Gestern platzte die Bombe: der Essenslieferdienst Lieferando kündigt österreichweit alle angestellten Radbot:innen. In Zukunft sollen ausschließlich „freie Dienstnehmer:innen“ bei Wind und Wetter für die Profite der Konzernzentrale fahren. Betroffen sind fast 1.000 Kolleg:innen.
1.730 Euro brutto im Monat für 40 Stunden: das war für die Lieferando-Chefs dann wohl zu viel. Zum Vergleich: der hinter Lieferando stehende Konzern Just Eat Takeaway setzte in insgesamt 17 Ländern vergangenes Jahr 26,3 Milliarden Euro um, der Gewinn betrug 460 Millionen Euro (EBITDA).
Seit 2023 gilt dieser Niedriglohn für Radbot:innen in Österreich. Die Verhandlungen eines neuen Kollektivvertrags fanden noch immer keinen Abschluss, vergangenes Jahr wurde mehrmals gestreikt – inklusive Repressionen bei Lieferando. Die hartnäckige Weigerung der Arbeitgeber einer tatsächlich spürbaren Lohnerhöhung zuzustimmen, ist wohl auch ein Grund für das nun zugespitzte Vorgehen. In Zukunft will Lieferando ausschließlich die Prekärsten der Prekären für sich schuften lassen, nämlich: „freie Dienstnehmer:innen“.
„Freie Dienstnehmer:innen“? Scheinselbstständige!
Lieferando macht es also der Konkurrenz von Foodora, Wolt und Co. nach. Dort liefern nämlich nur scheinselbstständige „freie Dienstnehmer:innen“ Pizza, Burger und Nudeln aus. Das heißt: Arbeit ohne Absicherung, ohne Urlaub, ohne Krankenstand. Bis auf Rucksack, Jacke und Helm stellt die Firma keine Arbeitsmittel zur Verfügung. Du fährst den halben Tag bei Minusgraden durch den Schnee und wirst dabei krank? Pech gehabt! Dein Handy spinnt, dir werden keine Aufträge übermittelt und damit gibt’s auch kein Geld? Tja, dein Problem!
In der schönen neuen Arbeitswelt sind Kolleg:innen mit zahlreichen Problemen konfrontiert: unsichere Einkommensperspektiven und mangelhafte bis kaum vorhandene Absicherung. Dabei tradieren die Arbeitgeber die Lüge, dass es sich bei den Beschäftigten um „freie Dienstnehmer:innen“ handelt, was die Verlagerung des unternehmerischen Risikos auf die Beschäftigten bedeutet. „Freie Dienstnehmer:innen“ erhalten keinen Stundenlohn im eigentlichen Sinne, sondern werden anhand der erbrachten Arbeitsleistung (z.B. ausgelieferte Bestellungen) bezahlt. Das führt zusätzlich zu einer breiten Entgrenzung von Arbeitszeiten. Den Beschäftigten wird abgesprochen, überhaupt bei der Plattform[1] beschäftigt zu sein – sind sie doch „freie Dienstnehmer:innen“.
Das Ende des Kollektivvertrags?
Der erst vor wenigen Jahren erkämpfte Kollektivvertrag (2019 in der Branche gar der erste weltweit) steht damit wohl vor dem Aus: denn Lieferando beschäftigt aktuell rund 50% aller Kolleg:innen, die in dem KV arbeiten. Mit diesem Vorgehen reiht sich Lieferando in die Offensive des heimischen Kapitals ein, die ohnehin schon mit mauen sozialpartnerschaftlichen Arrangements durchzogenen KV-Landschaft endgültig sturmreif zu schießen
Perspektiven zwischen Fürbitten und Klassenkampf
Dass der arbeitsrechtlichen Wild-West-Situation in der digitalen Plattformarbeit endlich gesetzlich ein Riegel vorgeschoben werden muss, ist eine langjährige – richtige – gewerkschaftliche Forderung. Die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit kann Verbesserungen bringen, wenn sie es aus dem Bürokratiedschungel tatsächlich in die Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten schafft. Die neue Bundesregierung nimmt sich ausgehend von der EU-Richtlinie in ihrem Programm vor, gegen die Scheinselbstständigkeit vorzugehen.
Doch das hilft den knapp 1.000 gekündigten Kolleg:innen aktuell herzlich wenig. Selbst die zuständige Gewerkschaft vida begnügte sich gestern in einer ersten Meldung ausschließlich(!) damit, die ÖVP dafür zu kritisieren, dass es bisher keine bessere Gesetzeslage gibt. Kein Wort von Kampfmaßnahmen, kein Wort von gewerkschaftlichem Widerstand gegen das Vorgehen von Lieferando.
Dabei wäre genau das das Gebot der Stunde: nur durch gemeinsamen (Arbeits-)Kampf kann der Angriff von Lieferando zurückgedrängt werden. Die Kampfansage des Unternehmens muss entschieden beantwortet werden!
[1] Bei digitaler Plattformarbeit stellen die dort Beschäftigten ihre Arbeitskraft über eine Plattform zur Verfügung, das tradierte Verhältnis zwischen ArbeitergeberIn und ArbeitnehmerIn tritt hinter Algorithmen und Automatisierung zurück. Oftmals gibt es gar keine Vorgesetzten im klassischen Sinn: Arbeitsanweisungen, Leistungskontrolle und Sanktionen werden im Computer berechnet – die digitale Plattform übermittelt Aufträge.