Arbeitszeitfragen sind Machtfragen

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Gastkommentar von Achim Bigus,  Werkzeugmacher,
freigestellter Vertrauenskörper-Leiter der IG Metall bei Volkswagen
Im laufenden Tarifkonflikt in der deutschen Metall- und Elektroindustrie ist zurzeit ein seltsames und lehrreiches Schauspiel zu erleben.

Die IG Metall fordert neben einer Erhöhung der Einkommen um sechs Prozent zum ersten Mal seit über zehn Jahren eine Reduzierung der Arbeitszeiten:

  • Alle IG Metall-Mitglieder sollen einen Rechtsanspruch bekommen auf eine „Wahloption“ für „kurze Vollzeit“ – Verkürzung der individuellen regelmäßigen Wochen-Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden für bis zu zwei Jahre, wobei die abgesenkten Stunden zu Freischichten oder längeren Freizeitblöcken gebündelt („verblockt“) werden können;
  • Diese „kurze Vollzeit“ bezahlen, wie bei Teilzeit, zunächst die Arbeitenden selbst durch entsprechenden Lohnverlust – aber anders als bei Teilzeitarbeit nach dem deutschen Teilzeit- und Befristungsgesetz soll es ein Rückkehrrecht auf Vollzeit geben;
  • Für alle, welche diese „kurze Vollzeit“ in Anspruch nehmen wegen Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen oder besonders belastenden Arbeitszeiten wie Schichtarbeit soll es zudem einen Entgeltzuschuss geben – nicht einkommensabhängig, sondern als Festbetrag, um besonders die unteren Einkommensgruppen vor zu hohen Lohnverlusten durch die kürzere Arbeitszeit zu schützen.

Zumindest der Vorsitzende der IG Metall verbindet diese Forderungen nicht mit der Perspektive einer weiteren Arbeitszeitverkürzung für alle: „Es geht schon lange nicht mehr um die weitere kollektive wöchentliche Arbeitszeitverkürzung. Stattdessen wollen wir den unterschiedlichen Lebenslagen der Menschen gerecht werden: Eltern haben andere Arbeitszeitansprüche als junge Leute, die gerade ausgelernt haben oder von der Hochschule kommen, oder Menschen, die Angehörige pflegen. Ältere wollen flexible Übergänge in die Rente. Mehr Selbstbestimmung und Flexibilität für die Beschäftigten sind unser Ziel.“
Bemerkenswert ist die Reaktion der Unternehmerverbände auf diese eher bescheidenen Forderungen der IG Metall. Sie weisen besonders die Arbeitszeit-Forderungen als „fast unüberbrückbare Hürde“ scharf zurück (Nordmetall-Präsident Thomas Lambusch, WESER-KURIER 04.01.2018). Schon in die erste Verhandlungsrunde starteten sie mit massiven Gegenforderungen, was eher ungewöhnlich ist:

  • Sie wollen mit allen Beschäftigten in Einzelarbeitsverträgen längere Arbeitszeiten als 35 Stunden vereinbaren können, statt wie heute mit maximal 18 Prozent der Belegschaft – also faktisch nicht weniger als die Aufhebung der kollektivvertraglichen 35-Stunden-Woche durch die einzelvertragliche Hintertür;
  • Überstunden-, Schicht- und Nachtzuschläge sollen in vielen Fällen wegfallen;
  • Die maximale Dauer sachgrundloser Befristungen (nach Gesetz 24 Monate) wollen sie per Tarifvertrag verdoppeln.
  • Als Krönung fordern sie ein „gemeinsames Zugehen auf den Gesetzgeber mit dem Ziel einer Anpassung des Arbeitszeitgesetzes“, also Unterstützung der IG Metall für ihre Forderungen nach Kürzung der Ruhezeiten und danach, „dass die tägliche durch eine wöchentliche Maximalarbeitszeit ersetzt… wird“.

Garniert werden diese Forderungen nicht nur mit dem Vorwurf, die Forderung der IG Metall nach einem Entgeltausschuss für Erziehende, Pflegende und Schichtarbeitende sei „rechtswidrig“, sondern mit weiteren Aussprüchen –  manche davon sind wahre Perlen:
„Was habe ich mit den familiären Zuständen der Beschäftigten zu tun?“ – ungeschminkt, ohne Phrasen („liebe Mitarbeiter“!) macht Dr. Volker Schmidt (Hauptgeschäftsführer NiedersachsenMetall) hier klar, dass Verkauf und Kauf der Arbeitskraft für die Beteiligten sehr verschiedene Zwecke verfolgen: geht es dem Verkäufer um die Existenz (mitsamt der „familiären Zustände“), so geht es den Dr. Schmidts um die Quelle des Profits und sonst gar nichts…
„Mehr Geld fürs Nichtstun wird es mit uns nicht geben“ – so kommentierte Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger die Forderung nach einem Entgeltzuschuss bei Kindererziehung oder Pflege. Auch ihm ist zu danken für die Klarstellung, dass es sich bei Erziehung und Pflege aus Unternehmersicht um „Nichtstun“ handelt. Persönlich ist ihm zu wünschen, nie auf Pflegende angewiesen zu sein, die das genauso sehen…
„Es geht nicht, dass der Arbeitnehmer allein entscheidet, wann er wie viel arbeiten will“ – in diesem Satz von Unternehmerpräsident Ingo Kramer erkennt ein Kommentator im „Kölner Stadt-Anzeiger“ (03.01.2018) „ein vordemokratisches Denkmuster“, welches ins 19. Jahrhundert passe. Als sein Bruder im Geiste kritisiert Südwestmetall-Chef Stefan Wolf „Forderungen, die keine Rücksicht auf die betriebliche Organisation nehmen: Es ist aber immer noch die Hoheit des Unternehmers, diese Organisation aufrecht zu erhalten.“
Man sieht: wenn es um Arbeitszeiten geht, sehen die Herren „Sozialpartner“ rot. Dazu noch einmal der erwähnte Kommentator im „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Beim Thema Arbeitszeit verstehen Arbeitgeber keinen Spaß. Die Metall-Unternehmer schon gar nicht. Ökonomisch haben sie zwar längst verkraftet, dass ihnen die IG Metall vor Jahrzehnten die 35-Stunden-Woche abgetrotzt hat. Aber mental haben sie hier noch immer eine nicht heilen wollende, schmerzhafte Wunde. Mediziner nennen dies Phantomschmerz“.
Dies ist sicher einer der Gründe für die aktuelle Verhärtung der Fronten. Ein Blick in die Geschichte der Regelung und Begrenzung von Arbeitszeiten zeigt allerdings: weitere Gründe dafür liegen noch tiefer. Zum einen geht es bei der Arbeitszeit nicht „nur“ um Verteilungsfragen wie beim Einkommen, sondern auch um Verfügungsgewalt und Macht – darauf verweisen die Zitate der Herren Kramer und Wolf.
Zum anderen stehen sich bei diesem Thema zwei unvereinbare Grundpositionen gegenüber. Beide ergeben sich daraus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise die menschliche Arbeitskraft zur Ware geworden ist, welche aber Besonderheiten gegenüber anderen Waren aufweist: Der Unternehmer „behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich (…) zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd. I., MEW 23, S. 249)
Marx folgert daraus: „Es findet hier also eine Antinomie“ (ein Widerstreit von Gesetzen) „statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. (…) Die Schöpfung eines Normalarbeitstages ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkrieges zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse.“ (Ebenda, S. 249, S. 316).
Achim Bigus

Lesenswert:

Das Kapital, Band 1, Achtes Kapitel, Der Arbeitstag, 1. Die Grenzen des Arbeitstags, MEW 23, S. 245 – 249, http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_1; sowie 7. Der Kampf um den Normalarbeitstag. Rückwirkung der englischen Fabrikgesetzgebung auf andre Länder, MEW 23, S. 315 – 320, http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_7

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