Zum Jahrestag des verheerenden NATO-Kriegs gegen Libyen – oder warum Gaddafi sterben musste – Teil II

Bloße zwei Jahre bevor Libyen in Schutt und Asche gelegt wurde und sein eigener Kopf im Sand rollte, zeigte sich Gaddafi in seiner Rede vor der UNO noch einmal von seiner wortgewaltigen Seite und meinte irrtümlich: „Wir [the Rest except the West, Anm.] sind kein Vieh, das man einfach schlachten kann.“ Und wollte Washington und seine Paladine für den fürchterlichen Irak-Krieg auf die Anklagebank zerren.

Der Angriffskrieg gegen den Irak, so Gaddafi, war nicht nur völkerrechtswidrig: „Es war ein Massaker, ein Genozid. Mehr als 1,5 Millionen Menschen kamen ums Leben. Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Irak-Fall vor den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) kommt, und wir wollen die Verantwortlichen dieser Massenmorde [also Bush, Blair und Konsorten, Anm.] vor Gericht sehen.“ Ein Ansinnen, das natürlich schon an den weltpolitischen Doppelstandards und globalen Machtverhältnissen zerschellt. Statt sich für seine imperialen und illegalen Kriege verantworten zu müssen, setzte das Empire danach bekanntlich vielmehr als nächstes Libyen und des ehemaligen „Revolutionsführer“ auf die Kriegsagenda.  

Ein in einen „failed state“ gebomtes Land und rassistischer Terror als „eine der erfolgreichsten Militärmissionen in der Geschichte der NATO“ 

Der NATO-Bombenterror richtete sich von Anfang an jedoch nicht nur gegen Militäranlagen, die Flugabwehr oder militärische Infrastruktur, sondern ebenso gegen städtische Wohngebiete, Konvois in denen man Gaddafi vermutete, Küstenstädte, Dörfer, die zivile Infrastruktur des Landes, den staatlichen Fernsehsender usw. usf. Rund 50.000 Menschen sind dem Libyenkrieg der NATO (unter anderem unter breitflächigen westlichen Einsatz von Waffen mit abgereichertem Uran) seinerzeit zum Opfer gefallen. Hunderttausende, darunter die von Regierungsgegnern zuhauf angegriffenen Gastarbeiter aus den Nachbarländern und insbesondere aus Schwarzafrika, suchten bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn ihr Heil in der Flucht. Besonders hart traf es dabei die Hundertausenden schwarzafrikanischen Arbeiter, nachdem die westlich-katarische Kriegspropaganda die erlogene Behauptung „schwarzer Söldnertruppen“ Gaddafis in die Welt setzte, die zudem angeblich mit Viagra vollgepumpt zu Massenvergewaltigungen eingesetzt durchs Land zogen. Die Gastarbeiter aus dem subsaharischen Teil Afrikas wurden darauf vielfach unisono als vermeintliche „schwarzafrikanische Söldner“ und „Frauenschänder“ gejagt, gefoltert und kaltblütig umgebracht – und unter anderem auch von den für die Evakuierung der Zivilbevölkerung von europäischen Regierungen zur Verfügung gestellten Schiffen ins offene Meer geworfen. Die Kriegspropaganda zog wirklich alle Register und bediente sich sämtlicher zur Verfügung stehender rassistische Untertöne.

All diese Kriegsverbrechen der unterstützten „Rebellen“ waren dem Westen auch nachweislich von Anbeginn an bekannt, wurden aber billigend in Kauf genommen um Gaddafi zu stürzen. Selbst Al Jazeera, Katars Kriegssender gegen den „Revolutionsführer“, berichtete schon unmittelbar nach Aufstandsbeginn (bereits Wochen vor Kriegsbeginn) von den rassistischen Massakern der pro-westlichen „Freiheitskämpfer“. Und während das Militärbündnis den Rebellentruppen in ihrem Eroberungsfeldzug den Weg nach Tripolis freibombte, berichtete Amnesty International begleitend bereits ausführlich von „Misshandlungen, von Folter und außergerichtlichen Tötungen gefangener Gaddafi-Kämpfer“ durch die Rebellen-Milizen. In einem Brief an Barack Obama bat Gaddafi den Friedensnobelpreisträger in Washington daraufhin um eine Einstellung des NATO-Bombenkriegs und Aufnahme von Verhandlungen, was vom US-Präsidenten aber umgehend abgelehnt wurde. Erst am 31. Oktober, zehn Tage nachdem Muammar al-Gaddafi nach Beschuss seines Konvois durch französische Kampfjets und einer US-Drohne zunächst gestoppt und im Anschluss viehisch liquidiert worden war, beendete die NATO ihren Kolonialkrieg. Der damalige NATO-Generalssekretär Anders Fogh Rasmussen erklärte die siebenmonatige Militärmission daraufhin als „eine der erfolgreichsten in der Geschichte der NATO“.  

Vom höchstentwickelsten Land Afrikas in die Zerstörung seiner Staatlichkeit und einem Versinken im Bürgerkrieg

Das zuvor wohlhabende Libyen, mit dem damals höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas, wurde in einen „failed state“ gebombt, in seiner Staatlichkeit zerstört und versank anschließend im Bürgerkrieg unzähliger Milizen, Clans und politischer Kräftekoalitionen und einem bis heute unregierbaren Chaos, mit von divergenten Interessen geleiteten bis antagonistischen regionalen und globalen Unterstützern (darunter auch später hinzukommenden weiteren Akteuren). Hier ist nicht der Ort auf Gaddafis einstiges programmatisches „Grünes Buch“ von 1973, in dessen drei Teilen er zunächst sein gesellschaftliches Konzept niederlegt, und dessen bereits anfängliche Eigentümlichkeiten wie Ungereimtheiten näher einzugehen. Die Verstaatlichung der Ölfelder und gesamten Erdölindustrie sowie die Nationalisierung des Grundes und Bodens und Verteilung auf die armen Bauern legten allerdings die Grundlagen für die weitere Entwicklung des Rentenstaates in dieser Periode. Aus den Öleinnahmen Libyens finanzierte Gaddafi, entsprechend der von ihm vermeintlich grundgelegten „dritten Universaltheorie“, einen ansatzweisen Wohlfahrtsstaat mit kostenlosem Gesundheitswesen für alle, einer allgemeinen Schulpflicht auf Basis eines kostenlosen Schulwesens und gebührenfreier Universitätsbildung, führte Witwen- und Alters-Pensionen ein, sicherte die Versorgung der Bevölkerung mit zugleich stark subventionierten Grundnahrungsmittel, sowie Strom und Gas, stellte zinslose Kredite für den Wohnungsbau sowie die Landwirtschaft bereit und subventionierte Benzin beinahe bis zum Nulltarif. (Seit 1964/65 gab es im Land keinen Schienenverkehr mehr. Erst seit Ende der 1990er Jahre wurde bis zu Kriegsbeginn das Projekt der Errichtung eines landesweiten Eisenbahnnetzes in Angriff genommen.) Die Löhne waren im Vergleich zu sämtlichen anderen afrikanischen Ländern relativ hoch, auch die Mindestlöhne wurden kontinuierlich erhöht, die Mieten waren niedrig und die wichtigsten Preise weitgehend stabil. Parallel war Libyen zugleich eines der ersten Länder Afrikas, das die Malaria ausrottete. Im Unterschied zu den anderen Großstädten des Kontinents, gab es in Tripolis, Bengasi oder anderen Städten Libyens auch keine Slums. Der Maghrebstaat galt als Land mit dem geringsten Wohlstandsgefälle ganz Afrikas. Insofern spielte in Libyen auch die soziale Frage, Armut und Not für die Protest 2011 nur eine untergeordnete Rolle, wenngleich wohl eine gewisse wirtschaftliche Benachteiligung der Bevölkerung im Osten gegenüber den TripolitanerInnen bestand und das Land im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 2008ff mit Arbeitslosigkeit von etwa 30% zu kämpfen hatte. Diese lag unter Jugendlich nochmals höher und sorgte unter ihnen zu Recht für zunehmenden Unmut. Gleichwohl entzündete sich in Libyen daraus kein das ganze Land umfassender Massenaufstand, sondern konzentrierte sich der Aufstand schwerpunktmäßig auf Regionen und kleinere Städte im Osten des Landes. Selbst in Bengasi, der zweitgrößten und in der Cyrenaika liegenden Stadt des Landes, in der später immerhin der selbsternannte „Nationale Übergangsrat“ residierte, gab es keine mit den Volksaufständen der „Arabischen Revolutionen“ vergleichbaren Massendemonstrationen oder – Proteste.

„Der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“ (Goethe)

Der weitere Fortgang der Entwicklungen und Dinge würde hier zu weit führen. Zunächst ein Jahrzehnt in einen wechselvollen offenen Bürgerkrieg versunken, beanspruchen aktuell zwei Regierungen (mit unterschiedlichen Milizen und internationalen Unterstützern) die Führung des Landes. Freilich weitgehend unter dem Radar der Mainstream-Medien. Dabei handelte es sich bei Libyen, um eine in den letzten Monaten Karriere machende Kategorie für die Bewertung von Kriegsgeschehen aufzugreifen, eigentlich gleichsam um ein „Nachbarland“. So ist es von Italien nach Libyen etwa gleich weit wie in die Ukraine, von Süditalien zur libyschen Küste sogar deutlich näher. Nicht viel anders liegen die Dinge etwa auch von Frankreich her betrachtet. Aber, wie Journalisten fast aller Couleurs in erschreckend offen rassistischen Topoi seit den ersten Tagen des Ukraine-Kriegs zu erkennen geben, „Nachbarland“ ist für sie keine eigentlich geographische, sondern eine politisch-ethnische Kategorie, weshalb es „uns“ („natürlich“) verwehrt sei, geschundenen Libyern und Libyerinnen dieselbe Empathie und Solidarität entgegenbringen wie „unsereins“ („blond, blauäugig“ oder zumindest „christlich-abendländisch“ und „wohlhabende MittelschichtsbürgerInnen“) in Europa. Umso unabdingbarer gegen den „Zeitgeist“, nach Goethes Wort genauer „der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“, nicht minder den NATO-Krieg um Libyen – der im westlichen Sprech freilich gar kein Krieg, sondern vielmehr eine militärische „(Sonder-)Operation“ (Operation Odyssey Dawn), wie Obama und Alliierte nicht müde wurden zu versichern, war – im Gedächtnis und Blick zu behalten.

Foto: EU Civil Protection and Humanitarian Aid (CC BY-ND 2.0)

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