Organisierter Terror: Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 erreichte der Antisemitismus unterm Hakenkreuz einen Höhepunkt auf dem seit 1933 eingeschlagenen Weg der Nazis vom Boykott und der Entrechtung und Vertreibung von Juden und Jüdinnen zum Pogrom.

Novemberpogrom Gedenken Wien der KJÖ u.a.: Samstag, 9.11.

14.00 Uhr, Oskar-Morgenstern-Platz, 1090 Wien

Wenig später ging der Nazi-Faschismus bekanntlich zur „Endlösung der Judenfrage“ im Holocaust über. Schon in den Monaten vor den Novemberpogromen 1938 verstärkte das NS-Regime seine offen terroristischen Maßnahmen. Von den im Jahr 1934 gezählten 176.034 Wiener und österreichweit im März 1938 etwa 201.000 Juden und Jüdinnen mussten mehr als 120.000 emigrieren bzw. konnten fliehen, über 65.000 fanden den Tod bzw. wurden Opfer des Holocaust, nur rund 8.000 konnten in Wien überleben. Ja, Wien erwies sich, wie die Forschung immer eindringlicher zeigt, als regelrechtes Experimentierfeld und besonders willfähriges Terrain des antisemitischen Terrors der Hitleristen und Mordbrenner und Propagandisten à la Adolf Eichmann, Reinhard Heydrich und Joseph Goebbels. Anlässlich der heutigen Gedenken übernehmen wir dahingehend noch einmal den Beitrag „Organisierter Terror“ des Historikers Ulrich Schneider – Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) und Autor des empfehlenswerten Buches „Antisemitismus im Dritten Reich. Von der Ausgrenzung zum Völkermord“, Köln 2021:

Sichtbares Zeichen des gewaltsamen antisemitischen Terrors der Nazis war die Reichspogromnacht (die Faschisten nannten sie „Kristallnacht“) am 9./10. November 1938, in der Synagogen und andere jüdische Einrichtung zerstört sowie anschließend mehrere 10.000 jüdische Menschen in Konzentrationslager verschleppt wurden.

Ende Oktober 1938 plante die Reichsregierung die Abschiebung von Juden polnischer Herkunft, obwohl Polen angekündigt hatte, ihnen die Einreise zu verweigern. Trotzdem ordnete der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, am 26. Oktober an, dass „polnischen Juden“ das Reichsgebiet bis zum 29. Oktober 1938 zu verlassen hätten. Am 28. Oktober 1938 begann die Deportation von rund 17.000 jüdischen Menschen polnischer Staatsangehörigkeit. Die Grenze war jedoch geschlossen, die Menschen mussten in dem kleinen Grenzort Zbąszyń, quasi im „Niemandsland“ zwischen der deutschen und der polnischen Grenze, ausharren – ohne Nahrung, ausreichende sanitäre Einrichtungen oder Unterkunftsmöglichkeiten. Zu den an die polnische Grenze Verschleppten gehörte auch die Familie Grynszpan, deren Sohn Herschel nach Frankreich hatte fliehen können. Aus Verzweiflung über die katastrophale Lage seiner Eltern schoss er am 7. November in der deutschen Botschaft in Paris auf den deutschen Legationsrat von Rath, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag.

Inszenierter Volkszorn

Die Reaktion des Naziregimes kam prompt. Ausgehend von der SS-Kaserne in Arolsen zogen Nazihorden nach Kassel. Um den Eindruck eines „Volkszorns“ zu vermitteln, trugen die Randalierer keine Uniformen, jedoch einheitliche Uniformstiefel. Am Abend des 7. November 1938 drangen etwa 30 Personen in die Synagoge in der Unteren Königsstraße ein, schleppten Teile der Inneneinrichtung und die Thorarolle vor das Gebäude und verbrannten sie vor den Augen von Schaulustigen. Anschließend legte man in der Synagoge Feuer, was jedoch bald wieder gelöscht werden musste, da bei der dichten Bebauung der Kasseler Altstadt ein Übergreifen der Flammen drohte. Am 11. November fasste die Stadt Kassel den Beschluss, die Synagoge „abtragen“ zu lassen, um einer angeblich bestehenden „Parkraumnot“ zu begegnen.

In der Nacht wurden in Kassel weitere jüdische Einrichtungen wie das jüdisch-orthodoxe Café Heinemann verwüstet. Das dritte Ziel war das jüdische Schul- und Gemeindezentrum in der Großen Rosenstraße. Das Gebäude wurde zerstört, das Inventar auf die Straße geworfen, selbst ein Klavier wurde aus dem dritten Stock auf die Straße geworfen. Anschließend wurden 20 jüdische Geschäfte geplündert.

Zur „Reichspogromnacht“ wurden diese Ausschreitungen jedoch erst am 9./10. November 1938. Zu den Gedenkfeiern zum Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 in München war die faschistische Führung einschließlich Hitler und Goebbels angereist, wo sie die Nachricht vom Tod des Diplomaten von Rath erreichte. Goebbels sprach von einer „jüdischen Weltverschwörung“ und bezeichnete die antijüdischen Pogrome in Kurhessen als „gute Beispiele“. Dabei betonte er, dass die Naziverbände öffentlich nicht als Organisatoren der Pogrome in Erscheinung treten sollten. Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer verstanden dies vollkommen korrekt als Aufforderung, „spontane“ Aktionen des „Volkszorns“ zu organisieren.

Und ab 22.30 Uhr glühten die Telefondrähte von München aus in alle Teile des Deutschen Reiches, wo am Abend des 9. November ebenfalls Versammlungen der SA und der NSDAP zur Erinnerung an den Hitler-Putsch stattfanden. Goebbels selbst ließ nachts noch Telegramme von seinem Ministerium aus an untergeordnete Behörden, Gauleiter und Gestapostellen im Reich aussenden. Diese gaben entsprechende Befehle an die Mannschaften weiter.

Über die tatsächliche Bilanz der Novemberpogrome gab es lange Zeit Unklarheiten. Immer noch ist die Zahl von 91 Morden und 267 zerstörten Synagogen zu finden, die in einem Schreiben von Reinhard Heydrich an Hermann Göring vom 11. November 1938 genannt wurde. Heute weiß man, dass in diesen Tagen etwa 400 jüdische Menschen einen gewaltsamen Tod starben. Mehr als 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume der jüdischen Gemeinden wurden zerstört, ebenfalls mehrere tausend Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe.

In den folgenden Tagen wurden von Polizei und Hilfspolizei 30.000 jüdische Menschen, überwiegend Geschäftsleute und „wohlhabende“ Juden, verhaftet. Sie wurden in die KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Auch aus Österreich wurden 4.600 Juden ins KZ Dachau deportiert. In einem Zeitzeugenbericht über Buchenwald heißt es: „Die SS nutzte die Aktion nicht nur zur Befriedigung ihrer Mordlust, sondern auch zur persönlichen Bereicherung, an der von der SS-Führung bis zum kleinsten SS-Mann alle beteiligt waren. Durch Lautsprecher wurde verkündet, ›Alle Millionäre und vermögende Juden ans Tor‹, es wurden ihnen Unterschriften für größere Geldspenden – bis zu mehreren hunderttausend Mark – abverlangt. Diejenigen, die ihre Autos, Häuser usw. der SS-Lagerleitung zur Verfügung stellten, werden bevorzugt entlassen. Sie durften plötzlich schreiben, um sich Geld von zu Hause schicken zu lassen, was die SS dann kassierte.“

Räuber planen Krieg

Nach den Novemberpogromen wurden zahlreiche diskriminierenden Sondergesetze erlassen, die nur das eine Ziel hatten, jüdischen Menschen im Deutschen Reich ein normales Alltagsleben unmöglich zu machen. Insgesamt konnte das Naziregime mit der Aktion zufrieden sein, schien doch die „Volksgemeinschaft“ bereit, gewalttätig gegen Menschen vorzugehen, die als „minderwertig“ stigmatisiert waren. So präpariert, bereitete das Regime die nächsten Schritte zum Krieg vor.

Allein im politischen Widerstand wurde dieser Terror offen kritisiert, wie die Erklärung der konspirativ arbeitenden Inlandsleitung der KPD vom November 1938 zeigte. Sie wurde als illegale Flugschrift in verschiedenen Teilen des Deutschen Reiches verbreitet. Die Rote Fahne war damit die einzige antifaschistische Stimme, die in dieser Zeit auch im faschistischen Deutschland offen gegen den rassistischen Antisemitismus Stellung bezog. [Eine Rolle die in Österreich im Widerstand gegen die NS-Herrschaft seit 12. März 1938 im illegalen Kampf der KPÖ ihr Pendant fand, Anm.]

Nicht vergessen werden darf der mit diesen Pogromen verbundene Raub jüdischen Eigentums. In einer Gesamtbilanz heißt es, es seien mehr als eine Milliarde Reichsmark als Zwangsabgaben eingetrieben worden, nicht eingerechnet die 225 Millionen Reichsmark, die Versicherungsgesellschaften dem Reich für die Schäden des Pogroms bezahlten. Hinzu kamen die Beträge der „Reichsfluchtsteuer“, die nach dem Pogrom bis zum Kriegsbeginn von jüdischen Auswanderern erhoben wurden. Insgesamt rechnet man mit über zwei Milliarden Reichsmark, die in dieser Zeit aus jüdischem Besitz direkt an das Reich fielen. „Arisierungsgewinne“ von Einzelpersonen oder „Spenden“ und „Abgaben“ an Parteistellen sind in dieser Summe nicht enthalten.

Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1970-041-46 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0

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