In der Nacht zum Samstag reihte das AKP/MHP-Regime in der Türkei seiner Entzivilisierung der gesellschaftlichen und politischen Lage ein weiteres Stück hinzu: Per Präsidialdekret Recep Tayyip Erdoğans trat das Land aus der Istanbuler Konvention für Frauenrechte aus.
Diese internationale Vereinbarung zur Eindämmung, Bekämpfung und Verhütung von Gewalt an Frauen wurde 2011 vom Europarat ausgearbeitet und auf einem Kongress in der türkischen Metropole verabschiedet, um einen europaweiten Rechtsrahmen zu schaffen. Unter „Gewalt gegen Frauen“ fällt dabei zu Recht nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch geschlechtsspezifische Diskriminierungen, psychische Einschüchterungen oder wirtschaftliche Ausbeutung.
Dass Erdoğan diese erste internationale völkerrechtsverbindliche Konvention gerade inmitten der grassierenden Corona-Pandemie suspendiert, bildet dabei eine besondere Provokation, stieg in dieser die Gewalt an Frauen doch nochmals in all ihren Dimensionen. Entsprechend zählte die Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (KCDP) in der Türkei alleine im vergangenen Jahr 300 Femizide. Und registrierte seit Anfang dieses Jahres weitere 78 Frauenmorde. Hinzu kommen Fälle hunderter Frauen, die auf verdächtige Weise tot aufgefunden worden sind.
Dass der „neue Sultan von Ankara“ von seinem traditionell-konservativen Frauenbild trotz Unterzeichnung der Konvention persönlich und politisch nie abgegangenist, zeigt allerdings schon ein kurzer Rückblick auf seine skandalösen Vorhaben 2016 zur gesetzlichen Legalisierung der Vergewaltigung Minderjähriger durch Heirat (obwohl die in der Türkei 2012 ratifizierte Istanbuler Konvention u.a. gerade auch das Verbot von Vergewaltigung in der Ehe enthält) und die Einführung der Kinderehe von Mädchen ab 12 Jahren. Beides konnte auf Boden breiten Protestes gestoppt werden. Der erstmals 2003 entworfene Gesetzesentwurf zur Strafmilderung bzw. rückwirkenden Straffrei-Erklärung – wenn der Altersunterschied zwischen beiden nicht mehr als 15 Jahre beträgt, das Opfer den Täter nicht angezeigt hat und einer Ehe zustimmt – existiert indes immer noch und liegt nach wie vor in den Schubladen der Regierung und des Parlaments.
Auch gegen die Suspendierung der Istanbuler Konvention entfaltet sich im Land erneut breiter Widerstand. Nicht zuletzt der Linken und der in den vergangenen Jahren einen kraftvollen Aufschwung genommenen Frauenbewegung am Bosporus.
Gleichviel hält dieser reaktionäre Backlash nicht nur in der Türkei Einzug. Auch nicht die Istanbuler Konvention betreffend. So kündigte etwa bereits im Vorjahr die rechts-konservative polnische Regierung an, einen Austritt aus der Vereinbarung anzustreben. Die EU-Länder Ungarn und die Slowakei wiederum haben die Konvention bis heute erst gar nicht ratifiziert. Selbiges gilt auch für Tschechin, Bulgarien, Lettland und Litauen. Und auch in Kroatien nehmen die Kräfte und Bestrebungen eines Austritts zu. Die Empörung über den türkischen Austritt seitens zahlreicher EU-Spitzen ist sonach mehr als berechtigt. Nur dahingehend hat man von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell oder den österreichischen Staatsspitzen bisher noch keinen Aufschrei vernommen.
Zugleich gilt den AKP/MHP-Reaktionären der erneuerten ideologischen „türkisch-islamischen Synthese“ die Istanbuler Konvention zudem auch als Türöffner für die ihnen verhasste LGBTIQ+ Kultur und sonach Affront gegen die „nationalen und religiösen“ Befindlichkeiten des von ihnen repräsentierten islamistischen Turanismus. Diese Facette zeigte sich zuletzt u.a. offen in der als (Mit-)Begründung herangezogenen staatlichen Gewalt gegen die Boğaziçi-Bewegung. Als Rechtfertigung der Angriffe zog die AKP dabei den „Schutz der Familie und der Gesellschaft“ sowie die „Verteidigung der gesellschaftlichen Werte“ gegen die LGBTIQ+ Teile der Boğaziçi-Bewegung heran.
Innenminister Süleyman Soylu nahm deren Aktivitäten bekanntlich zum Anlass, um vier verhaftete Studierende als „LGBTI-Perverslinge“ zu bezeichnen. Nach Schließung des LGBTIQ+-Clubs rühmte sich die Polizeidienststelle schließlich dabei, „LGBTI+-Fahnen sichergestellt“ zu haben, als sei dies ein Indiz oder Beweis irgendeiner Straftat.
Aber auch hier befindet sich das Regime am Bosporus in trauter konservativ-ideologischer Parallele mit anderen weltanschaulich-religiösen Traditionslinien, wie vor wenigen Tagen das jüngste Dekret des Vatikans eindringlich zeigt.
In diesem Kontext eingerahmt, ging auch dem türkischen Aus der Konvention eine von einer religiös-konservativen Plattform losgetretene, mehrmonatige Debatte voraus. Denn auch jene sah in der Istanbuler Vereinbarung eine Gefährdung der „Religion“, „Ehre“ und des „Anstands“.
Dass der AKP-Faschist an den Machthebeln in Ankara just an Newroz Kampfbomber gegen die auch eine Frauenrevolution markierende Rojava-Revolution schickt und den djihadistischen Mörder- und Femizid-Banden in der Region Schützenhilfe leistet, ist indes freilich ein singulärer Tatbestand des AKP/MHP-Regimes in der Türkei.
Auch in Österreich wird vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen seitens der „Europäische Frauensolidarität“ (AKD) zum gemeinsamen massiven Protest dagegen aufgerufen:
Montag, 22. März, 17.00 Uhr, Resselpark/Karlsplatz, Wien