Im Würgegriff des „neuen Sultan von Ankara“

Mit der im Mai im türkischen Parlament durchgedrückten Aufhebung der Abgeordnetenimmunität von mehr als einem Viertel der ParlamentarierInnen und dem offenen präsidialen Gegenputsch auf den gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs führt der immer autoritärer agierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das Land am Bosporus geradewegs auf den Weg einer erneuten Institutionalisierung des Faschismus in Form einer offen terroristischen Präsidialdiktatur.

(Vorabdruck aus KOMpass 13/2016)12_SUR

Im Würgegriff des entfesselten Krieges, Staatsterrors und Repression

Um dies zu erreichen hatte der „neue Sultan von Ankara“, das Land in einen nationalistisch-chauvnistischen Taumel jagend, mit Rückendeckung der NATO-Partner und deren erklärter „starken Solidarität“ bereits letzten Sommer seinen schmutzigen Krieg gegen Kurdistan, die kurdische Befreiungsbewegung und revolutionäre Linke entfesselt, und im Anschluß der Presse und jeglicher Opposition den Krieg erklärt und einen faktischen Ausnahmezustand über das Land verhängt. Städte wie Diyarbakir, Silopi, Cizre, Silvan, Nusaybin, Van … wurden militärisch belagert, „gesäubert“ und teils regelrecht dem Erdboden gleichgemacht. Tausende fielen dem türkischen Staatsterror seither zum Opfer. Hunderttausende wurden vertrieben bzw. sind auf der Flucht. Unzählige Linke und GewerkschafterInnen sitzen in den Gefängnissen ein. Hunderte kritische Journalisten und UniversitätslehrerInnen verloren ihren Job, Dutzende von ihnen in Farce-Prozessen verurteilt. Begleitend wurde die Justiz regimetreu umgebaut.
Parallel eskaliert das AKP-Regime den Krieg gegen die Bevölkerung Kurdistans immer weiter und unternimmt eine bevölkerungspolitische Neuordnung. So wurde etwa nahezu das gesamte Altstadtviertel Sur der Großstadt Diyarbakir, eine kurdische Hochburg, nach dessen militärischer Schleifung staatlich enteignet und soll anschließend neu besiedelt werden. Der mittlerweile geschasste Ministerpräsident Davutoglu hat das Regime dahingehend auch unumwunden in die Linie des Franco-Faschismus gestellt und verglich Sur mit Toledo im Spanischen Bürgerkrieg, der symbolträchtigen von den Franco-Faschisten belagerten und eingenommenen Stadt.
Gleichzeitig bahnt sich an einer weiteren Front drohendes Unheil an. Die religiöse, alevitische Minderheit in der Türkei war bereits zeit ihrer Geschichte immer wieder blutigen Massakern ausgesetzt. Aktuell prüft das Regime Berichten zufolge Masseninternierungslager in Maras, Sivas, Malatya und Dersim, um gegen die ihren Glauben und Widerstand gegen Unrecht und Unterdrückung nicht aufgebenden AlevitInnen eine Strafexpedition zu entfesseln und sie in die Knie zu zwingen.

Rassenhygienische Fabulierungen

Missliebigen türkischstämmigen KritikerInnen im Ausland wiederum wird in rassenhygienischer Manier zu Leibe gerückt und werden von A bis Z dem Terrorismusvorwurf unterzogen. Den türkischstämmigen deutschen Bundestagsabgeordneten, die der Resolution über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich zugestimmt haben, attestierte der Präsident umgehend ein „verdorbenes Blut“. „Manche sagen, das seien Türken. Was denn für Türken bitte?“, wetterte Edogan und forderte „ihr Blut … durch einen Labortest“ untersuchen zu lassen. Denn: „Von wegen. Sie haben nichts mit Türkentum gemein. Ihr Blut ist verdorben.“ Und so dienten sie dem Rassehygieniker vom Bosporus denn auch durch die Reihen der PKK als verlängerter Arm. „Es ist sowieso bekannt, wessen Sprachrohr sie sind“: „Von der separatistischen Terrororganisation in diesem Land sind sie die Verlängerung in Deutschland.“

Kalter Staatsstreich

Mit der Aufhebung der Abgeordnetenimmunität versucht sich Erdogan der letzten parlamentarischen Barriere seines Präsidial-Projekts zu entledigen. Ein kalter Putsch, der sich vor allem gegen die linke pro-kurdische HDP richtet, die seinem Präsidialregime bisher den Weg versperrte. 50 der 59 HDP-Abgeordneten droht mit diesem Coup nun der Verlust ihrer Abgeordnetenmandate und Gefängnis. Die Fraktion könnte jetzt beinahe geschlossen in Untersuchungshaft wandern. Mit den Mandatsverlusten der Abgeordneten, mit denen auch ihre Partei die Sitze im Parlament verliert, kann die HDP nunmehr de facto aus dem Parlament gefegt werden.

Die schmähliche Rolle der Sozialdemokratie

Eine abermals erbärmliche, sich damit in die unsäglichste Linie des Sozialdemokratismus einreihende Rolle, gab diesbezüglich die kemalistische, sozialdemokratische orientierte CHP ab. So war zwar der größte Teil ihrer Abgeordneten gegen die putschistische Immunitätsaufhebung. Und auch deren Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu erblickte in der Aufhebung ein gegen die Verfassung gerichtetes Mittel zur Ausschaltung des Parlaments – was ihn aber nicht daran hinderte zu erklären, dass diese trotzdem seine Zustimmung habe.
Ein Vorgang, der fast unwillkürlich an geschichtliche Erfahrungen gemahnt. So hat denn auch der deutsche Journalist Roland Etzel in einem Kommentar auf Parallelen den Finger gelegt: „Es ist eine Form der Entmündigung, was das türkische Parlament … an sich selbst verübt hat. Ohne die Singularität deutscher Historie in Zweifel zu ziehen, erinnert die Abstimmung von Ankara fatal an ein gewisses Ermächtigungsgesetz unseligen Angedenkens. Auch die Abgeordneten der türkischen Regierungspartei AKP haben ihrem Gebieter auf dem Staatspräsidenten-Thron ihr politisches Mandat ohne Not als eine Art Morgengabe kredenzt – Erdogan, befiehl …“.
„Noch trauriger als die politische Selbstentleibung der AKP-Mandatsträger ist aber“, so Etzel zurecht weiter, „dass auch die noch immer als sozialdemokratisch orientiert geltende Volkspartei – bis dato eigentlich auch Opposition – auf ganzer Linie einknickte und damit dieser schaurigen Inszenierung erst zum Erfolg verhalf. Die CHP-Vertreter hoben damit die Hand gegen jene HDP, mit deren gewählten Vertretern man noch vor einem halben Jahr bereit war, eine Regierung gegen die AKP zu bilden, wenn es denn prozentual gereicht hätte. Den HDP-Abgeordneten droht nun das Gefängnis.“

Schritt für Schritt in die offene Präsidialdiktatur

Mit diesem Handstreich kommt der für seine dreckige Flüchtlingsabwehr von der EU mit Milliardenzahlungen dotierte Schlächter am Bosporus auch der benötigten Zweidrittelmehrheit für die Einführung seines Präsidialregimes näher. Faktisch freilich agiert der AKP-Führer bereits im Stile eines Präsidialdiktators. Und brüstet sich dessen auch offen. So bekundete er dahingehend denn auch bereits letzten August vor Anhängern: „Ob man es akzeptiert oder nicht, das Regierungssystem der Türkei hat sich verändert. Was wir nun tun sollten, ist die rechtlichen Rahmenbedingungen unserer Verfassung dieser De-Facto-Situation anzupassen.“ Denn: „Es gibt einen Präsidenten mit De-Facto-Macht in unserem Land, nicht einen symbolischen“, so Erdogan weiter – sein Präsidialregime später unverhohlen mit am Nazi-Faschismus zu inspirieren: „Ein Präsidialsystem (kann) sehr gut bestehen. Es gibt … auch Beispiele in der Geschichte. Sie sehen das Beispiel dazu in Hitler-Deutschland.“
In dieselbe Kerbe schlägt auch sein als Ministerpräsident neu inthronisierter Handlanger Binali Yildirim. Der zügige Umbau des Landes in ein Präsidialregime habe „oberste Priorität“. Und  versicherte  in Loyalitätsbekundung an Erdogan gerichtet: „Dein Weg ist unser Weg, deine Mission ist unsere Mission“.

Putschversuch und Gegenstaatsstreich

Eine „Mission“, der der gleichermaßen reaktionäre wie dilettantische Putschversuch seitens Teilen des Militärs nochmals offen in die Karten spielte. Davon im Vorfeld informiert, nutzt das AKP-Regime die Gunst der Stunde als „Geschenk Gottes“, wie Erdogan unverblümt erklärte, um zum Gegenschlag auszuholen und den Staat von „Viren“ und „Metastasen“ zu „säubern“. Begleitet von Massen-Inszenierungen und einem aufgewühlten islamistisch-faschistischen Mob wie Straßenterror hat das Regime nach offenkundig seit langem vorbereiteten schwarzen Listen Zehntausende aus Armee und Polizei, Justiz, Verwaltung und Beschäftigte des Bildungs- und Wissenschaftsbereichs abgesetzt, suspendiert, entlassen, verhaftet … Tausende Richter und Staatsanwälte werden durch „noch zuverlässigere“ ausgetauscht. Oppositionelle Regionalgouverneure massenhaft abgesetzt.

Die dreckigen Handlangerdienste des Westens – ATIK auf der Anklagebank

Währenddessen wird in unverhohlener Kumpanei mit der Türkei, ihren staatsterroristischen Sicherheitsapparaten und ihrer korrupten Justiz dem Widerstand gegen das Regime auch in Deutschland der Prozess gemacht. Nach 14 Monaten Isolationshaft begann am 17. Juni als „Auftragsarbeit für die Türkei“, wie es eine der AnwältInnen auf den Punkt brachte, in München nach dem berüchtigten „Terrorismus“-Paragraphen 129 a und b der Prozess gegen die inhaftierten ATIK-AktivistInnen, dessen einzige Funktion in der Kriminalisierung kämpferischer migrantischer Strukturen wie des revolutionären Befreiungskampfes liegt. Aber sowenig sich berechtigter Widerstand durch justizielle Repressionen brechen lässt, so ungebrochen bieten auch die Angeklagten der Politjustiz die Stirn – gemeinsam mit den sich an den jeweiligen Verhandlungstagen um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen  zahlreich einfindenden MitstreiterInnen und Freunden. „Mit erhobener Faust“, so sah sich auch der bayrische Rundfunk zu berichten genötigt, hatten bis dato noch keine Angeklagten den Schwursaal des OLG München betreten, um zu Prozessbeginn zusammen mit hunderten GenossInnen und Freunden im und außerhalb des Gerichts lautstark zu „skandieren, die staatliche Gewalt wird uns nicht klein kriegen“!

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