Gewerkschaftsarbeit von unten

Von Mai 2023 bis Juni 2024 kämpften die Freizeitpädagog:innen von Bildung im Mittelpunkt (BiM) in Wien gegen die Verschlechterungen einer geplanten Gesetzesnovelle – schlussendlich mit Erfolg: Das Bildungsministerium sagt die Gesetzesnovelle aufgrund von Streikdrohungen ab. Meine Masterarbeit untersucht den Arbeitskampf der Freizeitpädagog:innen als Musterbeispiel dafür, wie mithilfe von Organizing-Methoden Gewerkschaftsarbeit von unten in Österreich gelingen kann.

Ein Beitrag von Fabian Hattendorf, der auf awblog.at erschienen ist. Fabian ist gewerkschaftlicher Organizer und hat für ver.di die Arbeitskämpfe in mehreren deutschen Krankenhäusern begleitet.

Als im Mai 2023 ein Gesetzesentwurf aus dem Bildungsministerium geleakt wird, der den Beruf der Freizeitpädagogik zur „Assistenzpädagogik“ degradieren soll, schlägt der Betriebsrat von Bildung im Mittelpunkt Alarm. 5.000 Freizeitpädagog:innen arbeiten in ganz Österreich, die Hälfte davon bei der BiM an 150 Wiener Volksschulen. Die Gesetzesnovelle sieht die Eingliederung in den öffentlichen Dienst vor – allerdings bei massiven Verschärfungen der Arbeitsbedingungen. Lohnkürzungen von bis zu 19 Prozent, Personalabbau, Halbierung der Ausbildungszeit bei gleichzeitiger Verschärfung der Aufnahmebedingungen und unklare Übernahmeregelungen drohen. Sofort nimmt der Betriebsrat der BiM mit der GPA, der AK und anderen Betrieben Kontakt auf und lädt zu einer Betriebsversammlung am 24. Mai ein, zu der über 1.000 Freizeitpädagog:innen kommen. Sie beschließen dort die Formierung eines Streikkomitees, das sich über das nächste Jahr zum Maschinenraum des Arbeitskampfes entwickelt.

Diesen Schritt hin zur Öffnung der betrieblichen Beteiligungsstrukturen wählt der Betriebsrat der BiM nicht zufällig – er beruft sich dabei im weiteren Verlauf immer wieder explizit auf sogenannte Organizing-Ansätze.

Organizing: Gewerkschaftsarbeit von unten

Organizing bezeichnet eine gewerkschaftliche Strategie und Logik, die auf Beteiligung und Konfliktfähigkeit setzt. In den letzten 30 Jahren war Organizing vor allem eine Antwort auf den Verlust gewerkschaftlicher Machtressourcen. Organizing-Ansätze wurden von den US-amerikanischen Gewerkschaften in den 1990er Jahren entwickelt, seit gut 20 Jahren wenden sie einige deutsche DGB-Gewerkschaften, allen voran ver.di, angesichts der Krise der deutschen Sozialpartnerschaft an. Der deutsche Soziologe Klaus Dörre prägte mit seinem Jenaer Forschungskreis den Machtressourcenansatz, der zwischen vier Formen gewerkschaftlicher Machtressourcen unterscheidet. Jede Gewerkschaft beruht auf struktureller Macht basierend auf der Position der lohnabhängig Beschäftigten im (Re)produktionsprozess und der Möglichkeit, diesen durch Arbeitskampfmaßnahmen zu stören. Um strukturelle Macht effektiv zu nutzen, braucht es Organisationsmacht, die sich in der zahlenmäßigen Stärke und Mobilisierungskraft des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses misst. Sie wird durch institutionelle Machtressourcen ergänzt, die die Erfolge von Kämpfen und Aushandlungsprozessen auf der Basis der beiden Primärmachtformen in Institutionen und geltendes Recht gießen. Dazu gehören in Österreich die Errungenschaften der Sozialpartnerschaft wie Kollektivverträge, betriebliche Mitbestimmung, wie sie im Arbeitsverfassungsgesetz von 1974 geregelt ist, und Mitgestaltungsrechte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Schließlich haben Gewerkschaften gesellschaftliche Macht, die durch Bündnisse mit anderen Gruppen und Öffentlichkeitsarbeit im weitesten Sinne entsteht und das Ziel verfolgt, das politische Projekt von Gewerkschaften hegemoniefähig zu machen.

Gewerkschaftliche Machtressourcen unter der Lupe

Der Machtressourcenansatz ist ein hilfreiches Gerüst, um die Stärke von Gewerkschaften zu analysieren. In Österreich überwog in den letzten Jahrzehnten der Fokus auf institutionelle Machtressourcen der Sozialpartnerschaft als Form der wirtschafts- und sozialpolitischen Koordinierung und Steuerung. Die Krise der Sozialpartnerschaft als politischer Gestaltungsfaktor trat spätestens unter den schwarz-blauen Regierungen der 2000er und 2010er Jahre offen zutage, während der Wandel der ökonomischen Rahmenbedingungen – geringes Wirtschaftswachstum, Globalisierung, Deindustrialisierung und Flexibilisierung – die materielle Basis der Sozialpartnerschaft erodieren lässt. Gleichzeitig sank die Organisationsmacht, am deutlichsten ablesbar am Rückgang des Organisationsgrades von 62,8 Prozent (1970) auf 26,9 Prozent (2016). Es kann also nur von einer äußerst fragilen „geliehenen institutionellen Stabilität“ die Rede sein. Allgemeiner spricht Hassel (2007) vom „Fluch institutioneller Sicherheit“, da Institutionen zwar gewerkschaftliche Errungenschaften über die Dauer vergangener Arbeitskämpfe erhalten, das aber zum Preis einer trügerischen Sicherheit, die mit einem Verlust von Konfliktfähigkeit und Organisationsmacht einhergeht. Diese wiederum sind unabdingbar, um bestehende Institutionen gegenüber Staat und Arbeitgeberseite immer wieder zu erneuern. Vor diesem Hintergrund scheint ein strategischer Richtungswechsel der ÖGB-Gewerkschaften vom dominierenden Fokus auf institutionelle Macht hin zum Aufbau von Organisationsmacht das Gebot der Stunde – und Organizing als ein konkreter Weg, wie das gelingen kann.

Streikkomitee und Teamdelegierte

Was also ist Organizing? Zunächst grenzt sich Organizing klar von einfachen Formen der Mitgliederrekrutierung ab. Stattdessen zielt es auf den Aufbau starker betrieblicher Beteiligungsstrukturen hin, die in der Lage sind, durch Beteiligung und Konfliktfähigkeit den vollen Umfang des sonst oft schlummernden Potenzials einer Belegschaft in Auseinandersetzungen ins Feld zu führen.

Wie das konkret aussieht, zeigt wiederum das Beispiel der BiM, das, nebenbei angemerkt, selbst für viele Gewerkschaftsinteressierte unter dem Radar geblieben ist. Auf die Gründung des Streikkomitees im Mai 2023, in dem sich schnell eine Gruppe von 20 bis 25 Aktiven herausbildete, folgten in Windeseile eine Petition, Besuche beim Bildungsminister und eine große Streik- und Aktionswoche im Juni 2024, bei der am großen Aktionstag Bildung mehrere tausend Menschen auf die Straße gingen. Durch den Druck konnten die Freizeitpädagog:innen noch vor den Sommerferien den ersten Teilerfolg erzielen: Die Reformpläne wurden auf nach der Sommerpause verschoben und die GPA vom Bildungsministerium erstmalig zu Verhandlungen eingeladen. Um Druck auf die nun unregelmäßig stattfindenden Verhandlungsrunden auszuüben, baute das Streikkomitee der BiM die betrieblichen Strukturen weiter aus. Im September nominierten die Teams in über 100 der 150 Wiener Volksschulen sogenannte Teamdelegierte, die als Bindeglieder zwischen dem Streikkomitee und den Beschäftigten fungierten. Sie stellten einen weiteren wichtigen Schritt weg von einer Stellvertreterlogik des Betriebsrats oder des gewerkschaftlichen Hauptamts hin zu einer aktiven Gewerkschaftsbasis dar. Deren Kampfbereitschaft stellte sich über den 13 Monate dauernden Konflikt hinweg als entscheidend heraus – bis das Bildungsministerium die Reformpläne „aufgrund des Umstandes, dass angesichts der geäußerten Kritik an der geplanten Reform weitere Gespräche zur Thematik erforderlich sind“, im Juni 2024 final absagte.

Forschungsergebnisse: Wie kann Organizing gelingen?

Anhand des Fallbeispiels der Freizeitpädagog:innen der BiM geht meine Masterarbeit der Frage nach, wie eine Organizing-Strategie zur Erneuerung der österreichischen Gewerkschaft im Kontext der existierenden Sozialpartnerschaft beitragen kann. Durch eine Literaturrecherche stellte ich sechs Hypothesen auf, die ich im Feld mithilfe von Expert:inneninterviews, einer Fokusgruppe und teilnehmender Beobachtung testete. So entwickle ich sechs Kriterien für erfolgreiches Organizing in Österreich:

1. Ein fehlendes Krisenbewusstsein verhindert die Entwicklung einer wirklichen Organizing-Strategie. Der Blick für den Schwund institutioneller Machtressourcen ist notwendiger Ausgangspunkt für den strategischen Kurswechsel hin zu Organizing.

2. Organizing braucht Commitment. Das beinhaltet die Erkenntnis, dass Organizing und die Sozialpartnerschaft in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen können. Das drückt sich insbesondere in Fragen der Interessenartikulation (Wer entscheidet, die Teamdelegierten oder Betriebsrät:innen?) und in Fragen der Konfliktbearbeitung (Wann darf zum Beispiel während laufender Verhandlungen durch öffentliche Aktionen Druck gemacht werden?) aus. Halbherzigen Organizing-Versuchen sind innerhalb der Sozialpartnerschaft klare Grenzen gesetzt.

3. Erfolgreiches Organizing benötigt ein gutes Zusammenspiel zwischen Gewerkschaftsführung und Basis. Bemerkenswert ist im Fall der BiM, dass die Initiative für das Organizing und die vielen Protestaktionen fast komplett vom Betriebsrat ausgingen – die GPA trat als Unterstützerin in Erscheinung. Gleichzeitig verzichtet Organizing ohne die Gewerkschaftsführung auf wertvolle Ressourcen und hat geringere Chancen, die Arbeit des hauptamtlichen Gewerkschaftsapparates nachhaltig zu beeinflussen.

4. Die Beteiligung der Basis stellt ein zentrales Element dar, benötigt aber eine gewisse Struktur, um Strategie und Demokratie produktiv zu vereinen. So hat der Betriebsrat im Fall der BiM bis zuletzt eine wichtige Rolle insbesondere bei der Strategieentwicklung gespielt. Das war genauso notwendig wie die weitestmögliche Beteiligung aller Beschäftigten.

5. Erfolgreiches Organizing benötigt strategische Handlungsfähigkeit der Führung. Auch hier waren die Erfahrung und politische Überzeugung des Betriebsrats von entscheidender Bedeutung.

6. Organizing profitiert von vorherigen betrieblichen Strukturen und Erfahrungen mit Organizing. Das gilt auch mit Blick auf die BiM. In den Worten einer Gewerkschaftssekretärin der GPA: „Die machen es so und dann stehen 2.000 Leute auf der Straße. Das ist ein jahrelanger Aufbau von Beteiligung und Information der Beschäftigten.“ Die Beteiligung der Basis seitens des Betriebsrats war jahrelang Tradition. So war es möglich, auf ehemalige Aktive und frühere Erfahrungen schnell zurückzugreifen.

Organizing als Antwort auf die multiplen Krisen der Gegenwart

Die Chronik der Protestbewegung der Freizeitpädagog:innen liest sich wie ein Handbuch für offensive – und erfolgreiche – Gewerkschaftsarbeit von unten. Um den multiplen Krisen der Gegenwart, vom Aufstieg der europäischen Rechten bis zur Eskalation der sozialen und ökologischen Krise, zu begegnen, braucht es starke und selbstbewusste Gewerkschaften. Angesichts der Krise der österreichischen Sozialpartnerschaft stehen die Gewerkschaften deshalb vor der Herausforderung, ihre Organisationsmacht zu stärken. Dafür stellt Organizing wie im Fall der Freizeitpädagog:innen der BiM einen wichtigen Schritt dar.

Die Masterarbeit „Organizing in der österreichischen Sozialpartnerschaft: Eine Fallstudie der Freizeitpädagog:innen von Bildung im Mittelpunkt“ von Fabian Hattendorf wurde vom Netzwerk Wissenschaft der Arbeiterkammer Wien gefördert.

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