Österreichische Neutralität: Geschichte, Bedeutung und Motive & ihre triste aktuelle Lage

Zwar wurde die österreichische Neutralität – der eigentliche anlässliche Grund des Nationalfeiertags –, im gerade hinter uns liegenden NR-Wahlkampf nicht (zu) offensichtlich zur Disposition gestellt. Zu groß ist trotz dreier Jahrzehnte zunehmender Unterminierung deren Verankerung in der österreichischen Bevölkerung. So sprachen sich erst im Frühjahr in einer Umfrage überwältigende 74% für die Beibehaltung der Neutralität aus. Gleichzeitig ist diese nach jahrzehntlangem Abrücken und außenpolitisch-bellizistischem Kurswechsel bereits tiefgreifend ausgehöhlt und unterminiert. Und die voraussichtlich nächste Regierungskoalition wird ihr trotz scheinheiliger, nomineller Lippenbekenntnisse am Nationalfeiertag, nochmals weiter den Garaus machen. Das, scheint schon zu Beginn der nun begonnenen Koalitionsverhandlungen, so sicher wie das sprichwörtliche Amen im Gebet.

Karl Nehammer hat bereits in seiner zurückliegenden Kanzlerschaft die Neutralität Österreichs zum bloß historischen „aufgezwungenen“ Oktroy erklärt und zusammen mit den oliv-grünen Schreibtischfeldwebel:innen eine neue Verteidigungsstrategie ausgerufen. Der voraussichtliche kleine Juniorpartner der Dreierkoalition, die NEOS, sind gleich überhaupt die einzige Kraft, die mit regelrecht gefletschten Zähnen auch offen eine Abkehr von der österreichischen Neutralität fordert. Und die SPÖ liegt schon lange, höflich formuliert, im außenpolitischen Koma (eigentlich freilich selbst in einem transatlantischen Delirium) und wird ihre ohnedies bloße neutralitätspolitische Maskerade schon in den Koalitionsverhandlungen als billige Verhandlungsmasse opfern. Umso nötiger anlässlich des Nationalfeiertags denn nochmals einen aufklärenden Blick in die Geschichte, Bedeutung sowie Aspekte der Motivlage der österreichischen Neutralität zu werfen.

Die mit den Stimmen der ÖVP, SPÖ und KPÖ 1955 beschlossene österreichische Neutralität – einzig, zur Erinnerung, aber auch um die heutigen Grotesken zu akzentuieren, der FPÖ-Vorläufer VdU stimmte dagegen –, entsprang mitnichten nur einem taktischen Kalkül, um den Abzug der alliierten Truppen zu erreichen (seither symbolisch im Bild des letzten Jeeps verdichtet), sondern verdankt sich zugleich der historischen Einsicht, sich nicht neuerlich bzw. nie wieder in die Gravitationsfelder konkurrierender Großmachtpolitiken zu begeben. Entsprechend führte der damalige ÖVP Bundeskanzler Julius Raab in der Nationalratssitzung zum Neutralitäts-Beschluss auch in bemerkenswerten und heute geradezu denkwürdigen Worten aus: „Unsere Neutralität ist keine provisorische, widerrufliche Beschränkung unserer Souveränität, die wir etwa unter dem Zwang der Verhältnisse widerstrebend auf uns genommen haben, sondern die Basis für eine Außenpolitik, die unserer Heimat und unserem Volk für alle Zukunft Frieden und Wohlstand gewährleisten soll.“ Mit der Neutralitätserklärung, so Raab weiter, beginne eine neue Epoche, die Österreich mit dem aufrichtigen Willen beschreite, um durch die Neutralität und eine Neutralitätspolitik „nicht nur uns und unseren Nachbarstaaten, sondern darüber hinaus der ganzen Welt zu nützen.” Dieser Bedeutung und Motivlage nach noch frischer Erinnerung der Verheerungen und schuldhaften Verbrechen der zweimaligen Juniorpartnerschaft in den beiden Weltkriegen um Großmachtsinteressen wurde auch im Zuge des Bundesgesetzes mit dem man zehn Jahre später den 26. Oktober zum Nationalfeiertag erklärte, noch einmal ausdrücklich unterstrichen: Das Neutralitätsgesetz bilde die Grundlage dafür, „für alle Zukunft und unter allen Umständen die Unabhängigkeit zu wahren” und einen „wertvollen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten zu können.”

Entgegen dem gängigen Narrativ ist der Gedanke einer Österreichischen Neutralität auch kein bloßes Kind des Kalten Krieges, sondern geht auf den widersprüchlich-konservativen Geist des großen Völkerrechtlers und Kriegsgegners Heinrich Lammasch (1853 – 1920) zurück, der bereits in seiner Abhandlung „Die norische Republik“ im Frühjahr 1919 für ein unabhängiges, in den Völkerbund eingebundenes Österreich mit neutralem Status nach Schweizer Vorbild eintrat. Was, nebenbei bemerkt, zudem den heute allenthalben geflissentlich unterschlagen Umstand der österreichischen Neutralitätserklärung nach „Muster der Schweiz“ ins Licht rücken sollte, dass die auf dem Wiener Kongress von 1815 garantierte Schweizer Neutralität nicht einmal mit den wildesten Verrenkungen einfach in das Prokrustesbett des Ost-West-Konflikts des 20. Jahrhunderts gepresst werden kann. Doch zurück zu Lammasch. Bereits seinerseits zugleich die Puffer- und Brücken- wie Vermittlungsfunktion der Neutralität mit herausstellend, betonte er damit über die heutige verengte Debatte schon 1919 deren doppelten Gesichtspunkt: „So würde die Aufrichtung einer neutralisierten norischen Republik nicht nur dem Wohle Österreichs selbst und der Erhaltung des europäischen Friedens, sondern auch dem Wohle der Nachbarstaaten dienen.“ Der reaktionäre Flügel der österreichischen Bourgeoisie und namhafte Kreise der hiesigen Parteienlandschaft haben mit Lammasch und seinem Denken freilich nie etwas anzufangen gewusst. Über eine unauffällige Statue im Arkadenhof der Uni Wien, die man im Vorbeigehen vielleicht einmal schulterzuckend zur Kenntnis nahm, hinaus, hat er es in deren Köpfen denn auch kaum gebracht.

Jene Kräfte, versuchen seit den weltpolitischen Umbrüche 1989/91 denn auch vielmehr stetig die österreichische Neutralität zur Disposition zu stellen bzw. nach Kräften auszuhöhlen. Und sind auf ihrem Kriegspfad und Schwenk auf eine forcierte imperialistische Außenpolitik auch schon sehr weit vorangeschritten. Und das betrifft beileibe nicht nur maßgebliche Kreise der ÖVP – beginnend mit Alois Mock und Andreas Kohl –, sondern ebenso sehr Spitzen und Regierungsverantwortliche der SPÖ und der Grünen.

Man muss – wir wiederholen es – aus linker Perspektive auch nicht den Verklärungen der Hochzeit der österreichischen Neutralitätspolitik und Entspannungspolitik der „Ära Kreisky“ aufsitzen oder die Möglichkeiten einer aktiven Neutralitätspolitik und absehbaren Zukunftsperspektiven in schillerndsten, unrealistischen Farben malen, um Österreichs Einbindung in den vom Westen ausgerufenen und mit dem Ukraine-Krieg nun eskalierten Welt(un)ordnungskrieg gegen die ‚antagonistischen‘ „systemische Rivalen“ (China und Russland), oder die österreichische Assistenz beim Flächenbrand im Nahen Oster und eine forciert imperialistische Positionierung im Nord-Süd-Konflikt abzulehnen. Mit ihrer Abschaffung brächen jedoch allemal auch die letzten noch verbliebenen Dämme gegen die vorbehaltslose Einbeziehung Österreichs in die imperialistische Globalstrategie des Westens auf allen Fronten, samt Integration in die NATO- und/oder eine Euroarmee und wäre jeder auch nur Hauch des Gedankens einer Vermittlerrolle Österreichs in der Welt bereits im Ansatz obsolet.

Demgegenüber bemühte sich die Außenpolitik Kreiskys der 1970er Jahre – der seitens der SPÖ zusammen mit Theodor Körner 1951 einstens erstmals öffentlichkeitswirksam die österreichische Neutralität propagierte –, nach Kräften um Verhandlungslösungen und Österreichs Rolle als Vermittler und Dialogstifter (explizit nicht zuletzt im Ost-West- und Nahost-Konflikt). Dahingehend kann, entgegen manch letzten Klammerns an die einstige Geschichte der Sozialdemokratie, mit Blick auf die wohlweislich kommende Regierung indes jeder auch noch so bescheidene Hoffnungsakzent fahren gelassen werden. Ja, vielmehr voraussehbarer noch: Schlimmer geht immer.

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