Krieg gegen das Flüchtlingscamp Mexmûr

Seit Samstag versucht die irakische Armee das bekannte basisdemokratisch organisierte und selbstverwaltete Flüchtlingscamp Mexmûr in Südkurdistan mit Stacheldraht einzuzäunen und gleichsam in ein riesiges Gefängnis zu verwandeln, unter botmäßige Kontrolle zu bringen und dauerhaft zu belagern. Der Zugang zum Geflüchtetenlager – das allen voran der Türkei als Modell der Selbstverwaltung seit Jahren ein derartiger Dorn im Auge ist, dass die türkische Luftwaffe nicht davor zurückschreckt mit Drohnen und Kampfjets immer wieder Luftangriffe auf das Flüchtlingslager zu fliegen – ist mittlerweile komplett gesperrt worden. Auch das Verlassen des selbstverwalteten Camps ist nicht mehr möglich. Hintergrund der Operation dürfte die Erpressung Ankaras sein, die Aggression gegen bzw. Zerschlagung von Mexmûr zur Voraussetzung für eine Aufhebung der Wasserblockade des Euphrats und des Tigris im von einer verheerenden Dürre geplagten Irak gemacht zu haben. Die Bevölkerung leistet weiter hartnäckigen Widerstand.

Die kontinuierlichen türkischen Angriffe auf das Flüchtlingslager Mexmûr reihen sich dabei nahtlos in den – von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend unbeachteten – tobenden schmutzigen Krieg Ankaras gegen die kurdische Freiheitsbewegung und Selbstverwaltung ein. Nun sollen diese dreckigen Luftangriffe auf das Flüchtlingscamp auch noch herhalten, um den Menschen in Mexmûr daraus den Strick zu drehen.Zu Recht empörte sich eine Bewohnerin des Flüchtlingslagers gerade: „Wir wollen nicht mit Stacheldraht eingezäunt werden. … Die Menschen hier schützen sich seit dreißig Jahren selbst. Es wird behauptet, dass wir geschützt werden sollen, aber das brauchen wir nicht. Wenn es um unseren Schutz geht, müssen zuerst die türkischen Luftangriffe gestoppt werden.“

Überhaupt: Mit welchem ‚Recht‘ fliegen türkische Drohnen und Kampfjets eigentlich Angriffe auf ein Flüchtlingslager, das unter dem Schutz der UNO und des Irak steht?, fragen nicht nur der Volksrat des selbstverwalteten Flüchtlingskamps und kurdische Kräfte sowie Linke angesichts der langjährigen völkerrechtswidrigen und menschenverachtenden Angriffe seit Langem zurecht. Worauf basiert eigentlich die Öffnung des unter US-Kontrolle stehenden Luftraums über Mexmûr für diese Angriffe auf ZivilistInnen? Denn, ohne Einwilligung und grünes Licht für die türkische Luftwaffe und Armee sind diese dreckigen Manöver (inklusive der vorübergehenden Kappung der Stromversorgung des Flüchtlingscamps) nicht möglich – die etwa auch ganze landwirtschaftliche Anbauflächen Mexmûrs inmitten der ansonsten vorrangig steinigen und wüstenartigen Landschaft zerstört haben. Die Absicht hinter den Angriffen hingegen ist eindeutig: Damit soll gezeigt werden, dass alle Kurdinnen und Kurden, die mit ihrer Sprache, ihrer Kultur und ihren emanzipatorischen Ideen leben, überall angegriffen werden, auch wenn es sich um ZivilistInnen handelt – sind sich die kurdischen Freiheitskräfte einig.

Das Flüchtlingslager Mexmûr – auf halber Strecke zwischen Mossul und Kirkuk

In Mexmûr leben heute rund 12.000 Menschen (darunter Tausende Kinder die in die Staatenlosigkeit hineingeboren wurden), die in den 1990er Jahren aufgrund der Repression und des Spezialkriegs des türkischen Staates gezwungen waren, ihre Dörfer in der Botan-Region in Nordkurdistan – in denen die kurdische Freiheitsbewegung damals große Verankerung und starke Machtpositionen besaß – zu verlassen. Die Türkei reagierte auf den gestiegenen Einfluss der PKK im Frühjahr 1991 mit dem Erlass eines weiteren sog. „Anti-Terror-Gesetzes“, das nicht alleine die PKK, sondern auch alle, die sie unterstützten, zu „Terroristen“ und Angriffszielen des Staates erklärte. In der Folge bombardierte die türkische Armee immer öfter Städte und Dörfer – insbes. auch der Botan-Region – und weitete der türkische Staat die „extralegalen“ Hinrichtungen aus (also gezielte Morde „unbekannter Täter“ im Auftrag des Staates). Die Todesschwadronen und Konterguerilla im Auftrag Ankaras ermordeten daraufhin 1991 hunderte kurdische PolitikerInnen, Ärzte, Anwälte, GewerkschafterInnen und LehrerInnen. Insgesamt wurden in den 1990er Jahren so Tausende und Abertausende KurdInnen, AktivistInnen des kurdischen Freiheitskampfes und Linke extralegal hingerichtet. Die Region stand unter dem totalen Krieg der Türkei mit systematischen Dorfzerstörungen, breiten Bombardierungen, Einsätzen von Spezialeinheiten und dem Wüten der Konterguerillaorganisationen bis hin zu verhängten Lebensmittelembargos. Zahllosen BewohnerInnen blieb nur die Flucht. Ein Großteil von ihnen suchte daraufhin Schutz in den türkischen Metropolen oder in Europa. Ein kleiner Teil flüchtete allerdings nach Südkurdistan. Nach einer mehrjährigen Odyssee und Aufenthalten in verschiedenen Camps, die immer wieder angegriffen wurden, haben sie sich 1998 am Rand der Wüste niedergelassen. Heute ist Mexmûr – das auf halber Strecke zwischen den Städten Mossul und Kirkuk liegt – eine Kleinstadt, die trotz Armut, stetiger Bedrohung und Angriffen ein Ort des Friedens und der kollektiven Selbstbestimmung ist.

Die türkische Regierung bezeichnet das offiziell unter dem Schutz der Vereinten Nationen stehende Flüchtlingslager Mexmûr (arabisch: Machmur) im Nordirak, an dessen Eingang denn auch die Fahne des UN-Flüchtlingshilfswerkes ­UNHCR weht, seit langem als „Militärcamp“ sowie Rückzugsraum der PKK und fordert seine Schließung. Immer wieder kommt es zu tödlichen Angriffen und Bombardierungen Mexmûrs durch die türkische Luftwaffe. Und bereits seit Jahren kämpft Mexmûr mit von der Türkei über das – von Erdoğan als „Brutstätte“ der PKK bezeichnete – Flüchtlingscamp verhängten bzw. erzwungenem rigorosen Embargos. Vor wenigen Jahren drohte er dann offen: Sollte die UNO das Camp nicht „säubern“, werde es die Türkei selbst tun und ließ Mexmûr in einer Drohnenoperation angreifen. Auch danach flog die türkische Luftwaffe immer wieder Angriffe auf das Flüchtlingscamp. Wo aber bleiben der weltweite Aufschrei, die Empörung und die Forderung Ankara zur Raison zu bringen?

Nochmals Mexmûr – das unliebsame Modell demokratischer Selbstverwaltung

Wie über der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien liegen aktuell auch über Mexmûr dunkle Wolken, ja dessen akute Bedrohung. Denn zwar ist Mexmûr– entgegen den kruden Behauptungen Ankaras – mitnichten die „PKK-Zentrale“, wie es die türkische Regierung auch schon nannte. Aber Mexmûr weist eine Art Vorreiterrolle auf, in der Abdullah Öcalans Überlegungen zu direkter, rätebasierter Demokratie und Frauenbefreiung schon seit Jahrzehnten erprobt werden. So sind etwa alle Leitungsfunktionen bereits lange vor der Rojava-Revolution paritätisch besetzt, oder gibt es einen Ko-Bürgermeister und eine Ko-Bürgermeisterin. Diese Inspiration des Lebens durch die Ideen Öcalans an der Südgrenze der Türkei und das Modell der demokratischen Selbstverwaltung in Mexmûr ist der faschistischen AKP/MHP-Regierungskoalition in Ankara ein dermaßen starker Dorn im Auge, dass die Regierung am Bosporus diverse Male auch davor nicht zurückschreckte, das Flüchtlingslager militärisch ins Visier zu nehmen und mittels wirtschaftlichen und Lebensmittelembargo zu erdrosseln zu versuchen. Ein Embargo übrigens, das seit 2019 in dreckiger Kollaboration des autoritären, feudal-konservativen Barzani-Clans (dem sich dem Vernehmen nach auch die PUK gerade wieder annähert) und seines Kompradoren-Daseins, auch von nordirakischen Regionalregierung verhängt wurde.

Linke Parteien und KCK einig – Nicht dem Druck und der Erpressung aus der Türkei nachgeben  

Die unter dem Dach des Unionsrats der Linken Partei Kurdistans zusammengeschlossenen Parteien, die Arbeiterpartei Kurdistans, die Kommunistische Partei Kurdistans und die Demokratische Volkspartei Kurdistans verurteilen die Operation der irakischen Armee entschiedenst und nennen die Militärmission der irakischen Regierung gegen das unter dem Schutz der UN stehende Flüchtlingslager „illegal“. Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) forderte unterdessen die Regierung in Bagdad auf, die Blockade zu beenden und statt auf Militärgewalt und Zwangsmaßnahmen auf Dialog setzen, um etwaige Probleme zu lösen. Die KCK, so auf ANF, „erkennt zwar an, dass Bagdad seinen Pflichten gegenüber Camp Mexmûr bisher fast immer nachgekommen sei – ‚wenn auch nur auf einem minimalen Niveau‘ –, moniert allerdings, dass sich sowohl der Irak als auch die UN in den vergangenen Jahren aufgrund zunehmenden Drucks aus Ankara immer häufiger von ihrer Verantwortung freisprechen würden“.

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