150 Jahre Rosa Luxemburg: Erschütternde politische Orkane

Ein Kommentar von Arnold Schölzel aus Unsere Zeit

Im Frühjahr 1915 schrieb Rosa Luxemburg im Berliner Frauengefängnis das Ergebnis ihres Nachdenkens über die Ursachen der Katastrophe des Vorjahrs nieder. Am 4. August 1914 hatte die SPD-Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zugestimmt und die Sozialistische Internationale zusammenbrechen lassen. Die SPD hatte auch nicht gegen den verbrecherischen Überfall deutscher Truppen auf Belgien am selben Tag protestiert und sich in den Augen vieler Zeitgenossen mit beidem aus der Zivilisation verabschiedet.

Der Kampf gegen Krieg als Programm

Es ging nicht um Taktik, sondern – so sahen es die marxistischen Kriegsgegner aller Länder – um Weltgeschichte: Der Kampf um den Frieden war zum Hauptinhalt des proletarischen Klassenkampfes geworden. Rosa Luxemburg schrieb in ihrem Manuskript, das 1916 unter dem Pseudonym „Junius“ erschien: „Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluss in die Waagschale wirft … Und sollte die heutige Führerin des Proletariats, die Sozialdemokratie, nicht zu lernen verstehen, dann wird sie untergehen, um Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind.“ Aus ihrer Sicht, die der Lenins entsprach, löste, wer seine Partei zum Anhängsel bürgerlicher Kriegsparteien machte, die proletarische Klassenpartei auf. Die mehr als 60-jährige Geschichte selbstständiger Arbeiterparteien war beendet, es galt, sie neu zu gründen – in einer neuen Partei, in einer Dritten Internationale. Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg sollte zu deren Programm werden.

Sozialdemokraten als NATO-Versteher

Die Verhinderung eines weiteren Weltkrieges blieb nach ihrer Auflösung und nach dem Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg Kern kommunistischer Politik. Rosa Luxemburg oder Lenin wussten noch nichts von der Atombombe, ihre Analysen von Imperialismus und Reformismus schufen aber die geistigen Instrumente, um heute zu begreifen, welche gesellschaftlichen und politischen Kräfte mit der Vernichtung der Menschheit kalkulieren. Die Hoffnung, einen Atomkrieg führbar zu machen, prägt die NATO seit ihrer Gründung, ist ihre Existenzgrundlage. Die 2016 in Warschau von einem Gipfel des Kriegspaktes beschlossene neue Abschreckungsdoktrin, das von der Trump-Regierung 2018 formulierte Atomkriegskonzept, das anlasslose Nuklearschläge vorsieht, sprechen eine klare Sprache. Dass SPD-Minister heute an der Planung des Irrsinns beteiligt sind, ist keine Nachricht mehr, sondern Normalität. Die Partei „Die Linke“ strebt nach Aussagen einer ihrer neuen Vorsitzenden vehement in die Bundesregierung. Deren Verpflichtung zur „nuklearen Teilhabe“ ist bindend.

Der Gegensatz von Imperialismus und Arbeiterklasse, von Imperialismus und Menschheit, ist unüberbrückbar, er ist antagonistisch. Um 1900 steckte er noch in den Anfängen. Es war Rosa Luxemburgs geniale Tat, ihn lange vor seiner Entfaltung erkannt und vor ihm gewarnt zu haben. Das war ihr weltanschaulicher und politischer Ausgangspunkt, mit dem sie im Mai 1898 in die deutsche Arbeiterbewegung eintrat. Sie hat ihn im Laufe der folgenden 20 Jahre präzisiert und schärfer gefasst, das Fundament blieb.

Luxemburg war mit ihrer Auffassung in der SPD noch nicht in der Minderheit. Kurz vor ihrer Ankunft in Berlin hatte zum Beispiel Wilhelm Liebknecht (1826 bis 1900) in einer Reichstagsdebatte die deutsche Kolonialpolitik in China angeprangert und grundsätzlich gegen sie Stellung genommen. Im März hatte das Kaiserreich die Bucht von Kiautschou (eine Kiautschoustraße gibt es in Berlin-Wedding gleich neben Pekinger platz und Samoastraße bis heute), die bereits im November 1897 von deutschen Marineeinheiten besetzt worden war, für 99 Jahre von China gepachtet. Fast gleichzeitig sicherten sich Russland, Großbritannien und Frankreich ebenfalls chinesische Territorien. Es war eine imperialistische Aktion – Vorläufer der gemeinsamen „China-Expedition“ im Jahr 1900. Liebknecht erklärte unter anderem, er erblicke hier den „Anfang einer Politik, die Deutschland nur verderblich werden kann“. Die Masse des deutschen Volkes habe „nicht das geringste Interesse“ am Kolonialismus, allerdings sei „durch eine beispiellose Reklame“ künstlich „Begeisterung“ herbeigeführt worden. Die „Redensart“ dazu sei: „Der deutsche Handel bedarf zu seinem Schutze einer Flotte, und die Flotte bedarf solcher festen Stationen, wie sie in Kiau-tschou beabsichtigt sind.“ In der Gesellschaft liege offenkundig ein „Drängen zur Kolonialpolitik“: „Der Kapitalismus muss, nachdem er die Länder, in denen er herrscht, ausgeraubt hat, seine Räubereien weiter ausdehnen.“

Wer frage, wozu der Lärm in Asien und anderswo veranstaltet werde, erhalte von der Regierung die Antwort: „Weltpolitik“. Das sei eine Politik, die sich „in alles, was in der ganzen übrigen Welt vorgeht“ einmische, die sich einbilde, „die Weltvorsehung zu spielen“, die wolle, „dass Deutschland der Weltgendarm sein soll, der überall dafür zu sorgen hat, dass der deutsche Einfluss maßgebend ist, und Ruhe und Ordnung herrscht.“ Deutschland habe sich damit für das Ziel des zaristischen Russland entschieden, China zu zerstückeln.

Gestückelter Sozialismus – elastischer Kapitalismus

Es gab aber auch ganz andere Stimmen, vor allem die Eduard Bernsteins. Er hatte seit 1896 in der theoretischen Zeitschrift der SPD, der „Neuen Zeit“, in einer Artikelserie den „Revolutionarismus“, das heißt den Marxismus, aus der Partei vertreiben und durch Reformen ersetzen wollen. In Heft 18 der „Neuen Zeit“, im Januar 1898, brachte er sozusagen zum 50-jährigen Jubiläum des „Manifests der Kommunistischen Partei seine Auffassungen auf den Punkt, als er behauptete, dass „die Beispiele ernsthafter Versuche, den wissenschaftlichen Sozialismus wissenschaftlich zu betätigen, noch sehr vereinzelt“ seien. Die Annahme Friedrich Engels‘, dass Kartelle, Schutzzölle und Trusts zwar die klassischen Handelskrisen des 19. Jahrhunderts verzögern könnten, zugleich aber „den Keim zu weit gewaltigeren, künftigen Krisen in sich“ trügen, kommentierte Bernstein mit den Worten, dagegen scheine ihm „mancherlei zu sprechen“. Und zählte auf: „die Elastizität des modernen Kreditwesens bei enorm anschwellendem Kapitalreichtum, vervollkommneter Mechanismus des Verkehrs in allen seinen Zweigen – Post- und Telegrafendienst, Personen- und Güterverkehr, die Ausbildung der Handelsstatistik und des Nachrichtendienstes, die Ausbreitung der Organisationen der Industriellen, das sind die Tatsachen“. Es spreche eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass „wir mit dem Fortschritt der wirtschaftlichen Entwicklung für gewöhnlich überhaupt nicht mehr mit Geschäftskrisen der bisherigen Art zu tun, und alle Spekulationen auf solche als die Einleiter der großen geschichtlichen Umwälzung über Bord zu werfen haben werden“. Darüber hinaus sei die Vorstellung von „einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems“ nebelhaft und werde unwahrscheinlicher. Denn die Differenzierung der Industrie erhöhe die Anpassungsfähigkeit des Systems. Der Sozialismus liege daher in „ziemlich weiter Ferne“, allerdings gebe es durch Ausdehnung staatlicher Kontrolle über die Wirtschaft, durch Ausbildung demokratischer Selbstverwaltung eine „stückweise vollzogene Verwirklichung des Sozialismus.“

Bernsteins Fortschritt durch Kolonialismus

Den gestückelten Sozialismus im differenzierten Kapitalismus fand Bernstein gut. In diesem Zusammenhang formulierte er die klassische Formel des Reformismus: „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ Darunter verstehe er sowohl „die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d. h. den sozialen Fortschritt“ als auch die Agitation und Organisation zu dessen „Bewirkung“. Selten zitiert wird, was auf diese Sätze folgt, obwohl es entlarvender ist als die Thesen von Ausweitung der Demokratie im Kapitalismus und Einführung des Sozialismus durch Genossenschaften: Bernstein bekennt sich nämlich zum „Fortschritt“ durch Kolonialismus. Selbstverständlich werde die Sozialdemokratie „jedem Kolonialchauvinismus und überhaupt jedem Chauvinismus entgegentreten“, werde die „Vergewaltigung und betrügerische Ausraubung wilder oder barbarischer Völker bekämpfen“, aber: „sie wird auf jeden Widerstand gegen ihre Einbeziehung in die Geltungssphäre zivilisatorischer Einrichtungen als zweckwidrig verzichten und ebenso von jeder grundsätzlichen Bekämpfung der Erweiterung der Märkte als utopistisch Abstand nehmen.“ Ausdehnung der Märkte und der internationalen Handelsbeziehungen sei „einer der mächtigen Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen“. So sehr Bernstein die historisch-materialistische Sichtweise des „Manifests“ hasste, so gern griff er auf die Auffassungen von Marx und Engels über die revolutionäre Bedeutung des kapitalistischen Weltmarktes zurück. Dass Kartelle, Trusts und Monopole, die Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital, eine neue geschichtliche Phase reaktionärer Herrschaft und Kriege bedeuteten, sah er nicht, er machte vielmehr „sozialen Fortschritt“ aus.

Der Blick Rosa Luxemburgs auf den Kapitalismus um 1900 war grundlegend anders. Im Dezember 1898 formulierte sie zum Beispiel in einem Artikel über die Zurückdrängung der englischen Industrie auf dem Weltmarkt: „Und zwar sind die beiden Länder, die sich nun als erstklassige Potenzen um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt bewerben – Deutschland und die Vereinigten Staaten.“ Das Ergebnis des Krieges der USA gegen Spanien 1898 kommentierte sie wenig später mit den Worten, die Vereinigten Staaten hätten damit aufgehört, „eine nur amerikanische Macht zu sein, sie sind zu einer Weltmacht geworden“ und betrieben nun eine „Politik der Annexion in fremden Weltteilen“. Und sie griff, ohne den Namen Bernstein zu nennen, diesen direkt mit der Bemerkung an: „Wie komisch nimmt sich aber angesichts dieser gewaltigen Umwälzungen auf der anderen Hemisphäre, die einen neuen Wetterwinkel erschütternder politischer und ökonomischer Orkane geschaffen haben, das superkluge Räsonnement derjenigen aus, die da auf Grund eines Jahrzehnts deutscher Statistik der Welt verkünden, nun sei der Bestand der kapitalistischen Ordnung für unabsehbare Zeit gesichert?“ Analog geißelte sie im Januar 1899 grundsätzlich die Relativierung des Kolonialismus, wie sie Bernstein vorgenommen hatte. Die Arbeiterklasse, so Rosa Luxemburg, sehe in der Kolonialpolitik „die kräftigste Stütze des Marinismus und des Militarismus, der reaktionären inneren Politik, ferner der Völkerfeindschaft, der internationalen Reibungen und Kriege, sie verurteilt endlich in der Kolonialpolitik prinzipiell die gewaltsame Beherrschung fremder Länder und fremder Völker.“

Rosa Luxemburg zog die Konsequenz

Aus Analysen dieser Art zog Rosa Luxemburg wie kaum jemand anders in der Sozialistischen Internationale die Konsequenz: Was hier begann, konnte zu katastrophalen Folgen für die Arbeiterklasse und die Welt führen. Entsprechend gehe es für die sozialistische Bewegung, erklärte sie auf dem Kongress der Internationale im September 1900 in Paris, nicht einfach um die Wiederholung früherer Beschlüsse, sondern darum, „etwas Neues zu schaffen gegenüber der neuen Erscheinung der Weltpolitik“. Der Kolonialismus habe in den vergangenen sechs Jahren vier Kriege und damit einen Umschwung in der Weltpolitik herbeigeführt, nun müssten die Arbeiterparteien gemeinsam reagieren: „Derselbe Militarismus, Marinismus, dieselbe Jagd nach Kolonien, dieselbe Reaktion überall und vor allem eine permanente internationale Kriegsgefahr oder wenigstens ein Zustand permanenter Animositäten, in den alle wichtigen Kulturstaaten gleichmäßig verwickelt sind.“

Durchgesetzt hat sich in den sozialdemokratischen Parteien die Gesundbeterei des Kapitalismus durch Bernstein und seine reformistischen Anhänger – den Weltkriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen, den Systemkrisen zum Trotz. Ist Rosa Luxemburg deswegen gescheitert? So wenig wie der Sozialismus. Sie hat ein klassisches Muster des Kampfes gegen die „reformistische Idiotie“ (Dietmar Dath) geliefert.

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