitflächigen in der Bevölkerung herrschenden Widerstandswillens quasi die „Flucht nach vorne“ und verkündete in einer Rede in Innsbruck für den 13. März die Durchführung einer Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs von Deutschland – zu der die Regierung Österreichs Bevölkerung zu einem „Ja“ für „Ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ aufruft. Das stellte die Arbeiterbewegung vor eine neuerlich veränderte Situation. In der Nacht zum 11. März trafen sich die führenden Vertreter der illegalen Freien Gewerkschaften, Revolutionären Sozialisten und Kommunisten zur Besprechung der Lage. Obwohl die Situation – hinsichtlich der Minimalforderungen der Floridsdorfer Betriebsrät:innenkonferenz gab es noch immer weder eine Zusage, noch überhaupt eine Antwort – und Schuschniggs Parole vielen Angehörigen der Arbeiterbewegung schwere Gewissenskonflikte bereitete, entschlossen sich alle drei für ein „Ja“ bei der angesetzten Volksabstimmung aufzurufen. Immerhin, wenngleich nicht ausschlaggebend, stellte die austrofaschistische Einheitsgewerkschaft (die sich – wenn auch noch verhalten – schon seit Anfang 1938 gegen die „Versöhnungs- und Bruderkarte“ Schuschniggs ihrerseits von den Nazis abzugrenzen begann und eine gewisse Öffnung zu den illegalen Freien Gewerkschaften einschlug) am 11. März ihrerseits die Erfüllung der Minimalforderungen nach Wahlen im Gewerkschaftsbund in Aussicht. Parallel fanden seit den Vormittagsstunden des 11. März Betriebsversammlungen statt, die gleichfalls zu einem „Ja“ für ein selbständiges Österreich aufriefen. Die KPÖ rief in ihrem Flugblatt „Arbeiter, Bauern, Volk von Österreich“ nochmals eindringlich zur Abwehr der Aggression unterm Hakenkreuz auf: „Österreich ist in höchster Gefahr, es geht um das Schicksal, um die Unabhängigkeit unseres Landes.“ Karl Hans Sailer, von den Revolutionären Sozialisten, sollte den „Ja“-Aufruf der Arbeiter:innenbewegung für deren Anhänger:innen und weitere Bevölkerungskreise zudem auch in einer Rundfunkrede über die Ätherwellen des Landes nochmals politisch begründen. Dazu ist es allerdings nicht mehr gekommen.
Schuschniggs Kapitulation und die schmählichen Märztage 1938
Denn zeitgleich überbrachten die beiden Nazi-Minister Arthur Seyß-Inquart und Edmund Glaise-Horstenau Kanzler Kurt Schuschnigg Hitlers Ultimatum, die Volksabstimmung umgehend abzusagen. Hermann Göring wiederum forderte Schuschnigg ultimativ auf, zugunsten von Arthur Seyß-Inquart zurückzutreten. Schuschnigg kapitulierte, gehorchte und trat zurück. Um 19.50 Uhr hielt er im Rundfunk seine Abschiedsrede und erklärte, dass man der Gewalt weiche und das Bundesheer angewiesen sei, sich im Falle eines Einmarsches Nazi-Deutschlands zurückzuziehen – nicht, weil militärischer Widerstand und Alternativen zur kampflosen Kapitulation nicht möglich gewesen wären, sondern, wie Schuschnigg in deutschnationalem (Nazi-)Jargon erklärte, damit kein „deutsches Blut“ fließe, da die Austrofaschisten „keinen Bruderkrieg im deutschen Haus“ führen wolle. Daher vertraue er Österreich nun dem Herrgott und die Regierungsgeschäfte seinem Nachfolger Seyß-Inquart an. Auf dieses Zeichen hin übernahmen die österreichischen Nazis noch in der Nacht zugleich die Straßen und begannen sogleich ihren Terror gegen politische Gegner und die österreichischen Juden und Jüdinnen sowie ein fürchterliches sechstägiges Pogrom. Der deutsche Dramatiker Carl Zuckmayer, der zu diesem Zeitpunkt für Proben in Wien weilte, schrieb dazu später: „An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. (…) Es war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlichen Würde.“ Am Folgetag, dem 12. März, lief daraufhin das „Unternehmen Otto“, die militärische Besetzung Österreichs (in dem auf das Ultimatum Hitlers bereits ein Nazi als Kanzler inthronisiert war), durch die deutsche Wehrmacht, an. Ihr auf dem Fuß folgten SS-Verbände und die Gestapo. Anstatt der ursprünglich für 13. März angesetzten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs von Deutschland, verkündete der dann „Reichsstatthalter“ der „Ostmark“ Arthur Seyß-Inquart an eben genau jenem Tag vielmehr den „Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich“. „Das Argument“, dass ein militärischer Widerstand „viele Opfer forderte und daher sinnlos war, verliert“ – wie der kommunistische Historiker Willi Weinert zu Recht mit Nachdruck herausstrich – „angesichts jener hunderttausenden Österreicherinnen und Österreicher, die in den folgenden Jahren auf den Schlachtfeldern für Hitlers Kriegsziele starben oder deren Opfer wurden, an Bedeutung.“ Die einzige gesellschaftspolitische Kraft die auf die Annexion Österreichs durch den Hitler-Faschismus sogleich mit einer Stellungnahme reagierte und zum Widerstand aufrief, war denn auch die KPÖ. „In der sogenannten Umbruchsnacht“, so abschließend noch einmal Theodor Heinisch, „gab es den einzigen schriftlichen Aufruf einer politischen Organisation, das war der Aufruf der Kommunistischen Partei zum Widerstand gegen das Regime, das jetzt kommt.“
Nachsatz: Angesichts des zeitgenössischen Grassierens eines völlig ahistorisch-schematischen Spiels der Analogien, sei angemerkt, dass die Tragödie des März 1938, die nicht nur das Land mit dem braunen Terror und Schrecken überzog, sondern Österreich in Folge in den fürchterlichsten Vernichtungskrieg der Geschichte, die Neuordnung Europas unterm Hakenkreuz und den Holocaust verstrickte, keinerlei von Unkenntnissen der Geschichte und Gegenwart nur so strotzenden Instrumentalisierungen und geschichtsrevisionistischen Relativierungen gestattet.