Auf Sand gebaut: Freihandelsapostel & das Ricardo-Theorem – Zum ökonomischen Analphabetismus der Freihandelsapologeten

Uneingeschränkter Freihandel, so der Tenor der neoliberalen Globalisierungsprediger, führe in wechselseitigem Nutzen zur Wohlstandsmaximierung aller beteiligten Länder. Die empirischen Fakten hingegen, widersprechen allerdings diesem nahezu ebenso uneingeschränkt vertretenen Glaubenspostulat der Mainstream-Ökonomie. Wie das?

kill free tradeDie theoretische Begründung jenes „segensreichen“ Freihandelspostulats liefert bis heute das sogenannte Ricardo-Theorem: Die zweifellos einflussreichste Theorie über den Welthandel, welche der große britische Ökonom David Ricardo Anfang des 19. Jh. anlässlich einer kontroversiellen Freihandelsdebatte im englischen Parlament zur Unterstützung der Freihandelsforderung anhand eines berühmten Beispiels entwickelte. Wenn sich jedes Land auf die Produktion jener Güter spezialisiert, bei deren Herstellung es die größten Vorteile aufweist, und die Länder entlang dessen freien Handel treiben, dann – so die Theoretisierung – erwirke dies einen harmonischen Anstieg des Wohlstands der Nationen.
 Ricardos berühmtes Rechenexempel
Damit auch schon in medias res: Portugal und England produzieren beide Wein und Tuch, wobei Portugal sowohl in der Wein- wie in der Tuchproduktion (aber in unterschiedlichem Grad) produktiver ist. Ricardo versucht nun zu zeigen, dass es selbst in diesem Fall, in dem ein Land in seiner Produktivität dem anderen bei allen Waren überlegen ist, also beide Waren(gruppen) kostengünstiger herzustellen vermag, Freihandel dennoch für beide betreffenden Länder von Vorteil ist.
Dann nämlich wenn sich das produktivere Land auf das Produkt konzentriert, bei dem es den vergleichsweise (= komparativ) größeren Kostenvorteil hat, und das wirtschaftlich unterlegene Land das Produkt herstellt, bei dem es hinsichtlich der Kosten relativ am wenigsten zurückhängt. Wenn sich Portugal und England die Gesamtarbeit in dieser Weise teilen und die Überschüsse austauschen, dann profitieren – weil aufgrund der über die Spezialisierung erreichbaren größeren Produktionseffizienz nun mit derselben Menge an Arbeit eine größere Menge der Waren hergestellt werden kann – in Summe beide Länder davon.
Die Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung und damit im internationalen Vergleich optimal eingesetzten Ressourcen, so das Credo, führen dergestalt zu mehr Produktion, Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand für alle. Wenn der von der Freihandelslehre postulierten segensreichen Wirkung des Freihandels nur ja keine politisch gesetzten Schranken wie Zölle, Kontingente, Subventionen oder nichttarifäre Handelshemmnisse entgegenstehen.
Da in Ricardos Rechenexempel der Kostenvorteil Portugals bei Wein größer ist als in der Tuchproduktion, ist es für Portugal also vorteilhafter, auf die Tuchherstellung zu verzichten, und die freigesetzten Kapazitäten an Kapital und Arbeit mit relativ größerer Effektivität in der Weinproduktion einzusetzen. Den zusätzlichen Wein exportiert Portugal nach England. Dieses wiederum stellt umgekehrt seinerseits die Produktion von Wein ein, und lenkt die bisher dort gebundenen Ressourcen auf die Tuchproduktion um. Das mit relativ geringerem Arbeitsaufwand produzierte, überschüssige Tuch aus seiner Spezialisierung der Produktion, tauscht England nun wiederum seinesteils im Außenhandel ein.
Freihandel, sprich: der möglichst uneingeschränkte Waren- und Kapitalverkehr, so das auf Ricardo zurückverweisende  Freihandelstheorem der (heutigen) Mainstream-Ökonomie, führe über die internationale Arbeitsteilung dazu, dass jedes Land genau das produziert, worin es relativ gesehen am besten ist und so zu größtmöglicher Produktionseffizienz, einem Außenhandel zum gegenseitigem Vorteil, ökonomischen Aufholprozessen der ärmeren Länder und einer internationaler Angleichung der Einkommen.
Woran es hakt: kapitalistische Wirklichkeit
Ricardos Theorie hat eine unbestreitbare Logik. Nur funktionieren die reale kapitalistische Wirtschaft und internationalen Wirtschaftsbeziehungen anders, als es die (impliziten) Annahmen, auf denen das Rechenexempel beruht, unterstellen.* Und darin liegt auch der Haken. Ricardos abstraktem Modell liegt (unausgesprochen) zum einen eine stetige Vollauslastung der Produktionskapazitäten wie beiderseitige Vollbeschäftigung (und beiher auch ausgeglichene Handelsbilanzen) zugrunde, und fußt zudem auf einer Immobilität des Kapitals über nationale Grenzen.
Was aber, wenn es wie in der wirklichen kapitalistischen Realität (gemeinhin) stets ungenutzte Produktionskapazitäten, anlagesuchendes Kapital und Arbeitslosigkeit gibt? Mag die Spezialisierung in der internationalen Arbeitsteilung aufgrund der jeweiligen vergleichsweisen Kostenvorteile und unterschiedlichen Ressourcenausstattung zunächst auch wie in Ricardos Modell verlaufen. Verbleiben, um beim Beispiel zu bleiben, dem portugiesischen Kapital bei Vollversorgung des gemeinsamen Marktes beider Länder mit Wein dennoch ungenutzte Produktionskapazitäten, wird dieses in seinem Verwertungsinteresse und Profitstreben nach weiteren Anlagemöglichkeiten über die reine Weinproduktion hinaus trachten.
Schließlich wird realitätsnäher als in den abstrakten Rechenbeispielen zahlreicher Lehrbücher nämlich auch im gegenseitig geöffneten Markt weniger Wein nachgefragt werden als das Gesamt der portugiesischen Fabrikanten voll ausgelastet produzieren könnte. Da die portugiesische Industrie der englischen jedoch auch in der Tuchherstellung überlegen ist – wenn auch in geringerem Maße, so aber doch – wird das portugiesische Kapital, anders als in den Modellversionen zum Welthandel unterstellt, auch diese (= auf „absoluten“ Produktionsvorteilen beruhende) Möglichkeit auf Profit nicht ungenutzt lassen und die verbleibenden Kapazitäten wie Arbeitskräfte selbst zur Tuchproduktion zu nutzen. Und so neben der Vollversorgung beider Länder mit Wein zugleich in die Konkurrenz und den Kampf um den Tuch-Markt eintreten. Als konkurrenzstärkerem Land wird Portugal das Erobern dieses zusätzlichen Marktplatzes auch gelingen. Allerdings auf Kosten und in (mindestens teilweiser) Verdrängung der englischen Konkurrenten, sowie eines damit einhergehenden Exports der Arbeitslosigkeit.
Dazu gesellt sich – neben der schon im Original enthaltenen Degradierung der meisten „Entwicklungsländer“ zu bloßen Rohstofflieferanten – als nicht minder gravierend eine weitere Untauglichkeit des Ricardoschen Modells zur Erfassung der realen zeitgenössischen kapitalistischen Investitionspolitiken und Handelsbeziehungen: nämlich die als weitere Modell-Annahme zunächst noch unberücksichtigt gelassene, unterstellte Immobilität des Kapitals. Bestimmend für die entscheidenden, weltweiten Investitionen ist heute im Gegensatz zum Ricardo-Modell indes nicht die Suche nach vergleichsweisen Kostenvorteilen im nationalen Rahmen, sondern vielmehr der Kapitalexport und die Veranlagung entlang globaler Wertschöpfungsketten (unter dem Gesichtspunkt absoluter Kosten).
Die Vorteile aus der internationalen Arbeitsteilung und dem Freihandel verbleiben so vornehmlich bei den Transnationalen Konzernen, die auch die Profite einstreichen – zulasten der schwächeren Länder wie deren Lohnniveau und Arbeitsverhältnisse. Gerade einmal 147 Konzerne sind es einer Studie der ETH Zürich aus 2007 zufolge, die heute die Weltwirtschaft kontrollieren. Ein uneingeschränkter Freihandel führt unter den tatsächlichen Bedingungen der real-kapitalistischen Globalisierung denn auch grundsätzlich nicht zu gegenseitigem Nutzen und allgemeinen Wohlstand, sondern vorrangig zu einseitigen Nutzgewinnen der Wirtschaftsmächtigsten und Reichsten.
Aber, auch die industrielle Produktions- und Handelsstruktur der entwickelten kapitalistischen Länder weicht in ihrer Realität deutlich von Ricardos abstraktem Modell ab – worauf gerade jüngst kritische Ökonomen verstärkt den Finger gelegt haben. So ist etwa Frankreich zunächst geradezu berühmt für seinen Wein und Käse, Deutschland dagegen für seine Automobil- und Maschinenindustrie. Aber auch Frankreich, und selbst das gebeutelte Portugal Ricardos, exportieren Autos und Maschinen. Nicht zuletzt auch nach Deutschland. Und dieses seinerseits wiederum Wein und Käse. Eine ausgeprägte, deutliche Arbeitsteilung nach Produktgruppen à la Ricardo lässt sich der Realität zwischen Industrieländern nicht entnehmen – wenngleich natürlich nicht alle Länder Bordeaux, Riesling, Camembert, Emmentaler, Autos oder etwa auch Werkzeugmaschinen und Flugzeuge produzieren und somit in sämtlichen Produktgruppen konkurrieren. „Der Handel erfolgt also nicht in erster Linie zwischen unterschiedlichen Produkten (interindustrieller Handel), sondern dieselben Produktgruppen werden sowohl exportiert als auch importiert (intraindustrieller Handel).“ Das ökonomisches Hauptkennzeichen des gepriesenen Freihandels ist denn auch keine harmonische arbeitsteilige Spezialisierung, sondern vielmehr eine (von Einzelzweigen abgesehen) immer brachialere Konkurrenzsituation in denselben Produktpaletten.  „Und schon läuft das klassische Spezialisierungsmodell ins Leere und ein allgemeiner Nutzen durch Freihandel lässt sich daraus nicht mehr so richtig begründen“ – wie kürzlich Ch. Pauli süffisant konstatierte.
Fazit
Damit ist keineswegs die Sinnhaftigkeit des internationalen Handels als solchem in Abrede gestellt. Ein solcher kann, eingebettet in eine stimmige wirtschaftspolitische Ausrichtung und Strategie, durchaus zur Entwicklung beitragen und diese sinnvoll genutzt fördern. Die vermeintlichen segensreichen Wirkungen eines uneingeschränkten Freihandels in Gestalt der multilateralen Abkommen CETA, JEFTA, TiSA, TTIP & Co sind allerdings bloße Propaganda und ideologischer Unsinn in fälschlich behaupteter theoretischer Begründung durchs Ricardo-Theorem.
* Die Bedeutung der Währungspolitik und Wechselkurse für den Preis der Produkte kann für den hiesigen Zweck außen vor bleiben.

Bild: CC BY-SA 4.0 / https://commons.wikimedia.org/wiki/User:M0tty

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