Der kühne Vorstoß in Portugal: 50 Jahre Nelkenrevolution

Die portugiesische Nelkenevolution 1974, deren 50. Jahrestag diese Woche bevorsteht, war in den Worten ihres Chronisten und Wegbegleiters Klaus Steiningers: „eines der herausragendsten Ereignisse der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, stellte sie doch den bisher weitreichendsten und tiefgehendsten antikapitalistischen Vorstoß im Westen des Kontinents dar. Sie begann mit der Erhebung einiger von antifaschistischen Offizieren geführter Militäreinheiten, die den in Angola, Mocambique und Guinea-Bissau geführten Kolonialkriegen ein Ende setzen wollten. Noch in der Stunde des Aufstands eilten Hunderttausende Portugiesen den rebellierenden Militärs unter roten Fahnen zu Hilfe und verliehen dem einsetzenden Wandel damit eine breite revolutionär-demokratische Dimension. Beide Komponenten, die Massenbewegung, in der die industrielle Arbeiterklasse und vor allem das Landproletariat des Südens sehr schnell ein spezifisches Gewicht errangen, und die durchaus heterogene Bewegung der Streitkräfte (MFA) waren für entscheidende Monate nicht voneinander zu trennen.“

Das vereinbarte Zeichen des Aufstands war das seither zu Recht in keinem Kanon des Liedguts des Antifaschismus und der Arbeiterbewegung fehlende „Grandola, Vila Morena“, das in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1974 gesungen von seinem antifaschistischen Komponisten und Texter, Jose Afonso, über den katholischen Rundfunkt ausgestrahlt wurde.

„Portugal war in den 1970er Jahren die letzte verbliebene europäische Kolonialmacht und zugleich ein hochgradig von ausländischem Finanzkapital abhängiges Land“, so wiederum Beate Landefeld, die politische Lage am Vorabend der Revolution skizzierend.„Die mit dem Auslandskapital verflochtene innere Oligarchie aus Großgrundbesitz und Unternehmerdynastien herrschte seit 1926 mittels eine klerikal-faschistischen Regimes, an dessen Spitze seit 1932 Antonio de Oliveira Salazar stand, der [aufgrund seiner Erkrankung, Anm.] 1968 durch Marcelo Caetano abgelöst wurde.“

„Die Oligarchie bereicherte sich an der kolonialen und kapitalistischen Ausbeutung. Jede Opposition wurde mit Pressezensur, Gewerkschaftsverbot, Folter und Bespitzelung unterdrückt. Große Teile der Bevölkerung, die Arbeiter der Industriegebiete um Lissabon, die Landarbeiter auf den Latifundien des Alentejo, die Kleinbauern des Nordens, Teile der Mittelschichten lebten in Unsicherheit und oft bitterer Armut.“ „Der Kolonialkrieg“ gegen die seit Anfang der 1960er Jahre immer weiter erstarkenden antikolonialen Befreiungsbewegungen „verschlang die Hälfte des Staatshaushalts. Er war militärisch nicht zu gewinnen. Das führte zur Spaltung der Oligarchie.“ Am 25. April stürzten schließlich „junge Offiziere, unterstützt von der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, von Antifaschisten und Linkskatholiken, das Regime.“ „Die rote Nelke in den Gewehrläufen der Soldaten wurde zum Symbol des Aufstands.“

„Auf Basis der gegensätzlichen Interessen“, kam es daraufhin 1974 und 1975 zu scharfen „Klassenkämpfen von oben und von unten, zu Regierungsaustritten und -umbildungen, zu Provokationen und Putschversuchen von rechts, die die Bevölkerung durchkreuzte. Industrie- und Landarbeiter setzten antimonopolistische Maßnahmen und eine Agrarreform durch. Hunderte inländische Großunternehmen, Banken und Versicherungen wurden nationalisiert, brachliegende Länder besetzt, landwirtschaftliche Kooperativen und Produktionskollektive gebildet, die Verstaatlichung von Großgrundbesitz eingeleitet. Guinea-Bissau wurde 1974 unabhängig. 1975 folgten Angola und Mosambik. Der 1. Provisorischen Regierung folgten vier weitere unter dem linken Generals Vasco Goncalves als Premier. Die MFA war nun an der Regierung beteiligt. Jede der Regierungen stand weiter links als die vorige“, so für einen ersten Grobüberblick noch weiter mit Beate Landefeld fortfahrend.

Die portugiesische Revolution stand – wie der quasi parallel erfolgte Sturz der Obristen-Diktatur in Griechenland, in dem sich 1967 eine faschistische Militär-Junta mit dem Segen Washingtons an die Macht geputscht hatte –, zugleich im Fadenkreuz der NATO. Denn: „Dank seiner geostrategischen Bedeutung und des regierungsamtlichen Antikommunismus war Portugal [nicht zu vergessen] Gründungsmitglied der NATO.“

Aber natürlich, wer im deutschsprachigen Raum der Nelkenrevolution gedenkt, ist allemal angehalten, geboten auf Klaus Steiniger, dem als damals ständiger ND-Korrespondent in Portugal zugleich „Chronisten der Nelkenrevolution“,zu rekurrieren.Allen eingehender Interessierten sei denn auch sein ebenso packendes wie nach wie vor erhältliches Buch „Portugal im April“, Berlin 2011, ans Herz gelegt. Im hiesigen Kontext müssen wir uns indes auf einen stark gekürzten Artikel beschränken, mittels dessen wir dem bekannten Weggefährten des „kühnen Vorstoßes“ aber selbst das Wort geben möchten:

Doppelherrschaft — Putsch

Zunächst galt es, scharfe Klippen zu passieren. Nach dem 25. April hatten die in hierarchischem Denken erzogenen jüngeren Offiziere, deren ranghöchster der damalige Oberstleutnant Vasco Goncalves war, das Rampenlicht fälschlicherweise einer Gruppe von Generälen überlassen, die — mit Ausnahme Admiral Rosa Coutinhos — Vertreter des profaschistischen Flügels der Streitkräfte waren. Sie bildeten einen sogenannten Militärrat der Nationalen Errettung und machten den früheren Generalstabschef Antonio de Spinola zum Provisorischen Präsidenten der Portugiesischen Republik. [Marcelo Caetano flüchtete parallel nach Brasilien; Salazar war bereits 1970 gestorben, Anm.] Er berief die 1. Provisorische Regierung unter dem Bankier und Großindustriellen Professor Palma Carlos, der erstmals in der portugiesischen Geschichte auch zwei Kommunisten, darunter Generalsekretär Alvaro Cunhal, als Minister angehörten. Zwischen der Militärjunta und dem zivilen Kabinett entstand eine Art Doppelherrschaft. Da sich aber die Massen — vor allem im Süden und in den urbanen Zentren — das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit erkämpft hatten, gehörte die Straße dem Volk. So scheiterten alle Versuche der Reaktion, den sich entfaltenden revolutionären Prozess unter Kontrolle zu bringen und aufzuhalten. Im Juli 1974 putschten Spinola und Palma Carlos mit dem Ziel, die kommunistischen Minister aus der Koalitionsregierung mehrerer linker und linkszentristisch getarnter rechter Parteien zu entfernen. Sie wollten zugleich die revolutionären Militärs aus staatlichen Machtpositionen verdrängen. Der Putsch scheiterte. Palma Carlos musste abdanken, der rechtsgerichtete Verteidigungsminister Firmino Miguel trat zurück. Als Kraft, die den Prozess auf der militärischen Seite im Hintergrund gesteuert hatte, erschien nun die siebenköpfige Koordinierungskommission der MFA auf der politischen Bühne. Ihr Vorsitzender Vasco Goncalves, der spätere General, wurde als Premierminister vorgeschlagen und ernannt. Die Reaktion zeigte sich konsterniert, wusste sie doch zunächst nicht, welchen Flügel des Militärs der frühere Vizechef der Pioniertruppen repräsentierte. (Dass er ein gebildeter Marxist-Leninist war, konnte sie damals allerdings nicht ahnen.)

Zur gleichen Zeit nahm der Einfluss der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP), die als einzige politische Kraft 48 Jahre Faschismus intakt überstanden und im Kampf gegen die Diktatur Salazars und Caetanos die meisten Opfer gebracht hatte, rasch zu. Sie entwickelte sich aus einer kleinen Schar von etwa dreitausend versprengten illegalen Kämpfern zu einer großen Massenpartei. Die PCP spielte von Anfang an eine führende Rolle bei der Formierung der einheitlichen Gewerkschaftszentrale CGTP — Intersindical. Bei später stattfindenden Kommunalwahlen sollte sie dann in 50 administrativen Kreisen den Sieg davontragen.

In der 2. Provisorischen Regierung unter Vasco Goncalves (als provisorisch wurden alle Kabinette bezeichnet, die bis zu den im Frühjahr 1976 abgehaltenen ersten Parlamentswahlen — ihnen war die von den Wahlberechtigten vorgenommene Berufung einer Verfassunggebenden Versammlung vorausgegangen — amtierten) waren Kommunisten, Sozialisten und Linksdemokraten weiterhin vertreten. Eine schwankende Rolle spielten von Anfang an die Sozialisten von Mario Soares, deren Partei erst 1973 unter den Fittichen der SPD und auf dem Gelände der Friedrich-Ebert-Stiftung in Münstereifel gebildet worden war [und die nicht zuletzt danach trachtete schnellst möglich die überall entstandenen Institutionen direkter basisdemokratischer Einflussnahme der Bevölkerung zu überwinden und den Rahmen der Revolution einzugrenzen, Anm.]; in der Folgezeit gingen sie immer mehr auf offen konterrevolutionäre Positionen über, wobei sie von der CIA und insbesondere von der Sozialistischen Internationale und deren Spitzenpolitikern Brandt, Palme, Mitterrand und Kreisky massive Unterstützung erhielten.

Im Laufe des Sommers 1974 vertiefte sich der Prozess einer bürgerlich-demokratischen Revolution. Die imperialistischen Zentren sorgten sich um die „negative Entwicklung“ im NATO-Land Portugal, „das in Gefahr geraten war, dem Kommunismus zuzudriften“. Die Geheimdienste entsandten eiligst ganze Rudel portugiesischsprachiger Experten an den Ort des Geschehens. Im Herbst unternahm die von ihnen angeleitete innere Reaktion einen zweiten Versuch, das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. Für den 26. September 1974 berief sie eine „Manifestation der Schweigenden Mehrheit“ zur Unterstützung von General Spinola nach Lissabon ein. Sie beabsichtigte, ihre Anhänger, die sich im Norden und im Landesinnern konzentrierten, in der Hauptstadt zusammenzuziehen. Doch das klassenbewusste Proletariat und fortschrittliche Militärs riegelten die Zugänge nach Lissabon hermetisch ab. Die Manifestation fand nicht statt. Spinolas Absicht, Vasco Goncalves festzunehmen, scheiterte. Er selbst und seine Militärjunta wurden zum Rücktritt gezwungen.

Einige Monate später putschte Spinola ein drittes Mal. Am 11. März 1975 schickte er Luftlandetruppen nach Lissabon und ließ das von revolutionären Militärs befehligte Artillerieregiment Nr.1 (RALIS) umzingeln. Die Gefahr eines bewaffneten Zusammenpralls, der den Bürgerkrieg ausgelöst hätte, wurde durch Verhandlungen abgewendet. Im Niemandsland zwischen Angreifern und Eingekreisten vermittelte — durch einen Kordon aus Tausenden Zivilisten beschützt — ein bekannter kommunistischer Parlamentsabgeordneter mit den Kommandeuren beider Seiten. Er bewog die Fallschirmjäger schließlich zur Aufgabe. Der Mann, der das drohende Blutvergießen abwendete, war Dias Lourenco. Kaltblütig, unter Einsatz seines Lebens, hatte er sich zwischen die Fronten begeben.

Revolutionäre Maßnahmen

Nach dem 11. März erhielt die Revolution einen kräftigen Impuls. Die nun formierte 4. Provisorische Regierung beschloss die Nationalisierung von 245 inländischen Banken, Versicherungen und Konzernen. Es handelte sich um das Herzstück der Wirtschaft. Die größten Betriebe Portugals gingen in Staatsbesitz über. Die Arbeiterkontrolle wurde eingeführt. Die Landarbeiterschaft besetzte unterdessen in einer straff organisierten, von den Gewerkschaften geführten Aktion die gesamten Latifundien der Provinz Alentejo und auch zahlreiche Güter im angrenzenden Ribatejo. Auf 1,15 Millionen Hektar Fläche formierten sich durch die revolutionär-demokratische Entscheidung von Arbeitern und Bauern UCP-Kollektivgüter und Kooperativen. Die bis dahin gemeinsam mit der städtischen Bourgeoisie machtausübende Klasse der Großgrundbesitzer wurde faktisch zerschlagen. Im Sommer 1975 segnete die 5. Provisorische Regierung — das einzige homogen revolutionäre Kabinett Goncalves, das aber dem inzwischen zugunsten der Rechten veränderten innenpolitischen Kräfteverhältnis nicht mehr entsprach —die Agrarreform auch rechtlich ab.

Auf internationaler Ebene gelang es Portugal bis Mitte 1975, die Kolonialkriege in Afrika zu beenden. Befreiungsbewegungen wie Frelimo und PAIGC kamen dort ans Ruder. In Angola [übernahm] die MPLA die Macht.

Riesensummen für einen heißen Sommer

Im Sommer 1975 intensivierten die innere Reaktion und der Imperialismus ihren Kampf gegen das Portugal des April. Hunderte Millionen Dollar wurden in das Trojanische Pferd von Mario Soares investiert, um die Revolution durch eine scheinbar revolutionäre Politik — mit gereckter linker Faust und dem Gesang der Internationale verkündeten die PS-Führer ihre von der SPD vorgestanzten antikommunistischen Parolen — zu ersticken.

Im „verao quente“ — dem „heißen Sommer“ — wurde eine zentral gesteuerte Terrorwelle gegen PCP, MDP/CDE, CGTP-Intersindical und andere Linkskräfte losgetreten. Vielerorts in Mittel- und Nordportugal brannten mobile Einsatztrupps die Parteibüros und Gewerkschaftshäuser nieder. Es gab Tote. Ein Klima der Hysterie, das an langjährig genährte faschistische Propagandaklischees unmittelbar anknüpfen konnte, wurde geschürt. Hassparolen richteten sich insbesondere gegen die Militärische Linke unter General Goncalves. PS-Politiker erfanden dazu eine eigene Vokabel — den sogenannten Goncalvismus, der als Inbegriff der Unfreiheit überall attackiert wurde. Mit enormem Aufwand gelang es der Sozialistischen Internationale, der NATO und der inneren Reaktion, die demokratische Volksbewegung und die Bewegung der Streitkräfte zu spalten. Zu diesem Konzept gehörte auch die Etablierung einer unternehmerfreundlichen Gewerkschaftszentrale — der UGT.

Der 5. Provisorischen Regierung wurde systematisch der Boden entzogen. Ende August 1975 war ihr Schicksal besiegelt. Als der bornierte Admiral Pinheiro de Azevedo dann die 6. Provisorische Regierung bildete, erwiderte er auf die Frage eines Journalisten, ob ihr ebenfalls Kommunisten angehören würden: „Was fragen Sie mich? Sie wissen doch ganz genau, dass hierfür Washington zuständig ist.“

In den folgenden Jahren wurden viele Errungenschaften der Portugiesischen Revolution zerschlagen. Die Bodenreform im Landessüden überlebte den konterrevolutionären Ansturm nicht. Auch die Nationalisierungen wurden untergraben und z. T. rückgängig gemacht. Die Arbeiterkontrolle gehört ebenfalls der Vergangenheit an. Doch einiges ist erhalten geblieben: Portugals Kolonialreich blieb liquidiert. Die bürgerlich-demokratischen Freiheiten konnten behauptet werden.

Die Portugiesische Revolution vermochte nicht zu siegen. Dafür gibt es eine Reihe gewichtiger Gründe, die nicht zuletzt in fundamentalen Erkenntnissen des Marxismus-Leninismus [hinsichtlich eines revolutionären Bruchs mit System, Anm.] wurzeln.

Hinzu kam die geostrategische Situation des Landes: NATO-Mitglied, die 6. US-Flotte vor den Küsten und Franco-Spanien im Rücken. Realistisch betrachtet war nicht anzunehmen, dass der Imperialismus eine Veränderung des europäischen Kräftegleichgewichts an diesem Abschnitt hinnehmen würde. Die sozialistischen Länder [wiederum] unterlagen zu diesem Zeitpunkt bereits inneren Erosionsprozessen und besaßen nicht die Kraft, um der Portugiesischen Revolution wirksam ökonomische, politische und militärische Hilfe erweisen zu können.

Trotz ihrer Niederlage war die Portugiesische Revolution ein überaus kühner Vorstoß im Westen Europas, der bis an die Grenzen des Übergangs von der bürgerlich-demokratischen zur sozialistischen Revolution ging.

Bild: Henrique Matos / CC BY 2.5 Deed

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