Das einstige Armenhaus Indien gilt heute – nicht zu Unrecht – als Subkontinent im Aufbruch; und als Region von zentralem ökonomischem und geopolitischem Interesse: sowohl für die BRICS-Entwicklung wie für die Globalstrategie und Weltherrschaftsansprüche des US- und westlichem Imperialismus.
Indien-Bilder, der reale Subkontinent und das koloniale Erbe
Aus dem Blick in diesen Projektionen geraten dabei üblicherweise die tiefe sozialökonomische Fragmentierung und Unterentwicklungen des Subkontinents, seine vielfältigen Spannungen, seine regionale Zerrissenheit und die immensen sozialen Widersprüche des Landes, sowie seine große Vielfalt an Sprachen, Ethnien und Religionen. So gibt es nicht nur zwei ‚nationale Amtssprachen‘ (Hindi und ‚zusätzlich‘ Englisch); dazu kommen 22 verfassungsmäßig anerkannte ‚offizielle‘ (Amts-)Sprachen aus vier verschiedenen Sprachfamilien, in 13 verschiedenen Schriften.
Neben dem als herrschendem religiös einigenden Band fungierenden Hinduismus, bekennen sich neben kleineren Minoritäten wie den Sikhs und Christen, oder den Jains etc., rund 200 Millionen Inder:innen zum seit über 1.000 Jahren in Südasien beheimateten Islam. Die von der ehemaligen Kolonialmacht England befeuerte konfessionelle Auseinandersetzung (allen voran zwischen Muslimen und Hindus) kostete mit ihrer Teilung Britisch Indiens in zwei Nachfolgestaaten über einer Million Inder:innen das Leben; mehr als 10 Millionen wurden zu Flüchtlingen gemacht; rund 3 Millionen gelten als vermisst; etwa 20 Millionen Menschen wurden (begleitend) (zwangs-)umgesiedelt. Und die Kaschmirfrage, zusätzlich weidlich instrumentalisiert von außen, wurde zu einem Dauerkonflikt, der zwei verfeindete Atommächte erschaffen hat, zwischen denen es keine Vorwarnzeit gibt.
Peripherer Manchester-Kapitalismus
Völlig im Widerspruch zum medial vorherrschenden Aufstiegsbild und einem suggerierten nachholenden Entwicklungspfad im Sinne einer allgemeinen Höherentwicklung und Konvergenz der Lebensstandards, leben hunderte Millionen Inder:innen in der Gegenwart ungebrochen in bitterster Armut, belegt Indien einen der hinteren Ränge des Globalen Hungerindex und erreicht im Human-Development-Index nicht einmal den Durchschnitt aller Entwicklungsländer. Exorbitante rund 90% der Erwerbstätigen Indiens sind bzw. waren zuletzt im ‚informellen Sektor‘ und damit außerhalb der staatlichen Arbeitsgesetzgebung beschäftigt – was zugespitzt formuliert, einer subkontinentalen Verwandlung der ehemals ländlichen Massen anstatt ins Proletariat ins Prekariat gleicht. Wobei der indische Übergang von einer Agrar- zur Industriegesellschaft generell spezifisch periphere Züge trägt – und die Industrialisierung in bestimmten (Leit-)Sektoren mit einer begleitenden Deindustrialisierung durch die abrupte Weltmarktöffnung, wirtschaftliche Liberalisierung und rigorosen Privatisierungen einhergeht. Zwar ist der proportionelle Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen auch in Indien seit der Unabhängigkeit gesunken. Allerdings hat sich deren absolute Zahl seit 1947 – verbunden mit sozial-ökonomischen Dramatiken – stetig weiter erhöht.
Kasten – Frauen – Adivasi
Während die eng mit dem Hinduismus verknüpfte Fortdauer des Kastensystems in modifizierter Form und die multiple Diskriminierung der Frauen und deren vielfach brutalste Gewaltformen, sowie auch noch die Unterdrückung der „Unberührbaren“ (sog. „Unreine Shudras“) und der muslimischen Minderheit allgemeiner bekannt sind, bildet die Lage der Adivasis, der Stammesangehörigen am Rande der Hindu-Gesellschaft, im herrschenden medialen Diskurs wie im westlichen Blickwinkel generell, einen „weißen Fleck“. Mit einem Bevölkerungsanteil von knapp an die 10% und damit eine Minorität von weit über 100 Millionen Menschen im bevölkerungsreichsten Land der Welt, wesentliche Kraft und eine relevante soziale Basis des Aufstands der Naxaliten 1967, stehen sie heute zusammen mit der revolutionären Guerilla erneut im Visier und Fadenkreuz der forcierten Militäroperation Neu-Delhis.
Völkischer Hindu-Nationalismus und die Militär-Operation „Kahaar“
Denn seit Jahresbeginn 2024 führt die hindu-nationalistische Modi-Regierung – von der Weltöffentlichkeit unbeachtet und mit Unterstützung der USA wie in Abstimmung mit ihren Geheimdiensten – mit äußerster Brutalität und Gewalt ihre Militär-Operation „Kahaar“ zur beabsichtigten endgültigen Auslöschung der linken Guerilla durch. Darin eingeschlossen: regelrechte Massaker an Bauern und Adivasis. Unter den Kräften der Hindu-Rechten und ihrer militanten Politik der „Hindutva“, einer völkisch hindu-nationalistischen Herrschaft, finden sich dabei auch die reaktionärsten paramilitärischen Kräfte der „Sangh Parivar“ (so der Sammelbegriff für die hinduistisch-nationalistischen resp. faschistischen Organisationen und Strömungen), zunächst Anhänger des italienischen Mussolini-Faschismus und später des Nazi-Faschismus, die sich noch heute in dieser Tradition und ihr verbunden sehen. Als solche stellen sie denn auch vielfach die „Sturmtruppen“ der Terrorpolitik der „Hindutva“. Unter der sowohl von der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP Modis und deren Sympathisanten sowie der mit ihnen verbundenen Militärs und paramilitärischen Freiwilligenorganisationen verwendeten, abwertenden Losung „Tukde Tukde Gang“ (übersetzt etwa: „Eine Bande, die das Land spalten will“) rollt die „Operation Kahaar“ seit 17 Monaten mit bluttriefender Gewalt gegen die maoistische Guerilla Indiens und die Siedlungsgebiete der Adivasis. Denn allem mit Aufruhr und Verwässerung bzw. Zersplitterung der als „natürliche Einheit“ konzipierten „organischen Nation“ Assoziierten, muss im herrschenden Denken Neu-Delhis zu Leibe gerückt werden, um die teils in einem unsäglichen hinduistischen Blut-und-Boden- bzw. Rasse-Mythos projektierte Nation von sozialen, ethnischen und religiösen „Unreinheiten“ zu ‚reinigen‘ und vor ihnen zu bewahren.
Neu-Delhis jüngste Intensivierung des Kriegs gegen den Volkskrieg
Vor etwas über einer Woche, am 21. Mai, fand die „Operation Kahaar“ mit der Tötung Nambala Keshava Rao’s (besser bekannt unter seinem Deck- bzw. Kampfnamen Basavaraju) und weiterer 26 zentraler Kader der CPI (Maoist) ihren vorläufigen Höhepunkt. Der studierte Bauingenieur Basavaraju war nicht nur Generalsekretär der verbotenen Partei und Guerillaführer, sondern auch ihr zentraler Ideologe. Der Kern seiner sozialökonomischen Charakterisierung Indiens lässt sich in seinen eigenen Worten aufs Formelhafte dahin verdichten: Indien „ist ein halbkolonial-halbfeudales System. Imperialistische Ausbeutung und feudale Unterdrückung sind die Hauptursachen für das Elend unseres Volkes“. Unter diesen Vorzeichen wie der generellen Kennzeichnung des Kampfes der Naxaliten galt bzw. gilt ihr Widerstand in den Adivasi-Gebieten im Bundesstaat Chattisgarh (der zu großen Teilen von Adivasi bewohnt wird) insbesondere auch der Verteidigung der vielfältigen Ressourcen (von den üppigen Wäldern, über Kohle, Bauxit bis Eisenerz) gegen die nationalen Bergbauunternehmen und multinationalen Konzerne sowie des militanten Widerstands gegen die steten Enteignungen von Land zu deren Gunsten – da sich die reichsten Bodenschätze Indiens (etwa Kupfer und Uran) in den Siedlungsgebieten der Adivasi entlang der Osthälfte des Subkontinents befinden. Dass die Offensive Neu-Delhis und nochmalige Intensivierung der Militäroperation gegen die Naxaliten auf dem Hintergrund eines seitens der CPI (Maoist) einseitig erklärten Waffenstillstands und angebotenem – von Delhi schroff zurückgewiesenen – Dialogs für Friedensgespräche stattfand, zeigt die wilde Entschlossenheit der hindu-nationalistischen Regierung Modi, dem „Naxalismus (militärisch) ein Ende zu setzen“. Entsprechend sollen seit Beginn der „Operation Kahaar“ allein in Chattisgarh geschätzte 400 Naxaliten getötet worden sein.
Tiefe Widersprüchlichkeiten des Subkontinents im Aufbruch
In alle dem widerspiegelt sich zugleich die tiefe Widersprüchlichkeit des neoliberalen Aufbruchs und hindu-nationalistischen Aufstiegs des Subkontinents der Gegenwart – sowohl im Inneren Indiens wie in dessen, es mit allen und keinem haltenden, wetterwendischer Außenpolitik.
Foto: Wikicommons (GODL)