Good COP? Bad COP! Die Inselstaaten und Subalternen verlassen den Saal

Das Abschlussplenum der seit Freitag verlängerten COP 29 wurde heute, Samstag, nach eineinhalb Stunden unterbrochen. Schon tagsüber verließen die Gruppen der Inselstaaten und am wenigsten entwickelte Länder aus Protest zeitweilig den Verhandlungssaal. Zwischenzeitlich wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen. Ob es in allerletzter Sekunde noch überhaupt zu einer nominellen Abschlusserklärung kommt ist zur Stunde noch offen. Update: In den Nachtstunden kam es noch dazu. Eine indische Vertreterin äußerte sich unter Applaus im Plenarsaal recht unmißverständlich: „Dieses Dokument ist nichts anderes als eine optische Illusion.“ Worum geht es?

Im Kern ging es auf der diesjährigen COP zum einen um den sogenannten Klimaschutzfonds, der die ärmsten Länder bei der Einführung umweltfreundlicher Technologien unterstützen sowie Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel finanzieren sollen. Zum anderen um den von den G77 schon lange und immer eindringlicher geforderten „Loss and Damage“ („Verlust und Schaden“)-Fonds zum Wiederaufbau nach umwelt- bzw. klimabedingten Zerstörungen und Verwüstungen. 

Zur Erinnerung: Auf der letzten COP gelang es, den auf der COP 27 gegen den langjährigen Widerstand der entwickelten kapitalistischen Staaten auf den Weg gebrachten Klimaschäden-Kompensationsfonds zu bestätigen.Um sich hinsichtlich des im Vorjahr inszenierten medialen Hypes hinsichtlich des – in der Tat längst überfällig gewesenen – „Loss and Damage“-Fonds nicht in die Irre führen zu lassen, gilt es allerdings sich das Gesamtfeld der historischen Verantwortung, der Klimaschulden und der Finanzierungsdimensionen des Kompensationsfonds eingehender anzuschauen.Denn, wie der renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber schon seinerzeit in der ZIB unterstrich: Bejubelt wird ein 200-Millionen-Dollar-Entschädigungsfonds, „dabei liegen die wahren Kosten 1.000-fach höher“.

Entsprechend fordert das Gros der sogenannten 148 Low- und Middle Income Countries (also der, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, Länder niedrigen und mittleren Einkommens) auch zurecht Gelder in Höhe von einer Billion resp. 1,3 Billionen jährlich. Dieser Forderung pflichten auch die Expert:innen der UNO bei, die den Finanzierungsbedarf bis 2030 auf rund 1.000 Mrd. US-Dollar pro Jahr beziffern. Bis 2035 sogar auf 1.300 Mrd. Dollar. Die als „Kompromissangebot“ der entwickelten kapitalistischen Staaten kolportierten Aufstockungen von 100 auf 250 Mrd. oder 300 Mrd. Dollar sind angesichts des real notwendigen Finanzierungsvolumens gleichviel nicht mehr als bloße unzureichende Peanuts. „Das wird dem Bedarf der einkommensschwachen Länder in keiner Weise gerecht“, so der Klimareferent von Oxfam Jan Kowalzig: „Dieser Entwurf ist inakzeptabel.“ 

Update: Das gilt gleichfalls für das nun verabschiedete Abschlussdokument. Die nominell ins Papier aufgenommenen 1,3 Billionen Dollar sind als reine Absichtserklärung ohne verbindliche Zahlungverpflichtungen schlicht das Papier nicht wert. Die direkten Finanzhilfen wurden mit bloßen 300 Mrd. Dollar verabschiedet und mit dazu noch auf „vorranigig“ von den entwickelten Industriestaaten zu leistend aufgeweicht und damit prospektiv neuausgerichtet. Zudem werden diese 300 Mrd. erst ab 2035 in vollem Umfang geleistet oder fließen und dies überwiegend in Form von Krediten – und damit die Schuldenlast der peripheren Länder weiter verschärfen und den Zinstribut eines gleichsam neuen Zehents ans internationale Finanz-Casino zementieren. Darüber hinaus wurden auch noch der Finanzmechanismus und die Berechnungsgrundlagen ausgeweitet. Und das tatsächlich nötige Finanzvolumen der eingeforderten 1,3 Billionen hängt wie gesagt in der Luft. In sechs Jahren, 2030, soll lediglich ein Zwischenresümee gezogen werden. Vor diesem Hintergrund versteht man auch den Aufschrei von Indien, über Afrika bis Kuba sowie der zahlreichen NGOs.

Umso unabdingbarer das gesamte Spannnetz an historischer Verantwortung, Klimaschulden und der Finanzdimensionen des Klimaschutz- und Kompensationsfonds nochmals genauer ins Auge zu fassen.

Das „halbhistorische“ Klimagerechtigkeits-Konzept der UN-Umweltkonferenzen

Gehen wir das Feld der Klimaschulden und -Kompensationen also nochmals systematisch Schritt für Schritt an und wählen als Schuhlöffel des Einstiegs zunächst einmal das übliche „halbhistorische“ Klimagerechtigkeits-Konzept. Die entwickelten kapitalistischen Länder sind bekanntlich nicht nur die historischen Hauptverursacher der Klimakrise, sondern haben die „atmosphärische Allmende“ (Gemeingut) auch seit dem ersten ausführlichen IPCC-Report 1990, seit welchem die katastrophale Klimakrise als weltweit unbestreitbar bekannt gilt (weshalb das Jahr 1990 für die verbleibenden CO2-Budgets auch als Bezugsjahr vereinbart wurde), unbeeindruckt als „ihre“ CO2-Müllkippe zum Schaden der anderen verwendet.

„CO2-Restbudgets“ und die Klimaschulden der Kernländer des Metropolenkapitalismus

Rechnet man das globale CO2-Restbudget, entsprechend dem Prinzip einer globalen Klimagerechtigkeit sowie des menschenrechtlichen Prinzips auf Gleichbehandlung jedes Erdenbürgers, entlang dieses „halbhistorischen“ Ansatzes länderbezogener CO2-Bilanzen ab 1990, haben etwa die USA ihr gesamtes CO2-Rest-Budget bereits 1999 komplett aufgebraucht (und überziehen, wie die andere Kernländer des Metropolenkapitalismus, dieses schon seit Jahren bzw. teils seit Jahrzehnten), während etwa Indiens CO2-Rest-Budget (Stand heute) erst in den 2080er-Jahren aufgebraucht sein wird.

Nochmals historisch wirklichkeitsnäher und drastischer

Ja, setzt man – realgeschichtlich näher – mit den nationalen Emissionsbudgets, wie vor kürzerem etwa Andrew Fanning und Jason Hickel in ihrer neueren Studie, geschichtlich früher ein, verschiebt sich die anteilige atmosphärische CO2-Vermüllung durch die einzelnen Länder nochmals drastisch weiter zuungunsten des entwickelten Globalen Nordens. Die beiden Wissenschaftler zeigen anhand der Emissionen sowie eingerechneter Bevölkerungsentwicklungen mit Basisjahr 1960, dass die Länder des Globalen Nordens ihren aliquoten Anteil entlang des Pariser 1,5-Grad-Ziels im Durchschnitt schon 1986 aufgebraucht haben und die seitherigen knapp vier Jahrzehnte bereits die CO2-Budgests des Rests der Welt nutzen. In diesem historisch wirklichkeitsnäheren Bild aber, hat (Stand 2023) Indien gerade einmal 15% seines ihm zustehenden CO2-Budgets aufgebraucht, selbst China steht mit Bezugsjahr 1960 erst bei 58% des dem Land zustehenden Emissions-Budgets. Ginge man geschichtlich noch weiter zurück, verschöben sich die Verhältnisse (sowie Klimaschulden!) nur noch einen abermaligen Riesenschritt weiter zu Ungunsten der entwickelten Industrieländer. Da der anthropogene Klimawandel indes erst seit 1990 als weltweit unbestreitbar bekannt gilt, hat man sich als allseits akzeptierte Nomenklatur denn auch auf (erst) dieses als Bezugsjahr geeinigt. Gleichviel vermag ein tieferer Blick in die Geschichte zumindest den überbordenden propagandistischen Zeigefinger auf die großen Entwicklungsländer schlagartig zu relativieren und deren realen Anteil am Klimawandel richtig einzuordnen.

Des Westens reale Billionen-Schulden

Da mögen politischen Figuren der G7 oder Brüssels und Konsorten (und das auch noch angesichts des seitens der EU weitgehend wieder verräumten „New Green Deals“ und bevorstehenden Neu-Ausstiegs der USA aus dem Pariser Klimaabkommen) noch so lachhaft-selbstgerechte Töne anschlagen, sie verfehlen nicht nur mit Karacho ihre selbstgesteckten klimapolitischen Ziele, sondern stehen selbst im Rahmen eines „halbhistorischen“ Klimagerechtigkeits-Konzepts vielmehr in einer immensen, unabgegoltenen internationalen CO2-Ausgleichsschuld. Und zwar, je nach konkretem Bezifferungsmodell pro Tonne CO2-Überziehung variierend, hätten alleine die USA etwa nach Josef Stiglitz und anderen bereits zur COP27 eine akkumulierte Klimaschuld zwischen 7 bis 11,2 Billionen Dollar und eine jährlich zu leistende Ausgleichsrate von rund 270 bis 450 Milliarden Dollar. Deutschlands akkumulierte Klimaschuld, dessen länderbezogenes CO2-Budget immerhin ebenfalls seit 2005 vollständig aufgebraucht ist, beliefe sich in entsprechend veranschlagten Werten auf rund 790 Milliarden bis 1,3 Billionen Dollar. Zöge man das für 1 Tonne CO2-Überziehung nochmals viel höher angesetzte Modell des deutschen Umweltbundesamts heran, wiese Berlin eine akkumulierte Klimaschuld von knapp 2,3 Billionen Dollar und eine jährlich zu leistende Ausgleichsrate von rund 125 Milliarden Dollar auf.

Oder in historisch leicht erweiterter Periode des IWF: 140 Billionen Dollar Schulden

Ja, der Internationale Währungsfonds (IWF) etwa, wahrlich keine Institution der peripheren Länder und des Globalen Südens, veranschlagt diese Klimaschulden des Westens für die Periode von 1960 (also gleichfalls drei Jahrzehnte über den üblichen halbhistorischen Ansatz zurück- und ein Jahrzehnt vorausrechnend) bis 2035 mit 140 Billionen Dollar – sprich: 140.000 Milliarden Greenbacks. Mit Sonntagsreden, punktuellen Katastrophenhilfen und freiwilligen Selbstverpflichtungen sowie den jetzt avisierten 150 Mrd. Dollar kann es denn auch beiweilen nicht sein Bewenden haben. Zumal selbst gegenwärtig die ärmsten 50% der Weltbevölkerung lediglich knapp über 10% der weltweiten Emissionen verursachen.

Das Wahre ist das Ganze (Hegel)

Bezieht man also die höchst ungleiche Verantwortung für den Klimawandel sowie zudem die regional unterschiedlichen sozial-ökologischen Betroffenheiten und Konsequenzen an Verlusten, Verheerungen und Schäden mit hinzu – die nötigen Mittel des Umbaus auch der peripheren Länder noch gar nicht mitveranschlagt –, wird die zu verantwortende ökologische Schuld des westlichen Metropolenkapitalismus zumindest in ersten Ansätzen in ihrer ganzen Dimension deutlich. Ein entfaltetes politisches Konzept der Klimaschulden beinhaltet neben den Verpflichtungen zur rigorosen Emissionsreduktion der hochindustrialisierten Länder und eines Ausgleichs der Anpassungsmaßnahmen in den armen Ländern, denn auch eine Deckung der von den Klimakillern verursachten und hervorgerufenen „Verluste und Schäden“ und transparent nachvollziehbare „Reparationszahlungen“. Und diesbezüglich geht es um ganz andere Dimensionen als die gemeinhin diskutierten Brosamen des „kollektiven Westens“ oder „Nordens“.

Der „Loss and Damage“-Fonds: Freiwillige ‚Brosamen für die Welt‘ unter dem Dach der Weltbank

Vor diesem Hintergrund werden auch der groteske Peanuts-Charakter der bisherigen Dotationen für den neuen „Loss and Damage“-Fonds in seinen überschaubaren Summen augenscheinlich. Diese ‚Brosamen für die Welt‘ für den beiher seit 1991 (sprich seit über 30 Jahren) von einer Allianz kleiner Inselstaaten vehement eingeforderten Fonds auch nur den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein zu nennen, wäre entgegen der dominierenden medialen Berichterstattung wohl schon eine maßlose Übertreibung. Zwar mag mit dessen zwischenzeitlicher Errichtung die ewige Blockade der entwickelten kapitalistischen Länder formal gebrochen sein, aber ohne halbwegs gerechten Mechanismus und ausreichende Finanzmittel (und die stehen in den Sternen) ist und bleibt er ein bloßer Papiertiger. Zumal die COP keinerlei konkrete Zielsummen für den nur schwach gefüllten Fonds veranschlagt,  die Verluste und Schäden des Globalen Südens Hunderte Milliarden Dollar im Jahr betragen (werden) und der bestehenden Finanzarchitektur des Fonds ebenso jede Verbindlichkeit fehlt wie er vorerst von der Weltbank (und damit unter Federführung der USA und imperialistischen Kernländer) verwaltet wird, anstatt unter dem Dach der UNO zu stehen.

Der weitere Finanzierungsbedarf eines globalen klimapolitischen Umbaus und einer weltweiten Dekarbonisierung

Um allerdings ebenso den erforderlichen klimapolitischen Umbau der Industrie und Landwirtschaft in den peripheren Ländern zu bewerkstelligen, geht es zu alledem wie gesagt nochmals um ganz andere Dimensionen als bspw. im bereits länger ins Leben gerufenen und zumeist im Fokus stehenden, notorisch säumigen 100-Milliarden-Dollar Klimaschutzfonds von Cancún (der COP16 2010) veranschlagt, der in Form eines Fahrplans erstmalig bereits auf der COP13 in Bali 2007 beschlossen wurde. Aber selbst diese angesichts der global notwendigen Finanzdimension geradezu lächerlichen 100 Milliarden Dollar des „Green Climate Fund“ zur Klimaanpassung (vom Wiederaufbau nach umwelt- bzw. klimabedingten Verheerungen gar nicht zu reden), die die Industrieländer und reichen Verursacherstaaten seinerzeit ab dem künftigen Jahrzehnt dem Globalen Süden versprachen bzw. zusagten und seit 2020 jährlich einzahlen sollten, kamen bisher noch nie bzw. nur unter Finanztricksereien zustande. Das bedeutet, dass dessen spärliche Dotierung sich bislang zudem nicht zuletzt aus einer Reihe trickreicher Umwidmungen alter Entwicklungshilfegelder, privater Investitionen und entsprechend etikettierter Kredite speist. Und das steht nicht minder auch für sämtliche Erhöhungen von Baku zu befürchten. Zur erforderlichen Transformation der Industrie, Landwirtschaft, Infrastruktur und Energiewende wiederum sind, wir wiederholen es, ohnedies ganz andere Dimensionen erforderlich. Laut Studien der UNCTAD (UN-Welthandels- und Entwicklungskonferenz) sogar alleine bis 2030 entsprechende jährliche Investitionen in einer Größenordnung von 2 bis 2,7 Billionen Dollar – die freilich nur in internationaler Kooperation, Technologietransfers, Mittelaufbringung und Schuldenerlässen etc. gestemmt werden können.

Öko-soziale Finanzierung unter linker Perspektive

Eine solch unumgängliche Kehrtwende reiht sich wiederum nahtlos in die Forderung unter linker Perspektive ein, die Finanzierung des ökologischen Umbaus und der Dekarbonisierung sowie die Ausstattung der Fonds (bzw. eines im Grunde nötigen noch wesentlich größeren globalen Klimafonds unter demokratisch ausgestalteter Kontrolle bzw. unter UN-Dach) aus progressiven Millionärs- und Milliardärs-Steuern auf extremen Reichtum, Vermögen, Konzern- und Finanzprofite sowie Managementeinkommen zu speisen. Und beispielsweise gängige Berechnungen progressiver Steuern auf extremen Reichtum, beginnend mit zwei Prozent, würden mit jährlich globalen 2,5 bis 3,6 Billionen Dollar allein ihrerseits schon die veranschlagten Größenordnungen der UNCTAD decken und überflügeln. Die UNCTAD beziffert die nötigen Beträge umgelegt auf die Weltwirtschaftsleistung übrigens mit jährlich etwa 1 bis 2 Prozent des weltweiten BIP, was im BIP-starken „Kollektiven Westen“ schon allein äquivalent zu seinen Rüstungsausgaben „finanziert“ wäre. Bei radikaler Abrüstung indes ließe sich ohne viel Federlesen sogar leicht das Doppelte der von der UNCTA bezifferten Beträge aufbringen. Anstatt dessen reißen der Kapitalismus und sein politisches Personal die Welt indessen lieber an allen Fronten in den Abgrund.

 

Foto: Dean Calma / IAEACC BY 2.0

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