Offener Brief der IG24 – Interessengemeinschaft der 24-Stunden-Betreuer:innen betreffend die vorgeschlagenen Maßnahmen in der Pflegereform II

Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, richtete sich die IG24 auf ihrer gestrigen Protestveranstaltung zudem mit nachstehendem Offenen Brief an die zuständigen Ministerien.

Sehr geehrter Herr Bundesminister Rauch,

sehr geehrter Herr Bundesminister Kocher,

am 24. Mai 2023, hat das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) den zweiten Teil der Pflegereform angekündigt. Dieser Teil verspricht „zahlreiche Verbesserungen für Pflegende und Pflegebedürftige“. Es finden sich darin jedoch keinerlei Verbesserungen der derzeitigen katastrophalen Arbeitsbedingungen für 24-Stunden-Betreuer:innen.

Das im Vorjahr präsentierte Maßnahmenpaket von BMSKGPK weckte die Hoffnung auf ein geregeltes und sozial abgesichertes Arbeitsmodell, denn ein Ziel war die “Attraktivierung der unselbständigen Beschäftigung in der 24-Stunden-Betreuung” (Maßnahme 20: „Durch eine Verbesserung der arbeitsrechtlichen Bedingungen soll eine Attraktivierung der unselbstständigen Beschäftigung der 24h-Betreuung geschafft werden. [..] Ein konkretes Modell wird gemeinsam mit Sozialpartner:innen und Stakeholder:innen erarbeitet und soll im Herbst 2022 umgesetzt werden.“)

Laut den aktuellen Maßnahmen in der Pflegereform II dürfen 24-Stunden-Betreuer:innen nun aber ausschließlich als Selbstständige bis zu drei Personen im selben Haushalt betreuen! Bereits jetzt geht die 24-Stunden-Betreuung bzw. Pflege von ein oder zwei Personen mit exzessiven Arbeitszeiten und enormer Arbeitsüberlastung einher. So zeigt beispielsweise eine Studie[1] im Auftrag von der Gewerkschaft Vida die berufliche Belastung in dieser Branche auf: 77,8% der befragten Betreuer:innen fühlen sich durch die Krankheit ihrer Klient:innen belastet, 71,9% leiden unter chronischem Schlafmangel. Dieselbe Studie zeigt, dass 56,5% der befragten Betreuungskräfte ein unselbständiges Beschäftigungsverhältnis bevorzugen würden. Eine Ausweitung der Betreuung auf drei Personen, würde die Belastung nur weiter erhöhen. Gleichzeitig bleiben 24-Stundenbetreuer:innen durch das System der (Schein-)Selbstständigkeit weiterhin vom Schutz durch das reguläre Arbeitsrecht ausgeschlossen.

Schon jetzt stehen wir durch die deutlich stärkere Position von Vermittlungsagenturen und Betreuungsfamilien unter Druck, weil wir unsere Arbeitsbedingungen und Honorare de facto nicht frei aushandeln können. Doch statt geregelte Anstellungsverhältnisse mit arbeitsrechtlichem Schutz zu ermöglichen, droht nun durch die neuen Maßnahmen eine weitere Verschlechterung unserer Arbeitssituation!  

Einige geplante Maßnahmen aus der Pflegereform II sind begrüßenswert, aber weisen wir darauf hin, dass:  

  • die Erhöhung der Förderung für 24-Stunden-Betreuung für die Angehörigen keine Garantie für eine bessere Honorierung der 24-Stunden-Betreuer:innen ist. 
  • der Ausbau von Beratungsstellen keine öffentliche Kontrolle der Arbeitsbedingungen oder Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen ersetzt. 
  • mehr Hausbesuche nicht die Umsetzung der gesetzlich verpflichtenden, aber praktisch kaum umgesetzten Delegationen von Pflegetätigkeiten durch medizinisches Personal ersetzen. 

 Die IG24 und ihre Partner:innen fordern: 

  • Die Implementierung alternativer Betreuungsformen im Rahmen gesetzlich geregelter Anstellungsverhältnisse durch die öffentliche Hand.
  • Die Erhöhung der Förderung für 24h-Betreuung für die Anstellung der Betreuungskräfte, um eine Anstellung durch Familien attraktiver zu machen. 
  • Die angekündigte Betreuung von drei pflegebedürftigen Personen in einem Haushalt durch eine Betreuungskraft muss nur im Rahmen eines Anstellungsmodells, flankiert durch Entlastungsangebote (Pausenregelung etc.) organisiert werden.Zur Vermeidung von Überlastungssituationen darf die Pflegestufe der betreuten Personen nicht Stufe vier übersteigen.
  • Die Implementierung eines Kontrollsystems zur Überwachung der Tätigkeit von Vermittlungsagenturen in Bezug auf das Verhältnis zu den 24-Stunden-Betreuer:innen sowie zu Überwachung der Arbeitsbedingungen (Arbeitsinhalte, Unterbringung, Verpflegung usw.).
  • Den Zugang zu Einrichtungen wie der Gleichbehandlungsanwaltschaft und Frauenschutzeinrichtungen auch für selbstständige 24-Stunden-Betreuer:innen im Fall von (sexueller) Gewalt.
  • Entlastungsangebote für 24-Stunden-Betreuer:innen vergleichbar mit denen für pflegende Angehörige.
  • Ein an diese Branche adaptiertes Pensionsmodell, vergleichbar mit dem der pflegenden Angehörigen, zur Vermeidung von Altersarmut der 24-Stunden-Betreuer:innen.
  • Die Einführung einer öffentlich subventionierten Basisausbildung für 24-Stunden-Betreuer:innen. 
  • Die Abschaffung der durch die Pflegereform II eingeführten Möglichkeit für Vermittlungsagenturen, weitere Gebühren für die Abwicklung von Rechnungen von Angehörigen und 24-Stunden-Betreuungskräften verlangen zu dürfen. Beide Gruppen zahlen schon jetzt hohe Provisionen.

Im Namen von 24-Stunden-Betreuer:innen und Unterstützer:innen des offenen Briefes ersuchen wir Sie, die strukturellen Probleme in der 24-Stunden-Betreuung zur Kenntnis zu nehmen und mit uns, den betroffenen 24-Stunden-Betreuungskräften, in Dialog zu treten und die Probleme im Rahmen der Pflegereform II durch die oben vorgeschlagenen Maßnahmen anzugehen. 

Gute Pflege und Betreuung braucht gute Arbeitsbedingungen!


[1] Die Situation der 24-Stunden-Betreuungskräfte in Österreich; Autor:innen: Michaela Schaffhauser-Linzatti, Gerhard H. Gürtlich, Alexander Reichmann. ISBN: 978-3-903207-69-1 

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